Presseschau vom 9. September 2016 – Der Tagesspiegel analysiert die Berliner Kulturpolitik unter Michael Müller und Tim Renner

Berliner Bilanz

Berliner Bilanz

9. September 2016. Im Berliner Tagesspiegel (4.9.2016) zieht Rüdiger Schaper kurz vor der Abgeordnetenhauswahl eine Bilanz der jüngeren Berliner Kulturpolitik. "Im Dezember 2014 hatten plötzlich der kulturpolitische Novize Michael Müller und der frisch eingearbeitete Quereinsteiger Renner die Geschicke der Kultur in der Hand." Seitdem sorgte im kulturellen Bereich keine politische Entscheidung für ähnlich viel Kritik und Anfeindungen wie die angekündigte Ablösung von Intendant Frank Castorf durch Chris Dercon an der Volksbühne." An Renner klebt jetzt das Label des Castorf-Terminators." 

Auf der anderen Seite, so stellt Schaper fest, haben Müller und Renner "reichlich Geld beschafft", vor allem für die Freie Szene, aber auch für Künstlerateliers und "zum Teil" auch für das Kinder- und Jugendtheater. Zudem stieg der Kulturetat der Hauptstadt auf insgesamt 400 Millionen Euro im Jahr an. "Eine gewaltige Summe: Sie drückt die gewachsene ökonomische Bedeutung der Kultur für die Stadt aus. Der Boom kam spät, jetzt ist er kaum zu beherrschen. Kultur, Politik und Tourismuswirtschaft lassen sich manchmal nicht mehr unterscheiden."

Es sei natürlich "kein Zufall", dass ausgerechnet in solchen Zeiten "der frühere Pop- und Musikmanager Tim Renner das Amt des Kulturstaatssekretärs versieht." Dieser habe einen "anderen Ton in die Kulturpolitik gebracht." Renner sehe die "Entwicklung der Stadt radikaler und kommerzieller" als sein verhältnismäßig "klassizistischer" Vorgänger André Schmitz, so Schaper. 

"Einen Intendanten nach 25 Jahren nicht mehr zu verlängern, das ist eigentlich kein Skandal, sondern überfällig. Bloß haben Renner und Müller dramatisch unterschätzt, welche Bedeutung die Castorf-Volksbühne für Berlin hat, eben weil Castorf so lange schon das Haus am Rosa-Luxemburg- Platz regiert." Schaper betont die identitätsstiftende Wirkung der Volksbühne für viele ("nicht nur aus dem Osten") und ergänzt, dass die Diskussion über Dercon eine Glaubensfrage sei. "Verkürzt gesagt: Übernimmt der Markt die Stadt, also Dercon, oder widerstehen die alteingesessenen anarchistischen Machthaber – Castorf – dem Entwicklungsdruck?"

"Niemand weiß, wie die Geschichte ausgeht. Ob Dercon, durchaus in der Tradition der Volksbühne, Spektakuläres gelingt, mit der erforderlichen Nachhaltigkeit." Fest steht für Schaper vor allem, dass die Lässigkeit, die zu Beginn der Castorf-Intendanz grassierte, mittlerweile passé ist: "Im Kulturbereich wird heute hektisch und nicht frei von Verbissenheit gearbeitet, anders ist das immense Pensum nicht zu schaffen, das sich der Betrieb auferlegt hat, um das 365/24-Angebot zu schaffen. Ständiges Wachstum." Allein die Volksbühne habe sich noch ein anderes Zeitgefühl erhalten. "Jedenfalls kann man das so empfinden."

Müller und Renner hält Schaper für ein seltsames Duo: "Renner will den Anschluss an eine Zukunft nicht verpassen, die er selbst noch nicht kennt, während sich sein Chef Michael Müller, sonst ein Kontrollfreak, in der Kultur entspannt und dabei manchmal wirkt wie ein Reisender, der neugierig Neuland betritt." Allerdings sei das Leben in der Großstadt keine "Biennale" und durch die vielen Veränderungen droht ein Berlin zu entstehen, das den Menschen "zur Last" fällt. "Ein Wandel geht vor sich, Unsicherheit herrscht" und Verteilungskämpfe zwischen den großen Kulturhäusern der Stadt deuten sich an.

Im Fazit nimmt Schaper Bezug auf die "Theater des Jahres"-Wahl von "Theater Heute", die die Volksbühne und das Gorki-Theater gewannen. "Das ältere Berlin und das neuere Berlin. Es gehört zu einer intelligenten Kulturpolitik, diese Kraftfelder zusammenzuhalten."

(sae) 

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