Wie wollt' man die reformieren?

von Dirk Pilz

25. Oktober 2016. Heute nur eine kleine Anmerkung. Es kommt jetzt ja einiges zusammen. Der andauernde Streit um das Volkstheater Rostock, die Verwerfungen in Trier um den Intendanten Karl Sibelius, die sonderbare Ablösung des Schauspieldirektors Mario Holetzeck in Cottbus, der hausinterne Zwist in Potsdam. Die noch immer nebulöse Freistellung von Stephanie Gräve in Bern. Der längst nicht aufgeklärte Finanzskandal am Wiener Burgtheater. Die Debatten um Chris Dercon und Tim Renner im Berliner Theaterstreit. Nur ein paar Beispiele aus einer längeren Liste, und jeder Fall ist anders, sicher. Man dürfe nicht vergleichen, heißt es deshalb immer, alles sei komplizierter als es von außen aussehe. Und der Laie steige ohnehin nicht durch, sagen die Experten.

kolumne 2p pilzAuffallend allerdings, dass von dieser Kompliziertheit immer jene angeblichen Experten reden, die das vermeintlich so Komplexe als Schutzschild vor unbequemen Nachfragen nehmen. So sprechen die Machthaber und Nutznießer des Bestehenden, so sprechen jene, die nichts geändert wünschen, weil jede Änderung ihre Macht und ihr Nutznießertum gefährdet, in Intendantenkreisen genauso wie in den Kritikerzirkeln. Die Verquickungen sind schließlich eng. Man hockt gemeinsam in Jurys und in Kantinen, man will selbstredend auch immer nur das Beste für unser Theatersystem.

Gefährliche Fragen

Aber es kommt jetzt eben doch viel zusammen. Und es wird zusehends nachgefragt. Die Nachfragen zeigen an, dass es Gründe gibt, nachzufragen, und dass die fleißig eingeübten Glaubenssätze nicht mehr tragen. Das Selbstverständliche verliert seine Festigkeit. Geht es den systemverteidigenden Experten um die Sache, den Erhalt des Theaters, oder geht es ihnen vor allem um sich selbst? Warum gibt es diese unsere städtischen Theater überhaupt?

Es ist gefährlich, so zu fragen. Man steht schnell unter Häresieverdacht, man muss befürchten, vom Milieu verstoßen und abgestraft zu werden. Im Übrigen ist ja auch alles, siehe oben, furchtbar kompliziert. Außerdem: Es wird doch emsig gearbeitet in den Theatern. Muss man da ständig von den paar Problemen reden, von Fällen, die einzigartig und unvergleichbar sind?

Das ist nicht neu. Das ist die gewöhnliche Antwort auf jede Kritik. Sie wirkt zusehends jedoch schaler, hilfloser, auch weltfremder. Das Theatersystem wird ja inzwischen von unterschiedlicher Seite in Frage gestellt. Von den Geldgebern, die offenbar immer weniger nachzuvollziehen vermögen, wozu das Geld ausgegeben wird, was zu den aberwitzigsten Konsequenzen führt, in Düsseldorf etwa. Vom Publikum, das seine Erwartungen nicht erfüllt sieht. Und zusehends auch von den Theatermachern selbst, die vor den himmelschreienden Ungerechtigkeiten und Missständen die Augen nicht mehr zu verschließen bereit sind, vor den Gehaltsunterschieden zwischen Schauspielern und Intendanten zum Beispiel.

Vorreformatorische Gereiztheit

Es ist kein bloßer Zufall, dass rebellische Bewegungen wie das Ensemble-Netzwerk und art but fair mehr und mehr Zulauf und Gehör erfahren. Es ist auch keine privatistische Spinnerei, wenn ein Schauspieler wie Shenja Lacher mit großem Aplomb das Münchner Residenztheater verlässt. Aber es ist bemerkenswert, dass es dies überhaupt gibt. Der Theaterbetrieb lebt wesentlich von Angst und Abhängigkeiten, er produziert eher Jasager und Mitmacher als Querdenker und unabhängige Geister. Wer als Dramaturg, Schauspieler oder Kostümbildner nicht seine Arbeit und die Aussichten auf Karriere verlieren will, wird sich drei Mal überlegen, den herrschenden Strukturen kritisch zu kommen; Macht ist  ja nie abstrakt, sondern an konkrete Personen gebunden. Die Not muss entsprechend groß sein, um große Angst überwinden zu können. Gleichzeitig muss die Liebe zum Theater unerschütterlich sein, um von den eigenen Sorgen und Sehnsüchten abzusehen.

Das ist die Gemeinsamkeit der Vorkommnisse von Rostock bis Trier: Sie verweisen auf Grundprobleme, die sich vermutlich nur grundsätzlich lösen lassen. Daher diese vorreformatorische Gereiztheit im Theaterbetrieb. Alle wissen, dass ein einfaches "Weiter so!" nicht helfen wird, doch niemand weiß, was kommen soll. Die Phantasielosigkeit ist auch kein Zufall.

"hoffart und übermut"

Man darf ja nicht vergleichen, aber man schaue sich einmal im 16. Jahrhundert um. Es sind der Struktur nach dieselben Fragen, Sorgen, Ängste, Hoffnungen, die sich hier finden, nur nicht im Theater, sondern in der Kirche. 1508 hielt der einst berühmte Prediger Johann Geiler von Kaysersberg im Straßburger Münster eine donnernde Predigt und klagte über "hoffart und übermut" unter den Kirchenleuten, die Kirche selbst sei so "zerrissen" und "verderbt", dass man "inen nicht mer kann zehilff kummen". Es brauche eine "gantze reformation", aber ach: Alle "fechten und streiten wider einander, wie wolt man die reformieren?". Die Antwort fiel dann anders aus, als sich dieser streitbare Mann hat vorstellen können, aber er hat die zu seiner Zeit richtige Frage gestellt: Wie lassen sich die Verhältnisse ändern, damit Kirche wieder Kirche ist und nicht ein zerrissener, verderbter Haufen?

Schon klar, das ist eine sehr eigene Geschichte. Was soll das in Theaterdebatten?

Zur Signatur des gegenwärtigen Theaterselbstverständnisses gehört auch, dass man sich, seine Probleme und seine Errungenschaften für gänzlich einzigartig hält. Auf die Geschichte wird entsprechend hochnäsig geschaut, auf Religions- und Kirchendinge ohnehin. Das ist ein Fehler. Man kann aus der Geschichte durchaus lernen, aus dieser Geschichte zum Beispiel, dass Missstände weder durch Verschleiern noch durch Verleumden verschwinden. Andernfalls wird man zum bloßen Objekt von Veränderungen.

 

Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.

 

Zuletzt schrieb Dirk Pilz an dieser Stelle über den guten Menschen vom Schiffbauerdamm: Claus Peymann.

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