Sizilien liegt in Hattingen

von Christian Rakow

Essen, 20. April 2008. Im Foyer warten sportliche Sweatshirt-Jungs mit poppig gegelten Irokesen-Haarschnitten, wie man sie ansonsten eher im Starbucks um die Ecke antrifft. Eine italienische Familie trommelt ihren Nachwuchs zusammen, der sich im Gedränge zu verirren droht. Die Stimmung ist gelöst. Mit einem Wort: Die Nebenspielstätte "Casa" des Essener Schauspiels legt eine neue Folge ihrer stark beachteten Stadterkundungsprojekte auf – und wiederum sind viele Theaterneulinge gekommen.

Seit Beginn der Intendanz von Anselm Weber im Jahr 2005 sind diese Recherchestücke mit Menschen aus dem Ruhrgebiet ein Markenzeichen des Essener Hauses. Im Stil der Ready-Made-Ästhetik, wie sie etwa Rimini Protokoll in Vollendung vorführt, werden hier Lebensgeschichten aus dem Pott – von Leuten für Leute – vorgetragen. Unter dem Spielzeitmotto "Schwärme" geht man derzeit den neueren Migrationsbewegungen nach. Vor Monatsfrist in Flüchtlinge im Ruhestand ging es um die Suche nach politischem Asyl. Das neue Stück "Bello e Brutto" (Schön und Hässlich) von Katja Fillmann widmet sich den italienischen Gastarbeitern, die seit dem ersten bilateralen Anwerbeabkommen von 1955 zur zweitgrößten Einwanderergruppe im Nachkriegsdeutschland wurden.

Italienisches Familientreffen im Pott

"Bello e Brutto" liegt eine schöne Geschichte zugrunde: Offenkundig gibt es auf Sizilien eine größere Gemeinde, Palma di Montechiaro, aus der seit Generationen Sizilianer Richtung Ruhrgebiet auswandern, um dort in Dortmund, Hattingen oder Mülheim nicht nur Arbeit, sondern auch einen guten Teil ihrer italienischen Bekannten oder Verwandten wiederzufinden. Leider verhuscht die Vorstellungsrunde der Akteure an diesem Abend so schnell, dass diese dichten Beziehungen in ihrer Pointe kaum zum Tragen kommen.

Und hier beginnen die ästhetischen und konzeptionellen Probleme dieser Inszenierung, die man abzüglich der hohen Interesse- und Sympathiewerte, die dieses unprätentiöse Theaterformat fast schon zwangsläufig aufbaut, festhalten muss. Die sieben Männer, die gecastet wurden (wieso nur Männer?), steuern in ihren Lebensgeschichten zwar auf ein relativ deutliches Schema zu: Deutschland ist grau und regnerisch; Süditalien sonnig, großfamilienfreundlich, allein auch etwas mafiös und in Ermangelung von Arbeitsplätzen lediglich einen Urlaubsmonat lang lebenswert. Doch entsagen die Erzählungen zumeist der Anekdote, gibt es kaum eindringliche Erlebnisse oder Bilder. Die Information, dass eine sizilianische Mutter ihr Auto das Jahr über im heimischen Wohnzimmer parkt, ist da schon ein Bonbon.

Fußball, Schwof und Pasta

Über das Leben in Deutschland erfahren wir fast nichts. Statt Nachbarn, Lehrern oder Arbeitskollegen hat man zwei Ensemblemitglieder engagiert, die moderierend durch den Abend führen (Nadja Robiné und Luzia Schelling), sachdienliche Informationen anbringen (etwa zum touristischen Potenzial von Palma) und dabei in ihrem Begehren, schön zu sprechen, reichlich deplaziert wirken. Gespielt wird auch: Man schwoft einen Disco Fox, wenn Calogero Falsone von seiner Tanzleidenschaft erzählt, jongliert mit einem Fußball (Luca Toni sei gegrüßt), singt seine Lebensgeschichte im schnulzigen Karaoke (mit Sonnenbrille) oder spielt Stop Motion Poker. Doch nirgends kommentieren oder erhellen diese Sequenzen das Erzählte.

So mündet der Abend in einen schon akustisch nicht immer gut verständlichen Katalog an Informationen, der im Ganzen ein holzschnittartig vertrautes Bild des italienischen Gastarbeiters abwirft: maskulin, familiär, die Sonne im Herzen. Zur Abrundung hat man die Bühne rechterhand mit einer Küche ausgestattet, in der selbstgemachte Pasta mit Tomantensauce zubereitet wird. Dass beim finalen Verzehr der Speise das Publikum übergangen wird, scheint dem Geist des Projektes weniger angemessen. Ästhetische, intellektuelle oder kulinarische Differenzerfahrung war heute wirklich nicht das Programm.

 

Bello e Brutto – Ein Dorf wandert
Eine theatrale Recherche zwischen Deutschland und Italien

Regie: Katja Fillmann, Ausstattung: Margret Burneleit, Video: Steffen Dost, Licht: Daniel Bühler, Dramaturgie: Sabine Reich. Mit: Amadeo Burgio, Calogero Conti, Paolo Conti, Rosario Conti, Rosario Conti jr., Calogero Falsone, André Lumia, Nadja Robiné, Luzia Schelling.

www.theater-essen.de

Mehr zur Reihe "Schwärme"? Finden Sie hier: Flüchtlinge im Ruhestand.

 

Kritikenrundschau

Der Rheinische Merkur (24.4.) bringt eine Mini-Kritik, ohne die Autorin, den Autor des Textes zu nennen. Darin heißt es, dass sich die Inszenierung von Katja Fillmann mit der Frage beschäftige, wie "die Fremden im Ruhrgebiet" leben: "Welche Erfahrungen machen sie, wie kommen sie fern der Heimat zurecht?" Das werde "kaum kommentiert oder reflektiert, sodass die Aufführung an der Oberfläche des bloß Berichteten bleibt und eher den Charakter von Laientheater hat".

Nur unwesentlich ausführlicher, dafür aber mit Nennung des Autors ist die Kritik auf dem Online-Portal Der Westen (23.4). Rainer Wanzelius schreibt: "Die Akteure erzählen, manchmal rasend schnell, ihre zerrissenen Biografien. Man spürt ihre Verkrampfung. Das Publikum hört zu, schaut zu, bleibt emotional aber außen vor." Von der Bühne, einem Raum mit Küche und sechs Tischen, dufte der Kaffee, auf dem Herd kochten die Nudeln. "Man möchte mitessen, bleibt aber in der Zuschauerwelt gefangen. Regisseurin Katja Fillmann sucht in wechselnden Szenen nach Auswegen. Ein Brückenschlag gelingt ihr nicht."

 

Kommentar schreiben