Fünf vor zwölf

von Falk Schreiber

Hamburg, 14. September 2016. Eine Schulturnhalle. Die Uhr zeigt fünf vor zwölf, die Spielstandtafel 2:1 für die Gastmannschaft, und dem Basketballkorb fehlt das Netz. Nicht besonders schick, aber der gute Wille zählt, und gutwillig sind die Bürger auf jeden Fall, die hier als "Privates Flüchtlings-Organisationskomitee", kurz PFOK, eine Willkommensfeier für Flüchtlinge organisiert haben. "Wir wollen zeigen, was deutsche Kultur ist", erklärt Frau Möller (Susanne Jansen als Vorortwalküre mit Alkoholproblem): "deutsche Musik, deutsche Opern ... Aber auch Sachen wie Händewaschen nach dem Klo".

Unsympathen, die sich selbst demontieren

Womit die Eckpunkte von Franz Wittenbrinks "Willkommen – ein deutscher Abend" am Hamburger St. Pauli Theater abgesteckt wären: Es geht um Musik, weil Wittenbrink einen seiner typischen Liederabende inszeniert hat, in denen die Handlung primär durch Songs vorangetrieben wird. Und darüber gelegt ist derbe Bösartigkeit, die eigentlich gar nicht zur hintersinnigen Ironie des in seinem Genre gut eingespielten Revuemeisters Wittenbrink passt, hier aber das ungewohnt politische Thema kontrastiert: Es geht um beflissene Bürger, die glauben, man müsse Südländern grundlegende hygienische Fertigkeiten beibringen.

Willkommen1 560 OliverFantitsch uWillkommen in der Turnhalle der Mitmenschlichkeit und guten Laune! © Oliver Fantitsch

Im Grunde kommt der Abend als Kommentar zum Flüchtlingsthema fast ein Jahr zu spät: Im Sommer 2016 sind die Turnhallen praktisch leer, nur wenige Flüchtlinge kommen dank der konsequenten Abschottung Mitteleuropas bis in die Bundesrepublik durch und werden weitgehend koordiniert versorgt. Das PFOK ist also ein Popanz, den es so nicht mehr gibt, womöglich gab es ihn noch nie, was aber nicht stört, weil "Willkommen" von Anfang an klarstellt, dass hier keine Gefangenen gemacht werden. Sprich: Durch die Bank alle Beteiligten sind wunderbare Unsympathen, denen man ihre Lächerlichkeit von Herzen gönnt. Stephan Schad als Erbsenzähler, Victoria Fleer als besserwisserische Studentin, Anne Weber als Islamspezialistin, die in einem orgiastischen Ausbruch vom Ultradifferenzierten in hemmungslose Hetze verfällt – es ist ein Vergnügen, diesen Figuren bei der eigenen Demontage zuzusehen.

Gefährliche Selbstgewissheit

Was allerdings auch heißt, dass stillere Momente gnadenlos untergehen. Der überintegrierte Özgür Ekmek (Rainer Piwek) fragt sich einmal, weswegen man sich eigentlich immer integrieren müsse, weswegen man keine zwei Kulturen leben könne. "Ich bin Türke von meinen Eltern her, aber ich bin hier aufgewachsen, bin hier zur Schule gegangen ... Ich bin Hamburger", das ist ein Nachdenken, das über den Witz hinausweist, aber es hat keine Chance gegen den nächsten Knallersong. Wobei Textzeilen wie "Unter meiner Burka / lebt der Li-La-Launebär" wirklich ganz großartiger Blödsinn sind. Auf der Bühne sieht man dann allerdings keine Burka, sondern einen Niqab (Kostüme: Nini von Selzam), was zeigt, wie unbekümmert diese Inszenierung vorgeht und im Zweifel den Gag der Genauigkeit vorzieht.

Unterm Strich ist "Willkommen" also ein etwas zu spät gekommener Rundumschlag, der, wo er schon nicht genau analysiert, in seiner Freude am In-alle-Richtungen-Austeilen zumindest großen Spaß macht. "Willkommen" ist aber auch ein Stück, das aus einer Position der Sicherheit gedacht ist: Man weiß in St. Pauli, dass man auf der guten Seite steht. Bei der Bürgerschaftswahl 2015 erhielt die AfD im Stadtteil gerade mal drei Prozent der Stimmen (und die CDU 4,1), von solch einer selbstgewiss toleranten Warte herab lässt sich leicht lästern. Diese Selbstgewissheit aber ist gefährlich, was sich im Programmheft niederschlägt. "Wer Ängste offenbarte angesichts des Zustroms aus anderen Kulturen, wurde gnadenlos ins rechte Lager gedrängt", behaupten Theaterleiter Ulrich Waller und Regisseur Wittenbrink da, was angesichts einer aktuell ausschließlich angstgetriebenen Politik ein wenig eigenartig anmutet.

Utopie des Weicheis?

Und dann teilen sie gegen die anderen Hamburger Bühnen aus, die das Thema schon deutlich länger bearbeiten: "Betroffenheitstheater, das in Wirklichkeit nur das eigene Gutsein abfeiert, übrigens meist mit Texten von Elfriede Jelinek (...), hat jetzt lange das Feld bestimmt." Mal ganz davon abgesehen, dass tatsächlich nur ein einziger Text von Jelinek zum Thema in Hamburg gespielt wird, Die Schutzbefohlenen am Thalia nämlich, wischt solch ein Satz die unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit Flucht und Migration in den Hamburger Theatern vom Tisch, Schiff der Träume am Schauspielhaus etwa, oder die "Ecofavela Lampedusa-Nord" auf Kampnagel. Alles "Betroffenheitstheater".

Willkommen3 560 OliverFantitsch uHier hat jeder seinen Auftritt in perfider Menschlichkeit: Stephan Schad, Rainer Piwek, Anne Weber, Holger Dexne und Susanne Jansen © Oliver Fantitsch

Am St. Pauli Theater hat sich Franz Wittenbrink dafür entschieden, das Thema politisch unkorrekt anzugehen. Das ist legitim, es ist aber auch gefährlich, gerade wenn man davon überzeugt ist, ein Recht auf Unkorrektheit zu haben, weil man ja zu den Guten gehört. Aber Vorsicht: Noch macht die AfD hier keinen Stich, aber 2001 kam Ronald Schills Partei Rechtsstaatlicher Offensive auch in St. Pauli auf elf Prozent. Allzu sehr ausruhen sollte man sich nicht auf der ausgestellten Toleranz, sonst ist man ganz schnell in der Rolle des sanften Intellektuellen Heinz (George Meyer-Goll), der das eigene Softietum erschrocken als "Utopie des Weicheis" erkennt und plötzlich Angst bekommt, gegen geballte muslimische Maskulinität nichts ausrichten zu können. Jemand wie Heinz jedenfalls dürfte recht bald AfD wählen.

 

Willkommen – Ein deutscher Abend
von Franz Wittenbrink, Textbeiträge von Horst Schroth, Sören Sieg, Ulrich Waller und dem Ensemble
Regie: Franz Wittenbrink, Musikalische Leitung: Franz Wittenbrink / Mathias Weibrich, Bühne: Nina von Essen / Rena Donsbach, Kostüme: Nini von Selzam.
Mit: Victoria Fleer, Holger Dexne, Susanne Jansen, George Meyer-Goll, Rainer Piwek, Stephan Schad, Anne Weber. Musiker: Jan-Peter Klöpfel, Matthias Pogoda, Mathias Weibrich.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.st-pauli-theater.de

 

Kritikenrundschau

Christoph Twickel von Zeit-Online (15.9.2016) lobt zunächst, alles sei an diesem Abend perfekt arrangiert und werde erstklassig performt. Dann folgt ein großes Aber: Ein "Kampf gegen Political Correctness" ein "Theater gegen Gutmenschen und Betroffenheit, Theater für Menschen, die Überfremdung fürchten, aber nicht als rechts oder gar Nazis beschimpft werden wollen", das sei der Job, den sich Wittenbrink vorgenommen habe. Mit diesem Abend habe Hamburg "sein erstes Musical für AfD-Anhänger".

"Liederabend-König Wittenbrink" werfe ein neues satirisch-musikalisches Licht auf eine polarisierte gesellschaftliche Debatte, schreibt Stefan Reckziegel vom Hamburger Abendblatt (16.9.2016). "Ja, dieser 'deutsche Abend' ist politisch unkorrekt, er lebt von Brüchen, inhaltlich und musikalisch, doch gerade dadurch bekommt er Fallhöhe."

Catarina Felixmüller vom NDR (15.9.2016) findet, Wittenbrink schaffe es, ein für jeden kompliziertes Thema von allen Seiten zu beleuchten. "Mal nähert er sich ganz zart der deutschen Seele – oder dem, was er dafür hält, mal holt er den Holzhammer raus." Es werde hier großartig gespielt, "und vor allem auch gesungen". "Gegen Ende geht der Heimatabend unter in einer Tirade von dämlichen, rassistischen Witzen – aber auch die gehören zur Realität."

Monika Nellissen von Die Welt (16.9.2016) lobt, Wittenbrink verstehe es mit "unideologischer Ausgewogenheit" und als "akribischer Rechercheur deutschen Bürokratenwesens" in seiner bösen Revue "paritätisch Hiebe auszuteilen". Das gelingt ihm "beinahe durchgehend glänzend, weil er ein Menschenliebender ist, einer, der nicht verbiestert um sich schlägt, sondern voller Empathie für alle Seiten behauptet: Humor ist, wenn man trotzdem lacht". "Wir fühlen uns bestens unterhalten, sind nachdenklich und tief berührt, wenn am Ende das innigste aller deutschen Volkslieder erklingt, 'Der Mond ist aufgegangen'.'"

Kommentare  
Willkommen, Hamburg: Link
Das gab's doch schon mal.
http://jameslyons.de/archiv/Maedel.htm
Willkommen, Hamburg: peinlich
Eine Plattheit an die andere gereiht und das bei dem Thema,das noch lange nicht abgearbeitet ist.....Peinlichkeiten mit guten Schauspielern!
Willkommen, Hamburg: AfD-kompatibel
obwohl der Autor die doch sehr Eindeutigen Aussagen des Programmheftes bemerkt hat, scheint ihm erschreckenderes ezu entgehen, was für einen rassistischen, AFD kompatiblen Abend er da beigewohnt haben muss. "Die Zeit" war da wachsamer (mein Smartphone verweigert Mir hier, den Link zu Pasten)
Gerade in diesen Zeiten, in denen eine starke neue Rechte auf dem Vormarsch Ist, eine, um mit den Worten des Autors zu sprechen, sehr gefährliche verharmlosung.
Willkommen, Hamburg: Bemerkenswert
Bemerkenswert, wie die pc-Gesinnungspolizei versucht auf allen Kanälen diesen Abend anzuschießen und das Publikum, das den Abend begeistert gefeiert für dumm zu verkaufen und die Hamburger Presse, die den Abend fast hymnisch feiert gleich mit. Der erwähnte Zeit-Autor bekommt dafür gerade ordentlich Dresche bei den Kommentaren zu seinem Pamphlet.
Willkommen, Hamburg: @Falk Schreiber
@Falk Schreiber: Haben Sie eine belastbare (idealerweise bundesländergenaue) Quelle für die "praktische Leere" der Turnhallen. Das würde uns helfen.

Und auch wenn ich den Abend nicht gesehen habe, so möchte ich ihm doch in Bezug auf die Vorwürfe in Richtung eines Betroffenheitstheaters beipflichten. Jelinek ist da prominent, nicht nur in Bezug auf Flucht. Und "Das Schiff der Träume" als Argument entgegenzuhalten ist wohl auch eher verfehlt. Gerade dieser Abend zeichnete sich leider durch eine Oberflächlichkeit und Selbstgenügsamkeit sondergleichen aus. Damit ist bei den gegenwärtigen Problemen weder ein Blumentopf noch irgendeine Debatte zu gewinnen.
Willkommen, Hamburg: Wagenburg-Haltung
Christoph Twickel (ZEIT Online) und Falk Schreiber legten schon nach der Premiere den Finger in die Wunde: der Abend hat eine ziemlich deutliche Schlagseite. Statt des angekündigten Rundumschlags arbeitet sich das St. Pauli Theater überraschend einseitig an den zahlreichen Ehrenamtlichen ab, die mit einem gewaltigen Kraftakt dafür sorgten, dass der Höhepunkt des Zustroms der Flüchtlinge im vergangenen Herbst und Winter trotz Verwaltungs-Versagen (Lageso) in halbwegs geordneten Bahnen bewältigt werden konnte.

Am schlechtesten kommt die KuWi-Studentin Sandra (ohne Nachnamen, gespielt von Victoria Fleer) Weg: als Karikatur mit Hornbrille und Wollpulli kräht die Dauernervensäge ständig dazwischen, dass es „Geflüchtete“ heißen muss. Als Popanz wird auch Charlotte Möller (Susanne Jansen) aufgebaut: die Vorsitzende der Initiative ist eine gelangweilte Wohlstandsbürgerin mit ausgeprägtem Alkoholproblem, die den südsudanesischen Asylbewerber vor allem deshalb bei sich aufnimmt, da schwarze Männer so gut bestückt sein sollen.

Wittenbrinks neuer Abend ist vor allem mit dem Holzhammer gearbeitet und setzt zu selten das Florett ein. Es gibt schon gute Gründe für Christoph Twickels Sichtweise, dass dieser Abend AfD-Anhänger erfreuen dürfte. „Dem Wahnkonstrukt vom Gutmenschendeutschland, das von Dresden bis Heidenau besorgte Bürger antreibt, verfällt auch Wittenbrinks Liederabend mit Haut und Haaren. Kurz: Wittenbrink traut sich etwas – Hamburg hat sein erstes Musical für AfD-Anhänger“, schloss er seine Kritik im September. Wie Falk Schreiber gestern konstatierte, lässt der Abend Vielschichtigkeit vermissen, so dass das Ergebnis unterkomplex bleibt.

Nach der gestrigen Vorstellung wollten Regisseur Wittenbrink, Intendant Ulrich Waller und Schauspieler Stephan Schad unter Moderation der NDR-Journalistin Catarina Felixmüller mit den beiden Kritikern diskutieren. Leider versank die Runde recht schnell in persönlichen Angriffen, die Theater-Vertreter verschanzten sich in einer trotzigen Wagenburg-Haltung. Die klügsten und differenziertesten Beiträge kamen aus dem Publikum.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/23/willkommen-revue-zur-integrationspolitik-im-st-pauli-theater-mit-schlagseite/
Willkommen, Hamburg: absurd
Ich war gestern auch auf der Diskussion. Leider kam von Twickel gar nichts neues als die durch nichts auf der Bühne beglaubigte AFD-Affinität des Abends. Daß sich Regisseur und der Schauspieler Stephan Schad sich von ihm nicht mit diesem Totschlagargument AFD einfach in die rechte Ecke drängen lassen wollen, kann ich sogar verstehen, auch wenn sich die Diskussion an dem Punkt etwas verrannte. Aber daß Twickel nicht sehen kann, daß die einzige Figur auf der Bühne, die AFD-Parolen vertritt, vom ganzen Ensemble hochkant von der Bühne geschmissen wird, ist schon ziemlich blind. Differenzierter war da schon Falk Schreiber, der der Spur seiner Nachtkritik treu blieb, die ja durchaus ausgewogener war und von Herrn Kögel hier falsch wiedergegeben wird.
Dass sich die Kritik an dem Abend jetzt bhauptsächlich an einem Programmheftbeitrag hochzieht und an der dort verorteten vermeintlichen Attacke gegen sog. Gutmenschen beschreibt, wie absurd der Diskurs über dieses Thema inzwischen geworden ist. Das war leider auch in der Diskussion zu spüren, die auch wieder einmal verriet, wie weit entfernt voneinander in Deutschland die Linke auf der einen Seite und Humor und Satire auf der anderen Seiten sind. Von Selbstironie ganz zu schweigen. Dario Fo hätte darüber vermutlich einen Lachkrampf bekommen.
Kommentar schreiben