Groteske Schicksalsfäden

von Esther Boldt

Frankfurt, 30. April 2008. Da ist es nun: Das Bild, in dem die Sehnsucht kulminiert. Er steht in ihrem Rücken, seine Hände auf ihrem Bauch, sie hält die Arme weit ausgestreckt. Sie fahren allerdings nicht in den Sonnenuntergang. Hinter dem Paar liegt auch kein Ozean, dort stehen fünf Scheinwerfer auf Stativen und leuchten die Szene aus. Anstelle von Leonardo DiCaprio und Kate Winslet glauben hier Maurice und Henriette, gespielt von Sébastien Jacobi und Sabine Waibel, für eine kurze Ewigkeit an die ganz große Liebe und eine ebensolche Freiheit, mit all ihren süßlich blinkenden Versprechungen.

Aber der Augenblick geht vorüber, der Tag bricht an und hinterlässt nichts, wie es zuvor war. In August Strindbergs "Rausch (Verbrechen und Verbrechen)" feiert der Dramenautor Maurice seinen ersten Erfolg und verliert darüber sofort den Kopf, verbringt die Nacht mit der Freundin seines Freundes, Henriette, und würde auch umgehend seine Frau verlassen, wäre da nicht das gemeinsame Kind – das aber dann plötzlich tot aufgefunden wird. Bühnenbildner und Regisseur Olaf Altmann hat diese Geschichte eines rapiden Aufstiegs und Falls nun in der Schmidtstraße inszeniert.

Gebeutelte Figuren 

Da die Nebenspielstätte des Frankfurter Schauspiels in einer Lagerhalle liegt, hört man draußen Vögel zirpen und Autos vorüber fahren, während Altmann auf einer kleinen Spielfläche die grotesken Schicksalsfäden zusammenzieht. Groß schreibt er dabei die Liebe. Um Verantwortung, um Schuld und Gewissen geht es hier nur am Rande. Das sind Begriffsblasen, die in den Raum geworfen werden, von Sabine Waibels Henriette kulleräugig-ungläubig wiederholt: "Ein Gewissen? Ich weiß nicht, was das ist."

Theatergeschichtlich wurde "Rausch" als Vorzeichen von Expressionismus und Symbolismus gelesen und ebenso mit Becketts absurdem Theater in Verbindung gebracht, einem Emanzipationsschub der Bühnenkunst. Man spürt in Altmanns Inszenierung einen analytischen Willen, der sich aber bald in sein Gegenteil verkehrt. Ein furchtbarer Ernst erhält Einzug und erfasst die gebeutelten Figuren. So wird "Rausch" zur Studie in Hysterie, die sich fleißig bäumt und aufschaukelt und währenddessen über Strindberg stolpert – über seine grotesken Auswüchse, plötzlichen Umbrüche und Klimawechsel, denen bei aller Liebe nun mal nicht mit heiligem Ernst beizukommen ist.

Exorzismus im Scheinwerferlicht 

So läuft sich das Drama denn auch bald auf der leeren Bühne im Scheinwerferlicht heiß. Ab und zu knallt es gewaltig, stürzt Julia Penner als betrogene Gattin Jeanne aus ihren Highheels, die sie doch gerade erst angezogen hatte. Überhaupt werden die Kostüme zum Fetisch, Adolphes Sakko etwa, das Maurice mit wilder Wut, mit Schuhen und einem Stuhl attackiert. Auch noch, als Henriette es längst unter ihr Kleid gestopft hat: Kein Zweifel, hier ist ein Exorzismus im Gange. Am Ende bespritzt Adolphe (Andreas Haase) die beiden mehrfach gefallenen Liebenden mit Wasser aus einem Kanister, als sei es Benzin, während Maurice und Henriette sich keilen, als gälte es, wieder die ewige Liebe aus dem anderen herauszuprügeln. Oder die Unschuld.

Das Als-ob plappert vorlaut aus den Ecken, dass wir hier nur im Theater sind. Trotzdem wird das Drama unerträglich. Ohne dass man allerdings nachher so recht weiß, wie es eigentlich so weit kommen konnte. Mit der Liebe und dem ganzen Theater sowieso. Dann wünscht man sich einen René Pollesch herbei, der an diesem heterosexuellen Liebeshokuspokus einen diskursiven Exorzismus vollzieht, mit Volker Spengler als Gallionsfigur der Sehnsucht auf der Titanic. Das wäre schön gewesen.

 

Rausch (Verbrechen und Verbrechen)
von August Strindberg
Regie: Olaf Altmann, Bühne: Bernd Schneider, Ausstattung: Anne Hölzinger.
Mit: Sébastien Jacobi, Julia Penner, Andreas Haase, Sabine Waibel, Moritz Peters.

www.schauspielfrankfurt.de

Mehr über Olaf Altmann? Hier lesen Sie über die Bühne, die er für Michael Thalheimers Inszenierung Die Ratten am Berliner Deutschen Theater baute. Denn Altmanns abstrakte Bühnen sind für Thalheimers Inszenierungen essentiell. Und hier über Armin Petras' Frankfurter Inszenierung von Einar Schleefs Gertrud, für die Altmann ebenfalls die Bühne entwarf.

 

Kritikenrundschau 

In der FAZ (2.5.2008) schreibt Tilmann Spreckelsen über Olaf Altmanns Inszenierung von "Rausch": Was es mit der Religion in "Rausch" auf sich habe sei in der Frankfurter Aufführung nicht zu erfahren. Dass der tänzelnde Herr im Nadelstreifenanzug "Abbé" heißen solle, müsse man "dem Programmblatt entnehmen"; eigentlich sei er "ein Verschnitt aus einer ganzen Reihe von Figuren". Die Dialoge fänden "gern im Düstern" statt, die wechselnden Paare, allen voran Sébastien Jacobi als Maurice und Sabine Waibels Henriette, gerieten "gern in Rage", es werde gebrüllt, man verkralle sich ineinander, "um jederzeit die Nähe von Begierde und Gewalt zu demonstrieren, Fruchtbarkeit und Mord." Warum Altmann nicht gleich den "Todestanz" inszeniert hat, bleibe unklar.

In der Frankfurter Rundschau (2.5.2008) schreibt Judith von Sternburg: "Rausch" sei ein Beitrag zu "Salonthemen um 1900, die à la mode zu Mysterien überhöht" würden. "Dass wir alle schuldig sind - exemplifiziert an der Frage, ob man in Gedanken töten kann -," sei allerdings "längst ein Allgemeinplatz." Der Reiz von "Rausch" liege darin, dass es eine Geschichte, in der sich die Ereignisse überschlagen, in Manier eines Konversationsstücks erzähle. Man könne das "banal nennen", aber es sei auch "grandios bizarr". Olaf Altmann lasse es in seiner Inszenierung "allerdings gar nicht so weit kommen". Sein Einblick in die "Komödie" konzentriere sich "auf den Dichter und die femme fatale". Der "sardonische Humor" des Autors übertrage sich "eins zu eins auf die (an sich naiven) Figuren", die "abgebrüht" erschienen. Insgesamt wirkten die "drastischen Kürzungen, das körperbetonte Spiel, das viele der beizenden, expressionistisch verqueren Dialoge ersetzt", eher "mutlos als konsequent."

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