Iwanow - Martin Kušej nimmt sich viel Zeit für Tschechows Frühwerk am Münchner Residenztheater
Kein Fluchtweg aus dem Salon der Selbstgerechten
von Petra Hallmayer
München, 4. Juni 2016. "Wer bin ich? Was will das besagen: Die Welt? (...) Wer hat mich in das Ganze hineingenarrt und lässt mich nun da stehen?", fragt eine Stimme aus dem Off, während Iwanow taumelnd umherirrt, ehe er eine Pistole ergreift und verschwindet. Kurz danach sehen wir ihn allein im Dämmerlicht sitzen und halblaut die nämlichen Sätze Søren Kierkegaards lesen. Mit einem düsteren Vorspiel eröffnet Martin Kušej seine Inszenierung von Tschechows frühem Drama "Iwanow" um einen gescheiterten Intellektuellen, der seine Ideale verfehlt hat und in bleigrauer Schwermut gestrandet ist.
Schwindsucht, Schulden, Ehekrise
Eigentlich müsste sich Iwanow um so vieles kümmern. Seine jüdische Frau Anna, die für ihn zum Christentum konvertiert ist und von ihren Eltern verstoßen wurde, leidet an Schwindsucht, die Schulden türmen sich bedrohlich. Erwachsensein heißt sich herumschlagen mit Trivialitäten, Verpflichtungen, dem Despotismus der Fakten.
Iwanow aber kann sich nicht aussöhnen mit der Mittelmäßigkeit seines Lebens. Er flieht vor der kranken Anna, die den liebt, der er einmal gewesen ist, in den Salon der Lebedjews, deren Tochter Sascha in die Vorstellung verliebt ist, ihn zu retten und als heroische Krankenschwester seine Wunden zu heilen. Kurz einmal lässt er sich betören von dem Versprechen, das sie verkörpert. Einen Augenblick lang glaubt er, dass es möglich wäre, noch einmal neu anzufangen, wieder zu lieben, zu hoffen, zu leben. Doch gleich darauf versinkt er erneut in finsterer Resignation.
Dreifingerdick liegt der Staub in seiner Wohnung. Annette Murschetz hat im Residenztheater auf einer Drehbühne zwei identische bis auf unzählige Stühle leere Räume eingerichtet: Schmutzgrau sind die Wände in Iwanows Haus, weiß im Salon der Lebdejews, in dem sich eine im Stillstand um sich selbst rotierende, von Geldgier, Klatsch und Stumpfsinn regierte Gesellschaft versammelt.
Schweigend starren die Gäste auf die Karten in ihren Händen als seien diese Smartphones. Kušej macht die auf ihnen lastende Langeweile quälend spürbar. Er dehnt das Schweigen aus, bis ein ungeduldiger Zuschauer "Weiter!" ruft. Nur wenn sie betrunken ihre Lächerlichkeit entblößen oder bitterböse lästern, erwachen die Provinzler aus ihrer Lethargie.
Drama der Desillusionierung
Alle glauben sie, Iwanow zu durchschauen. Sie halten ihn für einen skrupellosen Mitgiftjäger, der Anna durch eine reiche Erbin ersetzen will, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand nicht dem gleichen Zweck- und Vorteilsdenken verhaftet ist wie sie selbst, Beziehungen nicht als ein Geschäft betrachtet. Bloß Annas Arzt Lwow (Till Firit) klagt Iwanow in aufrichtiger Empörung an. Dabei jedoch wird er in seiner moralischen Selbstgerechtigkeit blind gegenüber anderen.
"Iwanow" ist ein unerbittliches Drama der Desillusionierung. Im Gegensatz zu Tschechows späteren Stücken sprechen die Figuren darin noch aus, was in ihnen vorgeht, und Kušej räumt ihnen dafür reichlich Zeit ein. Ein paar Kürzungen hätten der Inszenierung gut getan, die zwischen emotional dichten, fein nuancierten, kräftig karikierenden und langatmig zelebrierten Textpassagen ohne klare Regiegewichtung changiert.
Thomas Loibl als Iwanow führt sensibel und überzeugend einen im Käfig der Depression Gefangenen vor, der im Hamsterrad aus monotonen Selbstbezichtigungen und Beschwörungen seines inneren Elends kreist. Oliver Nägele als Lebedjew gibt mit Spielwitz einen gutmütigen Pragmatiker, erntet als devoter Diener seiner strengen Frau (Juliane Köhler) einige Pantoffelheldenlacher und verschafft dem Opportunisten fast zu viel Sympathie. Der Rest des Ensembles darf kaum einmal für echte schauspielerische Glanzlichter sorgen, dafür bleibt Kušejs Figurenzeichnung zu vordergründig. Genija Rykova zeigt ein reizendes vitales Mädchen. Sophie von Kessel rückt im malerisch wallenden Gewand ihre Anna mitunter nahe an eine Schmerzensmadonna, gewinnt erst, als sie sich zornig aufrichtet, an Stärke.
Nach der Pause kippelt die Aufführung unentschlossen zwischen schwankhafter Komik und Tragik hin und her. Im Finale jedoch, wenn Iwanow nach Annas Tod in eine neue Ehe zu schlittern droht, gelingt noch einmal eine gut ausbalancierte Mischung aus beidem. Da erscheint Iwanow für einen Moment als der Hellsichtigste in einer in Schablonen verharrenden Gesellschaft von Narren. Entschlossen wendet er sich von ihr ab und erschießt sich.
Ein wirklich großer Literaturtheaterabend aber glückt Kušej trotz manch eindringlicher Szene nicht. Letztlich hätte man sich diese Tschechow-Inszenierung doch etwas schärfer akzentuiert, bissiger und schmerzlicher gewünscht.
Iwanow
von Anton Tschechow
Regie: Martin Kušej, Bühne: Annette Murschetz, Kostüme: Heide Kastler, Musik: Bert Wrede, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: René Dumont, Till Firit, Pauline Fusban, Marcel Heuperman, Alfred Kleinheinz, Juliane Köhler, Max Koch, Thomas Loibl, Sophie von Kessel, Oliver Nägele, Paul Wolff-Plottegg, Genija Rykova, Hanna Scheibe, Arnulf Schumacher, Jeff Wilbusch, Ulrike Willenbacher.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.residenztheater.de
Ronald Pohl jubelt im Standard (5.6.2016), Martin Kušej drehe die ohnehin kleinen Lebenslichter der Tschechow-Menschen noch einmal auf niedrigere Betriebsstärke herunter. Die "meisterliche Inszenierung" habe einen unwiderstehlichen Sog.
Rosemarie Bölts vom Deutschlandfunk (5.6.2016) "Leere, Erschöpfung, Lebensüberdruss, das artet bei Kusejs Inszenierung in marthalerischer Langatmigkeit aus." Am Ende wisse man nicht, was der Regisseur mit seinem großartigen Ensemble der Schauspielkunst eigentlich sagen will. "Körperausdruck, Bühnenbild, Licht, alles wichtig, und hier alles gut. Sprache aber birgt Spannung und transportiert sie. Sonst fehlt der Tiefgang. Schwäche kann grausam sein."
"Kušej inszeniert halbherzig von allem ein bisschen was, als probierte er (noch) verschiedene Spielstile aus, durchaus auch mal Richtung Edelboulevard gehend, nur in die Tiefe – dorthin, wo es wehtut – geht er nicht", klagt Christine Dössel in der SZ (6.6.2016). Die Figurenzeichnung sei flach, der Abend finde zu keiner Tonart. "Kušej begeht an diesem Abend den Fehler, Langeweile vorzuführen, indem er selber langweilt."
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Wir brauchten viel Geduld, gute Ohren (viel zu leise gesprochen) und Sitzfleisch für diese Premiere.
Kusej inszeniert hier zu bodenständig, altbacken und arbeitet keine neuen Erkenntnisse heraus, sondern rettet sich in große Schauspielkunst.
Ein zweitesmal muss ich Iwanow nicht mehr sehen
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1016465.leben-ein-kartenspiel-ich-passe.html
Soll Theater Spiegel sein, der scherbt? Oder Stein, der fliegt? »Nur« Zustände erfassen oder kämpferisch Zuständigkeit anstacheln? Die Verhältnisse zum Tanzen bringen? Kühne Idee am Ort, wo wir leben: auf dem kippelnden Felsbrocken, der mühsam Balance hält. Zukunft ist, was von ihr übrig blieb und warenglänzend in den Regalen unserer Kaufländer lagert - wir sind heute schon das Museum unserer künftigen Möglichkeiten. Und wie es sich für Museen gehört: Bitte nicht berühren!, steht auf dem Schild vor unseren Seelen, die sich vor Verletzbarkeit schützen müssen. Was hilft der Welt mehr? Radikale Veränderungsphantasien oder die Angst davor? Wer weiß. So jedenfalls kam es, dass der Staub, den wir gern aufwirbeln, weniger Wahrheit erzählt als jener Staub, der sich senkt. Kušejs starker Theaterabend setzt sich hin und sucht seine eigenen Räume mit langen Blicken nach Stillständen ab. Und ein Mensch griff zur Waffe, weil er endlich begriff: Am komischsten, am traurigsten, am unerträglichsten sind jene, die täglich ihr Leben ändern wollen.
ihre scheinbaren profunden theater-kenntnisse in allen ehren (und ich bin auch kein k-fan!): aber wie um der lieben theater-götter willen kommen sie denn auf dieses schmale brett in sachen "nie in münchen gezeigt"? wo waren sie denn zum beispiel bei "die bitteren tränen der petra von kant"?
so entlarven sie sich leider nur als pseude-kenner. schade.