Die Wende bleibt Geschichte

von Lukas Pohlmann

Dresden, 27. August 2016. Extreme Lautstärken und Stroboskop-Geflacker! Wird wohl ein harter Abend, wenn ein Theater derart warnt und am Eingang Ohrstöpsel verteilt. Die versammelte Zuschauerschar ist trotzdem voller Vorfreude. Es geht ja auch um sie und ihre Stadt. Der 2015 für den deutschen Buchpreis nominierte Roman "89/90" des in Dresden geborenen Peter Richter erzählt, dem subjektiven Erinnerungsfaden des Autors folgend, in fein beobachteten, mal erschreckenden, mal himmelschreiend komischen Anekdoten die Erfahrungen eines 16-Jährigen im Jahr des Mauerfalls. Und erzählt in dieser Prosaform gleichsam viel über Tendenzen der Kleingeistigkeit und Weltabgewandheit im Dresden der Gegenwart.

Ab in die Freiheit

Ein guter Stoff, ihn für das Theater zu nutzen und in Dresden uraufzuführen. Geradezu dankbar auch: eine Spielplanposition, die kein Klassiker ist und doch ein Zuschauermagnet werden könnte.

Das Stück beginnt. Hinter leerer, schwarzer Bühnenfläche sind auf einer Plane mit Berg-Wald-Panorama die Fixpunkte der bekannten Welt zu lesen: Washington, Bonn, Berlin, Dresden, Moskau. Ein älterer Mann im DDR-Turnanzug kommt, macht den Blick auf sein Wohnzimmer frei, in dem er sich fortan als stummer Fisch langweilt, um sich dann im Laufe des Abends einzumauern.

89neunzig2 560 David Baltzer u Turnschuhe aussortieren, Alte weg, Neue her, und plötzlich gibts auch Popper, Grufties,
Punks, Anpasser, Mitmacher, Verweigerer © David Baltzer

Es treten auf: Sechs Schauspieler für die Verhandlung des Texts und zwei für die Musik. Manchmal sind die Grenzen fließend. Da werden die Musiker der Dresdner Band Dÿse auch zu schauspielernden Akteuren und die Schauspieler verwandeln sich singend und schreiend zum Teil der Musik. Es fehlen: Die Frauen. Aber nicht wirklich. Spielprinzip des Abends ist die Übertragung der Richter-Erinnerungen auf mehrere Akteure. Die bleiben dann auch fortan sehr eng am Romantext.

Wenn sich der Ich-Erzähler an den Satz eines Mädchens erinnert, springt eben einer der zur Verfügung stehenden Herren in eine weibliche Pose. Feste Rollenverteilung gibt es nicht. Die würde wohl eher stören bei der Wortmasse, die über die Bühnenkante schwappt. Denn die Fassung von Regisseurin Christina Rast und Dramaturgin Anne Rietschel scheint zum Ziel zu haben, möglichst viel Romanmaterial auf die Bühne zu hieven.

Erinnerungs-Menetekel

Der Erinnerungsreigen des multiplen Herrn Richter beginnt im sehr warmen Frühjahr 1989. Er reflektiert intensiv-subjektiv Cliquenbildung, Freibadeinbrüche, Verknallen, Wehrübungen – den Alltagswahnsinn Heranwachsender im Arbeiter- und Bauernstaat. Das ist bis zur Pause hübsch anzusehen. Die Spieler werfen sich die Anekdotenfetzen zu wie ihre Lederjacken und Blauhemden. Sie schaffen gemeinsam mit den naturgewaltigen brachial-Sounds der Schlagzeug-E-Gitarren-Stimme-Combo Dÿse tatsächlich trotz dieser Schachteltextmassen eine großartige Atmosphäre.

Nicht zuletzt, weil es großen Spaß macht, diesen talentierten Herren zuzusehen, die offensichtlich Spaß an der gemeinsamen Richterforschung haben. Dabei nehmen sie jede in den Bühnenraum gefahrene Traverse samt Winkelementen, jede aufzuhängende Fahne, jeden riesigen Pappkameradenkopf (egal ob Honecker oder Krenz, Kohl oder Bush) als Spielansatz dankend an um sich von der reinen Deklamation zu lösen.

89neunzig3 560 David Baltzer uDie Mauer ist weg, die Menschen sind noch da: Pappkameraden in "89/90" in Dresden
© David Baltzer

So wird es über der intelligenten Energieperformance plötzlich Silvester. Die Mauer ist längst gefallen, die 90er sind im Anmarsch. Aber vorher ist Pause in Dresden und die tut dem Abend leider gar nicht gut. Denn die feinen Ideen, der für Regie und Bühne verantwortlichen Schweizer Schwestern Christina und Franziska Rast, die vor der Pause noch das Erinnerungsmenetekel illustrierten, sind offensichtlich verbraucht.

Chronistische Illustration

Obwohl der zweite Teil wesentlich kürzer ist, scheint er noch mehr Textmasse zu verhandeln. Die Neunziger beginnen mit Glatzen in Dresden, die Fidschis klatschen gehen. Aber abgesehen von ein paar Mode- und Ausstattungszitaten (Kostüme: Gunna Meyer) mit Bomberjacke, Springerstiefel und Baseballschläger findet das ausschließlich im Text statt. Da kann das Theater den starken Richter-Text nicht mehr erweitern. Da wird die Inszenierung wie zur Beweisführung für die Qualität eines Prosatextes, der das Theater überhaupt nicht braucht, um relevant zu sein.

"89/90" in Dresden ist, zumindest vor der Pause noch, starkes Bildertheater, das sich auf Text und Spieler verlassen kann, aber in der inhaltlichen Auseinandersetzung in der illustrierten Geschichtsstunde verharrt. Also kein harter Abend. Auch wenn er, nachdem der großartige Dÿse-Sound Feierabend hat, für einen Moment noch das Stroboskop auspackt. Zu wummernden Techno-Beats. Und dieses schöne Richter-Bild bleibt, vom gesellschaftlichen Tinnitus, den man in den 90ern gar nicht mehr richtig los wird. Der Theaterabend verhallt schnell.

89/90
nach dem Roman von Peter Richter, Bühnenfassung von Christina Rast und Anne Rietschel
Uraufführung
Regie: Christina Rast, Bühne: Franziska Rast, Kostüme: Gunna Meyer, Musik: Jarii van Gohl, Dramaturgie: Anne Rietschel, Licht: Peter Lorenz.
Mit: Marius Ahrendt, Ben Daniel Jöhnk, Simon Käser, Loris Kubeng, Matthias Luckey, B. Pino Räder, Nicolas Streit. Musik: DŸSE (Andrej Dietrich, Jarii van Gohl)
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Das Regie-Team um Rast & Rast sucht (und findet zuweilen) Bilder für etwas, was im Grunde vor allem eine Reportage ist," so Michael Laages über diese Romanadaption in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (28.8.2016). "Viel Projektion flackert auf dem hinteren Vorhang, riesige Papp-Gesichter der weltpolitisch handelnden Personen können auch ulkig mit den Mäulern klappen. Das Ensemble müht sich redlich um die Vielfalt der Figuren." Erzählt werde "eine Art kollektiver Revue - die Figur des Ich-Erzählers wird praktisch unfassbar, weil sie durchgängig auf sechs Stimmen verteilt ist; wer gerade nicht von sich erzählt, übernimmt das Leben der Anderen und deren Stimmen. Das funktioniert recht gut im ersten, längeren Teil", danach aus Sicht des Kritikers aber dann nicht mehr.

Für Michael Bartsch von den Dresdner Neuesten Nachrichten (29.8.2016) war das Stück "nach 15 Sekunden gelaufen". Wenn ein Abend mit dem Pionierlied "Unsere Heimat" beginne, wisse man was komme: "Die DDR einmal mehr als Karikatur." Immerhin, im ersten Teil des Abends komme keine Langeweile auf. Dafür sorgen  "(d)ie Heiterkeit versprechenden ausgewählten Passagen und der vehemente Einsatz der Akteure. "Für alle, die keinen zeitlichen oder räumlichen Bezug zu den beiden schicksalhaften Jahren haben und keine Zeit, die 412 Buchseiten zu lesen, kann sich ein Vorstellungsbesuch tatsächlich lohnen."

Sebastian Thiele von der Sächsischen Zeitung (29.8.2016) schreibt: "Die Regie folgt dem Stil des Romans und hat daher Mühe, dem chronologischen Detailmonstrum Spannung einzuimpfen." Alles sei erwartbar. Immerhin: Der deftige Punk-Sound der Band DŸSE belebe, halte wach und erzähle mehr vom jugendlichen Lebensgefühl als der Text. Thieles Fazit: "Letztendich mag der Abend für junge Besucher ein heiterer Geschichtsunterricht sein." Für Neugierige sei dieser Rückblick wenig erhellend, aber für Geduldige unterhaltsam.

 

Kommentare  
89/90, Dresden: packende Szenen
Der erste Teil ist stärker. Aber ich finde nicht, dass der Abend nach der Pause so deutlich abfällt.

Wie „Teichelmauke“ treffend schrieb, bekommt das Publikum bei der Uraufführung im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels in der Neustadt eine „Wende-Revue“ inklusive lokaler Live-Punk-Band geboten: hübsch gemacht und sehr unterhaltsam an einem heißen Sommer-Premieren-Abend.

In der ersten Hälfte gibt es einige packende Szenen: „Wir“ gegen „Die“ – Aufbruch-Stimmung der friedlichen Revolution und mutiges Aufbegehren gegen die Staatsmacht. Der kürzere, zweite Teil ist elliptischer. Er schildert die Zersplitterung des Protests: die meisten wollen möglichst schnell den Anschluss an die Bundesrepublik. Eine Minderheit träumt davon, einen demokratischen Sozialismus zu entwickeln. Aber auch das glatzköpfige Trommeln für ein großdeutsches Reich in den Grenzen von 1937 wird lauter.

Der Abend endet mit der Orientierungslosigkeit der Jugendlichen: Antifa und Neonazis prügeln sich. Der Rest feiert zu Stroboskop-Blitzen in den Techno-Kellern. So ähnlich haben dies auch Clemens Meyer in seinem Roman „Als wir träumten“ und Andreas Dresen in seiner Verfilmung (Berlinale-Wettbewerb 2015) aus der Leipziger Perspektive geschildert.

Kompletter Text: https://daskulturblog.com/2016/08/28/8990-mauerfall-revue-aus-der-sicht-eines-16jaehrigen-in-dresden/
Kommentar schreiben