Glück verheißende Untersuchung

von Wolfgang Behrens

Berlin, 17. Oktober 2016. Keine 24 Stunden, bevor ich "Rhizomat" besuche, bekomme ich in meiner Funktion als Kritiker eine Mail mit der Anweisung: "Bitte verraten Sie Ihren Lesern nicht, was die Standarduntersuchung ist und wie man zum Rhizomat kommt." Uff! Das ist ja mal 'ne Ansage. Ich soll also etwas schreiben (denn das möchten die produzierenden Berliner Festspiele ja schon ganz gerne), aber über den Knackpunkt – da sag' mal besser nichts. In zugespitzter Form hätte die Botschaft auch lauten können: "Bitte teasern Sie uns an, aber reflektieren Sie uns nicht!"

Dabei gibt es schon einiges zu reflektieren. Mona el Gammal hat mit Signa Köstler gearbeitet und betreibt eine ähnlich ausgerichtete Form der immersiven Kunst wie diese mit ihrem Performance-Kollektiv Signa. Ein Problem bei dieser Kunst besteht für den Rezipienten darin, dass er sich auf ihre Spielregeln einlassen muss. Das ist – so könnte man einwenden – zwar eigentlich bei jeder Art von Kunst so (Regel Nr. 1 etwa im Theater: Bleib' sitzen und verhalte dich ruhig!), doch bei den Immersiven à la Signa kenne ich die Regeln nicht vorher. Ich halte mich hier also gewissermaßen nicht an die Spielregeln, sondern ich unterwerfe mich ihnen. Denn wenn ich das nicht tue, spuckt die immersive Kunst mich wieder aus und verweigert mir ihre Erfahrung. Also tut man – um des lieben Spieles willen – auch Dinge, die man normalerweise lieber nicht täte (zum Beispiel, um bei ein bisschen etwas von "Rhizomat" zu verraten, mir seltsame Dinge auf den Kopf setzen). In der immersiven Kunst lauert etwas Totalitäres.

Rhizomat3 560 Michael Rudolph uWer spricht denn da? Spricht da überhaupt einer?  ©  Michael Rudolph

Gesundheit, Gleichheit, Glück

Deswegen vielleicht liebäugelt sie auch so gerne mit tendenziell totalitären Fiktionen. Für "Rhizomat", die Eröffnung der neu aufgelegten Reihe "Immersion" der Berliner Festspiele, hat Mona el Gammal nun ihre frühere Arbeit HAUS/NUMMER/NULL, entstanden für den Stückemarkt des Theatertreffens, weiterentwickelt, bei der es auch schon um einen Überwachungsstaat ging. Dieser wird nun auf seine dystopische Spitze getrieben. Im "Institut für Methode" findet sich das Beste aus Orwells "1984", Huxleys "Schöner Neuer Welt", Samjatins Wir und SF-Filmen wie Flucht ins 23. Jahrhundert zu einer sterilen Führungsorganisation amalgamiert, die die 4 Gs ("Gesundheit, Gleichheit, Glück zur Gänze") als streng reglementiertes Menschheitsziel ausgibt. Wer ein Ticket für "Rhizomat" erwirbt, lernt dieses Institut zuerst über eine informationsgesättigte Website kennen und wird dann zur Glück verheißenden Standarduntersuchung geladen.

Und schon begeben wir uns aufs "Achtung, Spoiler!"-Terrain. Ich verrate nun etwas über den Ort: Das Institut für Methode befindet sich – – – im Osten der Stadt. In einem Gebäude. In einem, das wohl auch in früheren Zeiten schon unansehnlich war und seitdem nicht schöner geworden ist. Und ich verrate etwas über die Prozedur der Standarduntersuchung: Man unterwirft sich ihr alleine. Ganz alleine. Kein Geistlicher begleitet einen, kein Freund, kein Arzt, kein nichts. Man ist mutterseelenallein, nur Radio-, Lautsprecher- und Monitor-Stimmen sind mit 4 G-Gesumse zu vernehmen. Sterile Anweisungen und Lichtsignale leiten einen auf rechtem Wege. Bis man – exakt auf dem mit irreversiblen Folgen drohenden Höhepunkt der Untersuchung – von der Welt des Instituts in diejenige des Rhizomats übertritt, auf die Seite des Widerstands nämlich gegen die so doppelplusungut standardisierten 4 Gs.

Heikle Asymmetrie

Was man dann zu sehen bekommt, ist in seiner Detailverliebtheit schon grandios. Die Welt des Rhizomats ist ein Museum der verschwundenen Dinge: Es gibt hier DOS-Rechner aller Generationen, vorsintflutliches medizinisches und chemisches Gerät, längst vergessene Telefontypen, vergammelte Schreibtische (neben denen meiner aufgeräumt aussähe) und Zettel, Zettel, Zettel. Auf denen kann man lesen oder es bleiben lassen. Denn immer bleibt die Unruhe, wie ich von hier in den nächsten Raum gelange. Spätestens, seit ich in sonst auswegloser Lage beinahe an der Bedienung eines Lastenaufzugs scheitere, suche ich überall nach verborgenen Botschaften, wie es wohl weitergehen wird. Was der Kontemplation der fantastischen Raumarrangements doch etwas abträglich ist. Da man auch im Rhizomat-Teil (genau wie im Institut für Methode) auf kein einziges Lebewesen trifft, bleibt der Charakter der Installation latent totalitär. Als widerständiges, selbstgesteuertes Wesen, als Teil des Rhizomats, wird man sich hier wohl schwerlich empfinden. Der visuelle Eindruck indes, das muss man zugestehen, ist äußerst stark.

Am Ende erhalte ich als Kritiker das Privileg, kurz hinter die Kulissen zu schauen. Ich sehe, wie jeder einzelne der Räume, in denen ich mich aufhielt, vom Regie-Team videoüberwacht wurde. Ich sehe auf einem Monitor eine Kollegin von mir, wie sie von einem Fuß auf den anderen tritt und vor dem Gebäude auf Einlass zur Standarduntersuchung wartet. Plötzlich kommt es mir unanständig vor, sie da stehen zu sehen, während sie von mir nicht einmal etwas ahnt. Und ich nehme das als letzten Fingerzeig auf die heikle Asymmetrie zwischen Produzenten und Rezipienten der immersiven Kunst des "Rhizomats".

 

Rhizomat
von Mona el Gammal
Konzept, Szenografie, Regie: Mona el Gammal, Produktion: Dana Georgiadis, Autor: Evol M. Puts, Co-Autor IFM: Juri Padel, Sounddesign: Tom Förderer, Grafik- und Sounddesign: Christian Bo Johansen, Lichtdesign: Michael Rudolph, Screendesign: Tim Stadie, Überwachungs- und Videotechnik: Jens Hallmann, Aufbauleitung: Amina Nouns, Technische Leitung: Hannes Trölsch, Grafikdesign: Rike Will, Website: Oliver Hardes, Michael Bock, Sprecher: Petra Bogdhan, Linda Foerster, Lara Hoffmann, Siri Nase, Rike Will, Oliver Böttcher, Juri Padel, Christoph Twickel, Robert Voß, Dramaturgischer Berater: Henning Fülle.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

 

Mehr lesen? Über das große Eintauchen in Kunst- und Konsumwelten via immersion dachte auch Esther Slevogt nach.
Über Immersion im Kontext von Computerspielen, Theater und Brechts epischer Theatertheorie schrieb Christian Rakow den Essay Die Ritter der Interaktivität. Computerspiele und Theater – Wie die neue Medienkunst die Bühnenwirklichkeit verändert.

 

Kritikenrundschau

"Ein theatrum philosophicum" hat eine durchaus beeindruckte Doris Meierhenrich erlebt, wie sie in der Berliner Zeitung (19.10.2016) schildert. Zwar erzähle das Institut, das Mona el Gammal nahezu perfekt als ein Raumlabyrinth aus totalitäter Ober- und verschwörerischer Unterwelt gebaut habe, selbst wenig − "alles ist nur Spur". Doch sei es, "als balanciere man mit jedem Schritt auf dem kunsttheoretischen Fragenetz, das die 'Immersion' selbst aufspannt. Allerdings: "So intensiv sinnlich das 'Rhizomat' ist, so abstrakt, geradezu leer bleibt es inhaltlich. Allen denkenden, kritischen Input muss der Besucher selbst mitbringen, tut er das nicht, bleibt es nur eine kleine Gruselstunde."

"Nichts für Menschen mit klaustrophobischen Neigungen", warnt Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (19.10.2016). Die Meinungen der Besucher würden von "gruselig", "geheimnisvoll" bis "unwohl" reichen. "Aber das persönliche Empfinden in der Zelle ist nicht entscheidend. Die Provokation liegt darin, dass ungeheuer viel Aufwand getrieben wird, um eine sehr kleine Zahl von Menschen zu nerven oder für ein neues 'Format' zu gewinnen."

Anke Schaefer vom Info-Radio war beeindruckt – vielleicht mehr, als sie wollte. "Alles kann ich anfassen, überall könnte ich stöbern ... wenn ich den Mut hätte." Was Intendant Oberender über die Arbeit sagt –dass man werde angeweht werde von einer anderen zeit, von einer anderen Gesellschaft – stimme so sehr, dass man froh sei, "wenn man irgendwann endlich wieder das Tageslicht sieht".

Der "Rhizomat" stoße nur an, was man an utopischen und dystopischen Bildern schon gesehen hat und mitbringt, schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (31.10.2016). "Schade, dass man ihn nur allein durchqueren kann. Denn zu zweit könnte man sich ständig all die Filme erzählen, die einem auf Schritt und Tritt einfallen."

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