Die Espressomaschine, die Ameisen und ich

von Claudia Wahjudi

Berlin, 5. Juli 2016. Zum Kern des Werks geht es hinab in den Keller. In der Werkstatt der ehemaligen Freien Volksbühne stapeln sich Paletten, darauf laufen zwei altmodische Fernseher. Sie zeigen zwei Kurzfilme, je eine "Drawing Lesson" von William Kentridge. Der Künstler aus Südafrika spielt darin sich selbst und sein Alter Ego – beide gekleidet, wie er immer auftritt, mit schwarzer Bundfaltenhose und weißem Hemd, den Zwicker in der Brusttasche oder auf der Nase.

In "Drawing Lesson 17" links will der eine Kentridge den anderen als großen Meister präsentieren, als Künstler, der im Studio Unerhörtes, ja Großartiges denkt und dichtet. Doch als der schreibende Kentridge endlich vom Blatt hochsieht, hat er darauf nur drei Worte gekrakelt: "certainty, uncertainty, procrastination", "Gewissheit, Ungewissheit, Zaudern". Rechts, in "Drawing Lesson 47 (Berlin Memory)", von 2010, interviewt sich Kentridge zu seinem ersten Aufenthalt in Berlin Anfang der 80er-Jahre. Damals soll er die Komische Oper und das Brecht-Ensemble im Ostteil der Stadt besucht haben. Doch Kentridge, inzwischen 55, erinnert sich nur an Kriegsschutt, und daran, dass er, was er im Rückblick albern findet, rote Schuhe trug. Der alte, noch immer strapazierte Mythos vom Genie im Atelier: Von ihm bleibt hier lediglich die Verkehrung ins komische Gegenteil. Intuition und Gedächtnis lassen den Künstler im Stich, auch er ist nur Mensch.

Aufklärer der Aufklärung

Um auch diese Seite von Kentridge in Berlin zu zeigen, war ein besonderer Anlass nötig: die Kooperation unter dem Dach der Berliner Festspiele zwischen dem Performance-Festival Foreign Affairs und dem Martin-Gropius-Bau, der Kentridges Werkschau "No It Is!" zeigt. Die fünften und letzten Foreign Affairs präsentieren den mehrfachen Documenta-Teilnehmer, der Museen von New York bis Tasmanien bespielt, als "Focus-Künstler" und haben ihr Motto bei ihm entliehen: "uncertainty", den Begriff, den Kentridge auch gern mit dem Wort "Vorläufigkeit" kombiniert.

Dank der Doppelschau kann sich Kentridges Werk hierzulande erstmals in all seinen Genres und Nuancen entfalten: in Zeichnungen, Filmen, Bühnenbildern und Installationen, in Texten, Performances, Vorträgen, Theater- und Musikstücken. Das war nötig. Erst im vergangenen Winter zeigten die Staatlichen Museen gemeinsam mit einem DFG-Projekt der Freien Universität Grafiken von Kentridge zusammen mit Drucken von Albrecht Dürer. Die Spitzfindigkeit der Schau, die auf formale Gemeinsamkeiten zielte, lenkte vom politischen Gehalt der Arbeiten ab. Umgekehrt präsentierte das Deutsche Guggenheim Ende 2005 allein den Politik reflektierenden Künstler. Mit seinem computergesteuerten, vollmechanischen Theater "Black Box" thematisierte Kentridge damals die Berliner Afrikakonferenz und den Völkermord an den Herero durch deutsche Truppen. Hier erwies sich der Künstler als Aufklärer, der die Aufklärung kritisch betrachtet: als Strömung, die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und zugleich Kolonien, Sklaverei und Rassismus hervorbrachte.

Der ganze Künstler

Wie um sicher zu gehen, dass das Publikum dieses Mal alle Facetten seines Werks wahrnimmt, begannen die Foreign Affairs im Lichthof des Martin-Gropius-Baus mit der deutschen Erstaufführung von Kentridges "Paper Music" (2014), einer Art Best Of in kurzen Filmen zu Musik des Komponisten Philip Miller. Die Sängerinnen Ann Masina und Joanna Dudley sowie Vincenzo Pasquariello am Flügel ließen rund 20 Jahre Schaffen in knapp anderthalb Stunden vorbeirasen, und fast alles, was Kentridges Werk auszeichnet, tauchte auf. Kohlebilder, die der Künstler zeichnet, ausradiert, neu zeichnet und jedes Mal fotografiert, um aus ihnen einen Film zu machen. Die Espressomaschine, die zum Mond fliegt. Ameisen in einem Negativfilm, der die Tierchen wie Sterne am Firmament wirken lässt. Übermalte Seiten alter Enzyklopädien. Kentridges Frau. Sein Studio, durch das er denkend wandert. Sein prüfender Blick in den Spiegel: ein Weißer in Südafrika. Die Landschaften vor Johannesburg, zerfurcht vom Bergbau. Die Figur Soho Eckstein, ein weißer Minenbesitzer, und schwarze Bergarbeiter, die in Lagern hausen müssen. Die Kolonialzeit. Der Künstler schlaflos im Bett.

Paper Music 05 560 c Chris Hewitt20 Jahre Schaffen in Kohlebildern und Gesang: "Paper Music" von William Kentridge
© Chris Hewitt

Trotz ihrer Kooperation haben Foreign Affairs und Martin-Gropius-Bau die beiden Schauen sehr unterschiedlich gestaltet. Im Haus der Berliner Festspiele, wo auch Mary Reid Kelly, Dries Verhoeven und Nelisiwe Xaba ausstellen, verteilen sich Kentridges Arbeiten über Keller, Schränke, Kantine und Lastenaufzug. Das Zentrum bildet die achtteilige Projektion "I Am Not Me, the Horse Is Not Mine" (2008) im Rund der Unterbühne. Elemente aus Kentridges Bearbeitung der Schostakowitsch-Oper "Die Nase" zollen hier der russischen Avantgarde Respekt, konterkarieren jedoch deren absoluten Anspruch mit historischem Filmmaterial von Aufmärschen unter Stalin und mit Zitaten aus Schauprozessen. Das Festival führt zudem "Refuse The Hour" (2012), "Die Winterreise" (2014) und "Ubu & The Truth Commission" (2012) mit der Handspring Puppet Company auf, Kentridges Stück über die Wahrheitskommission in Südafrika.

Die enttarnte Taktung der Welt

Im Martin-Gropius-Bau dagegen hat Gastkurator Wulf Herzogenrath eine so üppige wie systematische Werkschau arrangiert. Zwischen dunklen Sälen mit raumfüllenden Projektionen und Installationen öffnen sich helle Räume, die Einblick in die Arbeit hinter den Kulissen geben: mit Modellen, Entwürfen, Zeichnungen und Dokumentarfilmen aus Kentridges zweitem Studio, wo ein Team mit ihm die großen Arbeiten produziert. Vom Sinn des Künstlers für Gemeinschaftsarbeit zeugt auch die performative Führung durch die Ausstellung, die Joanna Dudley an einigen Tagen anbietet, und nicht zuletzt ein aufwendig gestaltetes Künstlerbuch. Neben Texten von Kentridge enthält es Interviews und Hinweise für den Download einzelner Filmsequenzen mittels einer App (http://anartbook.com). Auf die Aura eines jeden Originals kommt es dem Künstler nicht an, sonst dürfte es nicht technisch reproduziert werden.

william kentridge journey 560 uWilliam Kentridge: "Journey To The Moon", 2003
© Courtesy the artist, Marian Goodman Gallery (New York, Paris, London);
Goodman Gallery (Johannesburg, Cape Town) and Lia Rumma Gallery (Naples, Milan)

Anfang und Ende des Parcours markieren Säle zu Kentridges Auseinandersetzung mit Raum und Zeit in der Moderne. "Journey to the Moon" (2003), eine filmische Reflektion über George Méliès' gleichnamigen Film, macht den Auftakt. "The Refusal of Time" (2012) bildet den Schluss. Die Rauminstallation mit kinetischen Objekten, narrativen Szenen in Stummfilmart und einer polyrhythmischen Komposition von Miller würdigt die technischen Errungenschaften und kommunikativen Leistungen, die im 19. Jahrhundert für die Taktung der Welt in Zeitzonen notwendig waren. Zugleich enttarnt sie diese als Kolonisierung der Weltzeiten mittels Greenwich Mean Time.

Prozession der Schatten

Im Zentrum läuft hier die achtteilige Videoprojektion "More Sweetly Play the Dance" (2015), eine über 40 Meter lange Prozession von Schattenfiguren, für die Schauspieler, Musiker und Tänzer Modell liefen. Zu einem dramatisch-melancholischen Marsch der African Immanuel Essemblies Brass Band tanzen sie nun als Untote über die geschundene Bergbaulandschaft bei Johannesburg. Es ziehen unter anderem vorbei: Lumpensammler und Militärs, Skelette, eine Rebellin, Politiker, Revolutionäre, Religiöse, Verkrüppelte, Sekretärinnen, Wäscherinnen, Spaten, Stöcke, Badewannen, eine Blaskapelle und Ebola-Patienten, die ihren Infusionstropf wie einen Galgen hinter sich her karren.

Unsicherheit und Vorläufigkeit betreffen nicht allein den künstlerischen Prozess. Sehr unsicher und vorläufig sind nach wie vor auch die gegenwärtigen Verhältnisse in Südafrika. Kentridge plädiert dafür, beides auszuhalten. Seine doppelte Werkschau ist dem politischen Künstler William Kentridge gerecht geworden.

 

Paper Music
Ein Ciné-Concert von William Kentridge und Philip Miller
Deutsche Erstaufführung
Video: William Kentridge, Musik: Philip Miller, Kostümbild: Greta Goiris, Technische Leitung: Michele Greco.
Mit: Ann Masina, Joanna Dudley, Vincenzo Pasquariello, Philip Miller.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Foreign Affairs: Uncertainty
Bis 16. Juli 2016, verschiedene Orte, Arbeiten von William Kentridge im Haus der Berliner Festspiele
www.berlinerfestspiele.de

No It Is!
Bis 21. August 2016, Martin-Gropius-Bau, Mi-Mo 10-19 Uhr
www.gropiusbau.de

Katalog: William Kentridge: No It Is! Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2016, 323 S., 24 Euro

 

Kritikenrundschau

In ihrem Bericht zum Auftakt des Festivals Foreign Affairs schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (7.7.2016): "Eine Brass-Band, und zwar eine südafrikanische, tauchte auch in der 45 Meter langen Filmprojektion 'More Sweetly Play The Dance' von William Kentridge auf. An der Festspielhausfassade konnte man nach 22 Uhr die Prozession von schattenhaften Figuren verfolgen, die mal an eine Demonstration erinnert, mal an eine fröhliche Parade. Auch die Assoziationen zu Flüchtlingsströmen ist durchaus beabsichtigt, denn einige der Figuren schleppen Lasten mit sich. Durch diesen Strom aus Menschen und Symbolen wirbelt ein Tänzer mit wunderbarer Leichtigkeit. Die scheinbar endlose Bewegung stimmt geradezu euphorisch." 

 

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