Antigone unter der Leichenpresse

von Andreas Tobler

Zürich, 10. September 2016. Antigone hat einen neuen Job. Mal wieder, möchte man meinen, nachdem sie schon so vieles war – in der flexiblen Welt der Zeitverarbeitungsagentur Theater, wo das dramatische Bühnenpersonal immer wieder neue Aufgaben zu fassen hat. Nach Maßgabe der jeweiligen Interessen.

Aktualität rules

Vor wenigen Monaten erst hatte Antigone am Schauspielhaus Zürich Premiere als Spielfigur für ein Nachdenken über den Umstand, dass am Ursprung aller Kultur die Wiederholung steht (in René Polleschs Beschäftigung mit Brechts "Antigonemodell"). Nun doppelt das Zürcher Schauspielhaus zur Eröffnung seiner neuen Spielzeit nach – mit einer sehr freihändigen Sophokles-Bearbeitung von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel. Und diesmal sieht die Antigone ein wenig so aus, als hätte man Dartpfeile in die Floskelwolke der Tagesaktualität geworfen. Offensichtlich blieben sie bei "Merkelraute", "Überwachungsstaat" und "Lügenpresse" stecken. Zumindest ist all das nun in der Schiffbauhalle zu sehen, wenn ein Lichtbaum wie eine Kamera über die mehrstöckigen Zuschauertribünen gleitet - und so auf den grossen Screens panoptische Effekte erzeugt, die so stark sind, dass der alte Spruch von Rilke – "Da ist keine Überwachungskamera, die Dich nicht sieht, Du musst Dein Leben ändern" – auch an diesem Abend seine Dringlichkeit behält.

Antigone3 560 Tanja Dorendorf T T FotografieBarbara Ehnes' Zürcher "Antigone"-Bühne  © Tanja Dorendorf /  T+T Fotografie

Während die Dramaturgie also schon in den ersten Minuten mit dem "Aktualität rulez!"-Wimpel wedelt, weil in der Schweiz demnächst die Volksabstimmung über ein neues Nachrichtendienstgesetz ansteht, kann der Bühnenraum von Barbara Ehnes ganz vieles, was die Inszenierung von Stefan Pucher nicht kann. Zum Beispiel Vielschichtigkeit. Zu guten Teilen verdankt sich die Plattheit der Inszenierung allerdings auch der Textfassung, die in dieser Hinsicht neue Maßstäbe setzt: Bei Zaimoglu und Senkel ist Kreon nämlich ein Tyrann, der sich in seinem Furor scheinbar endlos über das "Hurenkind" Antigone auslassen kann. Und der trotz beispielloser Despotie nicht ganz ohne reales Vorbild ist. Darauf deutet zumindest die Merkelraute hin, die Hans Kremer als Kreon wiederholt zu machen hat. So tagesaktuell kann Theater also sein!

Die Leichenpresse aus dem AfD-Kosmos

Verstärkt wird die Geilheit aufs tagespolitische Ganze noch durch einen Laienchor, den Christine Gross für die Inszenierung von Pucher dressierte. Und der nichts anderes als eine Journalisten-Meute sein soll, die Kreon in Kadavergehorsam ergeben ist: ein vielstimmiger Lautsprecher in Sachen Hate Speech, dessen Schutzwesten nicht nur mit "Press", sondern auch mit "Corpse" (Leichnam) beschriftet sind. Für die ganz Blöden unter uns, auf die es der Abend offensichtlich abgesehen hat. Das also ist das Bollwerk der staatstragenden Repression – gegen das die Antigone von Elisa Plüss anzukämpfen hat. Naturgemäss vergeblich, wie fast immer in den vergangenen 2000 Jahren.

Antigone4 560 Tanja Dorendorf T T FotografieElisa Plüss als Antigone  © Tanja Dorendorf T+T Fotografie

Gewiss, man kann es bemerkenswert finden, dass das Schauspielhaus Zürich nach der letzten Spielzeit, in der man unter der Flagge von Merkels Willkommenskultur segelte und die Flüchtlinge mit Aktionen und Stücken wie Jelineks Schutzbefohlenen umarmte, nun abendfüllend die Gegenposition einnimmt – und mit dem Vorwurf der Leichenpresse der Weltsicht der AfD Vorschub leistet. Oder dass Stefan Pucher nach Jahren der Melancholie, in denen er Tschechow und andere Klassiker inszenierte, als habe er sich in jede Textzeile dieser Klassiker verliebt, sich nun bereits zum zweiten Mal ganz explizit um die Politik kümmern will (nach seinem Volksfeind vom vergangenen Jahr). Und ja, selbstverständlich gibt es an diesem Eröffnungsabend auch einige bemerkenswerte Leistungen. Hans Kremers Kreon etwa rivialisiert mit seinen eisigen Augen mit denen von Udo Kier; die Ismene von Julia Kreusch ist in ihrem zweiten Auftritt so stark wie man diese Darstellerin bisher selten sah. Und Elisa Plüss holt wirklich alles aus der Antigone von Senkel und Zaimoglu, was diese hergibt (wirklich viel ist es nicht).

Mit der Dampfwalze geplättet

So schlurft die neue Zürcher Antigone in einer penetranten Gleichförmigkeit über die Bühne. Da helfen auch die szenischen Verlängerungen und Ausschmückungen nichts, die das Autorenduo hinzugefügt hat – von der Love-Story zwischen Plüss' Antigone und Daniel Lommatzschs Haimon bis hin zum Staatsstreich von Siggi Schwienteks Teiresias, der dem Abend nochmals einige längliche Momente hinzufügt. Letztlich gibt es in den dramaturgischen Zwangsläufigkeiten gerade mal einen Moment der Brüchigkeit, wenn Jean-Pierre Cornus Berater-Figur der Antigone den Vorwurf macht, ihr Widerstand gegen die Staatsgewalt bezwecke doch nur die Selbstmythologisierung. Der Rest dieses Abends, der sich länger anfühlt, als er wirklich ist, wird mit der Theaterdampfwalze platt gemacht.

 

Antigone
von Sophokles, in einer Bearbeitung von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Chorleitung: Christine Gross, Choreographie: Sebastian Henn, Video: Chris Kondek,  Live-Kamera: Nicolas Vermot-Petit-Outhenin, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Stefanie Carp.
Mit: Elisa Plüss, Julia Kreusch, Hans Kremer, Daniel Lommatzsch, Jean-Pierre Cornu, Siggi Schwientek, Nicolas Rosat, Hipp Mathis, Becky Lee Walters, Réka Csiszér, Maike Bräutigam, Patricija Bronic, Lara Bumbacher, David Castillo, Miriam Christen, Annet Disler, Yunus Ersoy, Nina Farhumand, Dean Gadaldi, Rafael Haldenwang, Nora Häberling, Sebastian Henn, Ramona Karcher, Leonard Kocan, Moritz Köhler, Philipp Lüscher, Vlora Mulaku, Luc Müller, Ailin Nolmans, Walter Schuchter, Anna Wojtalla, Daniel Zahnd und die Musiker Hipp Mathis, Becky Lee Walters, Réka Csiszér.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Das hätte durchaus etwas werden können", befindet Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (12.9.2016), aber dann wurde diese Antigone aus ihrer Sicht nur eine "Angelegenheit von Terribles Simplificateurs", namentlich von Pucher, Senkel und Zaimoglu. Diese Positionslosigkeit verhindere, so die Kritikerin, die Katharsis, sie "vermasselt Mitleiden und Mitgefühl – zum Leidwesen des Publikums und der Darsteller". Die Schauspieler treffe "die grosse Ratlosigkeit am härtesten. Von der Regie allein gelassen, gelingt lediglich dem Erfahrensten, dem fragilen Hans Kremer als Kreon eine Ahnung von Figur."

"Zizek wird gesungen, Sophokles verzwungen", reimt Alexandra Kedves im Zürcher Tagesanzeiger (12.9.2016). Zwar verschlage "der Auftakt dieser Inszenierung dem Zuschauer erst einmal den Atem. Über die ganze Länge der Schiffbauhalle ziehen gigantische Filmbilder zerstörter Städte und demonstrierender Menschen, wie wir sie tagtäglich in den Nachrichten sehen müssen". Nach dieser "satten Ouvertüre" aber rollt die Tragödie im Schiffbau aus Sicht der Kritikerin "langfädig ab". "Rund um ein verschwörungstheoretisch gedrehtes Stück Gesellschaftskritik wird zwei Stunden hemmungslos ein Feuerwerk abgefackelt; ein zu viel an toller Technik, um ein Zuwenig an tieferer Bedeutung und Berührung zu überblitzen."

"Die eigens erstellte Textfassung von Feridun Zaimoglu zeigt sich einerseits ausgesprochen derb im Tonfall, anderseits in den Neuerfindungen eher banal," so Andreas Klaeui für den Schweizer Radiosender SRF 2 Kultur (12.9.2016). "Stefan Puchers Inszenierung räumt vor allem der Darstellung des Totalitarismus Platz ein, und schafft damit das Paradox, dass Kreon zwar ständig an der Rampe steht, aber nichts zu sagen hat. Und deswegen auch Antigone nicht."

Kommentare  
Antigone, Zürich: Leserkritik
Dieses Ungetüm von einer Theaterhalle muss man erst mal bespielen können: Regisseur Stefan Pucher nutzt den Schiffbau in seiner ganzen Breite.

Die Zuschauer, die auf bis zu 6 m hohen Gerüsten platziert sind, erleben eine „Antigone“ im XXL-Format. Wie von Stefan Pucher gewohnt mit viel Live-Musik und Video-Einsatz (Live-Kamera, Einspieler, gerne auch beides gleichzeitig mit Überblendungen).

Die Schwäche der Inszenierung zeigt sich vor allem bei den beiden Hauptfiguren: Antigone wirkt in manchen Momenten wie eine ernste junge Frau, die für ihre Überzeugungen in den Tod geht. In anderen Passagen wirkt Elisa Plüss als Antigone wie ein narzisstisches Glitzer-Girlie. Ihr Gegenspieler Kreon sagt ihr dass auch ganz offen ins Gesicht. Er bezeichnet sie als „Mädchen, so selbstverliebt und eitel, dass sie sich noch kurz vor ihrem Tod um ihr Aussehen sorgt.“ Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann klärt uns im Programmheft auf, dass sich Zaimoglu/Senkel von Slavoj Žižek zu dieser Lesart anregen ließen.

Noch schlimmer trifft es Kreon, der in dieser Inszenierung als rücksichtsloser Alleinherrscher gezeichnet und im Programmheft als „totalitär“ bezeichnet wird. Fragwürdig ist aber, dass Hans Kremer in dieser Rolle ausgerechnet die Merkel-Raute sehr penetrant vor sich herträgt. Björn Höcke und seine AfD schwadronieren zwar gern von der „Kanzlerdiktatorin“. Aber ernsthaft: was hat der auf Moderieren und Ausgleich bedachte Politikstil der CDU-Vorsitzenden mit einem totalitären Herrscher zu tun?

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/12/antigone-in-zuerich-eine-sehr-freie-neuuebersetzung-mit-merkel-raute-und-luegenpresse/
Antigone, Zürich: ohne Aura
Antigone in einer Bearbeitung von Feridun Zamioglu und und Günter Senkel am Schauspielhaus Zürich:
Wenn man ein Stück, wie Antigone, das seit Jahrtausenden gespielt wird und über das so ziemlich alles schon geschrieben wurde, neu inszeniert, sollte man davon ausgehen können, dass man irgend etwas Neues darin zum Ausdruck bringen will. Wenn das beabsichtigt war, hat es sich mir jedoch nicht erschlossen. Mir ist lediglich aufgefallen, dass sich zwischen den handelnden Personen kaum etwas abgespielt hat. Von einer emotionalen Bindung zwischen Haimon und Antigone war überhaupt nichts zu spüren, und warum Antigone ihren toten Bruder, unter Opferung ihres Lebens begraben wollte, blieb letztendlich auch vollkommen unverständlich.. Von den drei Hauptfiguren, Antigone, Haimon und Kreon ging nichts aus, es entstand keine Aura, sie wirkten zweidimensional und schablonenhaft und Kreon konnte man den Machtmenschen zu keinem Zeitpunkt abnehmen . Anscheinend wird, an besonders emotionalen Stellen, für Kreons Rolle vorgeschrieben, dass er in einer Art Schrei oder Kiai seine inneren Anspannung herausbrechen lassen soll. Wir sassen in der ersten Reihe und das bedeutet bei dieser Spielstätte eigentlich halb auf der Bühne; wir hätten bei diesem Schrei erschrecken und zusammenzucken müssen, aber Schrei und Gestik wirkten eher unfreiwillig komisch. Wenn es die Absicht der Inszenierung war, diese Figuren zu banalisieren, dann ist das gut gelungen.
Der blinde Seher und Ismene überzeugten immerhin gelegentlich. Das sah dann schon nach Schauspielkunst aus lief aber im Gesamtzusammenhang ins Leere. Die teils vulgäre Sprache provozierte auch niemanden mehr und trägt eigentlich zu nichts bei, da es auch meines Erachtens nichts gab, zu dem sie etwas hätte beitragen können. Am Schluss lagen alle tot auf des Bühne und mussten sich zusammen mit den Zuschauern noch überflüssige Erklärungen vom Chor anhören etwa nach dem Motto: ‚Und was lernen wir daraus? – Ja nichts, wahrscheinlich’. Der Beifall kam zögerlich und verhalten.

Der Veranstaltungsort (die Schiffbauhalle) dagegen ist echt interessant und wurde kreativ in das Stück eingebaut. Es handelt sich um eine langgezogene Halle wobei die Spielfläche fast die ganze Länge einnimmt. In der Mitte der Bühne befindet sich in der Aussenwand ein großes Tor, das hinaus zur Strasse führt. Beim ersten Auftritt des Chores wurde dieses Tor geöffnet so dass der Chor dann über die öffentliche Straße in das Theater hereingestürmt kam. Auch der blinde Seher kam mit seinem Blindenstock tastend aus der Einfahrt des gegenüberliegenden Gebäudes langsam ins Geschehen herein und mit ihm ein eiskalter Wind von draußen. Das war eindrucksvoll und das Beste des heutigen Abends, war aber leider teilweise nur dem kühlen Wetter zu verdanken.
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