"Überreaktion der Behörden"

Berlin, 10. Juli 2016. Die Aktion "Protektoramae – Forking Horizon" des Künstlers Johannes Paul Raether beim Festival Foreign Affairs, das die Berliner Festspiele veranstalten, hat gestern einen Polizeieinsatz ausgelöst. Wie u.a. die Berliner Morgenpost berichtet, mussten etwa 500 Kunden und Angestellte eines Berliner Apple-Ladens das Geschäft verlassen, nachdem Polizei und Feuerwehr wegen einer Substanz gerufen wurde, die offenbar aussah wie das hochgiftige Quecksilber, bei der es sich aber nach Festspielangaben um Gallium handelt, das bei üblichem Gebrauch gesundheitlich unbedenklich ist.

Personalien der Teilnehmer*innen aufgenommen

Die Berliner Festspiele beschreiben die Aktion in einer Presseaussendung ausführlich. Dort heißt es: "Vor dem Betreten des Stores teilte der Künstler an die Besucher*innen im Zuge eines 'Techno-magischen Rituals' einen kleinen Metallring aus, welcher in der offenen Hand getragen werden sollte und sich im Laufe der Zeit verflüssigte." Und weiter: "Das in den Händen der Gäste flüssig gewordene, sehr kleine Stück Metall, hat sich der Künstler am Ende der Aktion von den Teilnehmer*innen zurückgeben lassen und in den Handflächen verwahrt. Dabei wurde nichts beschädigt und niemand verletzt. Nach dem Ende der Performance kam es beim Hinausgehen aus dem Store zum Zugriff des Sicherheitsdienstes von Apple und der Polizei, welche anschließend die Feuerwehr rief."

Wie die Morgenpost berichtet, blieb das Geschäft über mehrere Stunden gesperrt. Die Polizei hielt 27 Teilnehmer*innen der Kunstaktion fest und nahm ihre Personalien auf. Gegen die Teilnehmer der Aktion sollen Ermittlungen aufgenommen werden, unter anderem wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung.

Festivalleitung entschuldigt sich

Vor Ort sprach Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, der Morgenpost zufolge "von einer Überreaktion der Behörden und von Apple auf etwas, das friedlich und freundlich geplant war". In der Mitteilung der Berliner Festspiele heißt es dazu: "Die Leitung des Festivals Foreign Affairs, in dessen Rahmen die Veranstaltung stattfand, ging von Abläufen aus, die keinerlei Form von Rechtsverstößen darstellen oder in anderer Hinsicht zum öffentlichen Ärgernis führen würden. Die sich durch den Verlauf der Performance entwickelnde Besorgnis der Geschäftsführung des Stores setzte eine Kette von Sicherheitsmaßnahmen in Gang, welche mit dem Eintreffen der Polizei durch keine Erklärung der anwesenden, die Kunstaktion begleitenden Festivalverantwortlichen, mehr aufzuhalten war.  Wir bitten alle von der dramatischen Entwicklung dieser Kunstaktion Betroffenen ausdrücklich um Entschuldigung."

(Berliner Morgenpost / Berliner Festspiele / geka)

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Kommentare  
Polizeieinsatz Foreign Affairs: vorher nachdenken!
Oh Mann, Festspiele!
Mit keinem Wort wird die "Kunstaktion" mal erklärt. Sie sei "Friedlich und freundlich" geplant, natürlich ohne den normalen Kunden im Laden Bescheid zu sagen. "Wir gingen von Abläufen aus, die keinerlei Form von Rechtsverstössen...." - oha, Haftungsdisclaimer.
Wer in Zeiten von terroristischen Übergriffen in den öffentlichen Raum geht und dort etwas verteilt, das wie Quecksilber aussieht ist einfach nur bescheuert. (Oder "performer")
Wenn Augusto Boal früher "unsichtbares Theater" in New Yorker Restaurants machte, waren das präzise ausgeplante Improvisationen, in denen die Notbremse immer mitgedacht war - und deren Idee im Nachhinein verständlich kommuniziert wurde.
Wenn Foreign Affairs den Künstler in den Apple Store schickt, gibt es keinen Plan, keine Erklärungen, keinen Plan B, der epic fail ist dann "durch keine Erklärung der anwesenden, die Kunstaktion begleitenden Festivalverantwortlichen, mehr aufzuhalten". Tip: vorher mal drüber nachdenken.
Der Vorfall führt die PR-Geilheit des Festivals vor Augen - es braucht keine Inhalte mehr, eine Kunstaktion muss auch nicht mehr vermittelt werden, Hauptsache bisschen lustige Äktschn bei Apple, da trifft es schon die Richtigen. Das Kunst im öffentlichen Raum auch etwas mit Verantwortung zu tun hat ist bei Foreign Affairs noch nicht angekommen. Während die erschütternde Harmlosigkeit der Produktionen auf den Festivalbühnen wenigstens niemandem wehtut, schmerzt der Ausflug in den öffentlichen Raum. Hirnlos und gedankenfrei. Origineller Effekt: der Intendant beschuldigt die Polizei und Apple überreagiert zu haben.
Klar, Kunstfreiheit und so. Besser wäre wohl mal offenzulegen, was diese peinliche Aktion eigentlich bewirken sollte? Kritik an Apple?
Der übliche Performancezenengeschwurbelbullshit auf der website hilft da nicht wirklich weiter. Nochmal zum Geniessen:
"Zentrum der künstlerischen und para-wissenschaftlichen Arbeit von Johannes Paul Raether bildet eine ‘Herde’ von farbigen Forschungs-Drag-Avataras. Bereits 2013 war eine der Avataras, die WorldWideWitch Protektorama, im Busch der Berliner Festspiele damit beauftragt, die Besucher* innen von ihren Smartphone-Candy-Fetischen zu trennen. Nun, drei Jahre später, kehrt die Hexe von den Gipfeln des Allgäu, dem mittsommernächtlichen Ritual im techno-magischen Steinkreis in Schottland und der Kathedrale der Bildschirme (aka Times Square) zurück. Ihre Plattform bei Foreign Affairs 2016 wird sie für die vorbereitende Forschung zu kommenden Selbstteilungs- oder Gabelungsprozessen nutzen, die die Schmelzung potenzierter Daten, Smartphone-Beschwörungen, Skizzen neuer Legierungen, eine Alchemie seltener Erden und die Infiltration der Screen-Hochregale umfassen wird."

Ah, verstehe - die unbeteiligten Kunden im Apple Store sind also die Meerschweinchen der vorbereitenden Forschung zu kommenden Selbstteilungs- und Gabelungsprozessen.
Liebe Festspiele, an euren Aktionen Unbeteiligte sind nicht zu belästigen und in Angst zu versetzen, auch wenn es um die "Schmelzung potenzierter Daten geht". Forschung betreibt man im Labor (Probenraum) oder mit Menschen, denen man vorher Bescheid gesagt hat, auf was sie sich einlassen.
Wenn das total daneben geht ist es wenig souverän die Polizei und den Ladenbesitzer zu beschuldigen statt einfach zuzugeben, daß die Aktion schlecht gedachter, schlecht geplanter und schlecht ausgeführter BS war.
Vermutung: Den Zweck der Aktion zu erklären war der Festspielleitung anscheinend so peinlich, daß sie es einfach unterlässt - so kann man sein eigenes Festival auch für obsolet erklären.
Polizeieinsatz Foreign Affairs: nackter Kaiser
Danke!
Der Kaiser ist schon lange nackt. Und der Kunstsprech-Bullshit tropft uns aus den Ohren.
Ab jetzt darf M. von Hartz die Griechen beglücken, als ob die nicht durch die deutsche Regierung schon genügend Ärger hätten.
Polizeieinsatz Foreign Affairs: Erklärung des Künstlers
Hier https://www.facebook.com/jeanpaul.ratier/posts/1214631658549013 findet sich übrigens folgende Erklärung von Johannes Paul Raether. Falls das beim Auffinden des Zwecks der Aktion hilft:

"Im Zentrum meiner Arbeit als Performancekünstler stehen konstruierte Identitäten, die als Charaktere an wechselnden Schauplätzen im öffentlichen Raum auftauchen und dort forschen, lehren und erzählen. Als bunte Wesen, die aus Alltagsgegenständen zusammengesetzt sind besprechen sie mit dem Publikum – sowohl dem eingeladenen, als auch zufällig anwesenden – eine Vielzahl von komplexen Themen. Besonders gesellschaftliche Herausforderungen, wie zum Beispiel Bio- und Reproduktionstechnologien, globalisierte Tourismusindustrien oder Informations- und Computertechnologien versuche ich, verkörpert in diesen Wesen, anders zu reflektieren und zu besprechen. Das von mir dafür entwickelte Performance-System, das ich als „Identitektur“ bezeichne, geht davon aus, dass all diese Technologien sich nicht nur in soziale Konventionen einschreiben, sondern auch die Körper und Identitäten der user_innen konstruieren.

Eine der Charaktere oder auch Performancezyklen ist die Hexe Protektorama, die die Besessenheit der Menschen vom Smartphonefetisch untersucht. In einer Serie von Wanderungen und Ritualen, unter anderem in einem Steinkreis in Schottland oder in der „Kathedrale der Screens“ dem Times Square in New York, bespricht sie das Verhältnis des Körpers zum Screen, „wearable devices“ als Prothesen oder die Materialität und Herstellung, Metalle und Minen der Informationstechnologien.
Die Metapher der Alchemie für die Forschung an Stoffen und deren Transformation im Schmelzen war Ausgangspunkt der Performance, die als Wanderung vom Haus der Berliner Festspiele über den Kurfürstendamm und durch den Apple Store geplant war. Dabei trug ich Seltene Erde Metalle, die in der Herstellung so gut wie jedes Bildschirmes, Telefons und Computers vorkommen mit mir. Dem Publikum wurde ein Ring aus Gallium-Metall gegeben, der sich zusammen mit den Seltenen Erden in meiner Hand zu einer techno-alchemische Legierung verbinden sollte. Ein Kontakt mit anderen Gegenständen war nicht vorgesehen.

Das verwendete Gallium ist eine harmlose Substanz, frei verkäuflich und in vielen unseren Alltagsgegenständen enthalten. Die Performance hatte zu keinem Zeitpunkt die Intention oder den Anschein irgendjemanden zu verletzen. Die Tatsache, dass die herbeigerufene Polizei Gespräche über die Natur der Veranstaltung und damit über das mögliche Gefährdungspotential von Anfang an nicht zugelassen hat, hat die Situation aus meiner Perspektive unnötigerweise eskalieren lassen. Die daraus entstandene Evakuierung des Apple-Stores war von mir nicht gewollt. Meine Arbeiten sind zum überwiegenden Teil auf das Stattfinden im öffentlichen Raum angewiesen ; sie sind nicht darauf angelegt anderen Schaden zuzufügen oder ein öffentliches Ärgernis darzustellen.

Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die ihre Technologien als in magischer Weise abgelöst von sozialen Realitäten begreift, bringt fragile Identitäten, neue unlesbare Körper und fremdartige Materialien aus sich selbst hervor. Es ist an den Kuenstler_innen diese Materialien und Körper in Bilder und Situationen zu reflektieren. Orte an denen dies stattfinden muss, sind nicht nur die Bühnen der Theater und die Galerien der Museen sondern auch reale Orte, die als kulturelle und sakrale Orte erst aktuell etabliert werden."
Polizeieinsatz Foreign Affairs: bankrott
Auch eine Beschreibung für bankrott sein: Ein Künstler, der seine Kunst erklärt.
Polizeieinsatz Foreign Affairs: was Gallium kann
Lieber Herr Behrens,

Habs herausgefunden:

Es hat mit der Reaktion von Gallium und Aluminium zu tun:
https://www.youtube.com/watch?v=FaMWxLCGY0U

Und das hat dann mit der Reaktion von Gallium und einem I Phone 6 zu tun
https://www.youtube.com/watch?v=9AR5ZIEYqT4&feature=youtu.be&t=264
(wichtig: ab 4.00 anschauen)

Wer beides anschaut, weiß, was der Künstler im Shop eigentlich vorhatte. ;-)
Polizeieinsatz Foreign Affairs: 7 Substantive
"Die sich durch den Verlauf der Performance entwickelnde Besorgnis der Geschäftsführung des Stores setzte eine Kette von Sicherheitsmaßnahmen in Gang, welche mit dem Eintreffen der Polizei durch keine Erklärung der anwesenden, die Kunstaktion begleitenden Festivalverantwortlichen, mehr aufzuhalten war."

Ich habe noch nie eine verquastere Pressemitteilung gelesen.
Lieber Thomas Oberender, Sie waren einmal ein Mann der Sprache, bevor Sie endgültig dem Event verfallen sind. Aber selbst dann müssen solche Entschuldigungen nicht sein, bei denen sich 7 Substantive in Folge in einer Passivkonstruktion vor der Wirklichkeit abducken. Wenn die Sprache der Justiziare inzwischen die Sprache der Dramaturgen so sehr dominiert läuft wirklich etwas in die falsche Richtung...
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