Presseschau vom 5. November 2016 – Christopher Schmidt kommentiert in der SZ das Ausscheiden von Brigitte Hobmeier aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele

Wider den Paradigmenwechsel

Wider den Paradigmenwechsel

5. November 2016. In einem Kommentar für die Süddeutsche Zeitung (5.11.2016) versucht Christopher Schmidt, das Ausscheiden von Brigitte Hobmeier aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele, das die Süddeutsche Zeitung selbst vor zwei Tagen eingehend thematisiert hat, in die aktuelle Theaterentwicklung einzuordnen. "Die Empörung, die der Verlust von Brigitte Hobmeier auslöst, hängt auch damit zusammen, dass München zum Modellfall zu werden scheint für einen Paradigmenwechsel im Theater."

Der gemeinte Paradigmenwechsel ist die Ersetzung des Schauspielfachs alter Prägung, in dem sich die Akteure mit der "Kraft der Figurengestaltung" ihren Stoffen nähern, durch den Performance-Stil, in dem Spieler auf die Repräsentation von Zuständen und die Verkörperung von Figuren verzichten.

Schmidt plädiert  gegen die Ablösung des einen Stils durch den anderen und für ein "Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Spielweisen" und die "Polarität gleichberechtigter Standpunkte". Aus seiner Sicht wäre es "falsch, die Ausdrucksformen des Theaters gegeneinander auszuspielen und ihnen eine Fortschrittsdynamik zu unterstellen – hier die glorreiche Innovation, dort die Beharrungskräfte des Althergebrachten, das es zu überwinden gilt."

(chr)

 

Kommentare  
Presseschau Hobmeier II: längst Auslaufmodell
"Es wäre seltsam, wenn jene Kraft der Figurengestaltung, die wir beispielsweise im Kino auch nicht missen möchten, auf der Bühne zum Auslaufmodell würde." - Das ist meiner Ansicht nach der zentrale Satz in Schmidts Text. "Seltsam" ist vor allem der Konjunktiv "wäre...würde" - längst nämlich ist, was da konjunktivisch geahnt und befürchtet wird, eingetreten. "Jene Kraft der Figurengestaltung", die uns "im Kino" noch begegnet, ist "auf der Bühne" bereits "zum Auslaufmodell" geworden. Dafür gibt es Gründe. Es wäre seltsam, wenn sie nicht zur Sprache kämen.
Presseschau Hobmeier II: erfolgreich im Rausekeln
Genau so ist es ja, wie Schmidt das definiert, aber dann doch nicht als Realität akzeptieren will: Die "glorreiche Innovation" übernimmt den Laden, nicht mehr nur an "Spielorten" wie Industrieruinen und Schuppen, sondern in den herkömmlichen Theaterbauten. In den Kammerspielen sind die Systemüberwinder ersichtlich höchst erfolgreich im Rausekeln ganzer Besucherschichten (die man als reaktionäres Pack ewig Gestriger sowieso nicht mehr bespaßen will), und setzen Zeichen: nämlich Zeichen für das bevorstehende Ende des tradierten Theaterverständnisses. Das ist nun w
Bereits weit fortgeschritten verwirklicht. Zweifellos ein Phyrrus-Sieg, denn sie zerdeppern glorreich progressiv auch gleich die satt gefüllten Geldtöpfe, die ihnen noch zur Verfügung gestellt werden. Eine Wette: in zehn Jahren gibt es die Hälfte dieser Kästen nicht mehr; sie sind umfunktioniert zu Mehrzweckveranstaltungsstätten, und die Performance-Künstler dürfen sich in rotten Fabrikhallen ausleben - dann allerdings echt der Not gehorchend.

Was diese Performance-Kunst gleich mit auf die Müllhalde kippt, ist eine menschliche Möglichkeit, seit Plato und Aristoteles als Urphänomen verstanden: Die Möglichkeit der Mimesis. Als Einfühlungstheater, als So-tun-als-Ob-Theater, als Gestus-Theater zwischen Naturalismus und Symbolismus immer wieder anders definiert und ausgeübt, aber immer der Grunderfahrung verhaftet: In der mimetischen Nachahmung des Anderen von sich und dem anderen zugleich zu erzählen - der Beruf des Schauspielers als nur dem Menschen gegebenes empathisches Potential. Gegen die Mimesis führt das neue Nicht-Mehr-Theater, Nicht-Mehr-so-tun-als-Ob-Theater die"Authenzität" an - als das Wahre und Echte gegen das küntliche Getue. Werch ein Illtum! (Jandl). Authentizität auf jeder Art Bühne oder Veranstaltung ist eine Pose - zum Glück für die Authentizitäts-Poseure: Wären sie so authentisch, wie sie behaupten, könnten sie Romeo und Julia leider nur ein einziges Mal spielen.

Der Gestus der Authentizität stellt -gegen den der Mimesis - das eigene Ego in den Mittelpunkt. Seht her, ich bin. Ich bin auch wer. Nicht mehr: ich spiele jemanden. Das ist verlogen - aber ich bin wahr, wenn ich nur ego-sum darstelle. Der Schauspieler als Versteller oder als Verwandler (mit allen Zwischenstufen zwischen diesen Polen der geworden: er Schauspielkunst) ist da vollkommen überflüssig geworden: Er will nämlich lügen und nennt es Kunst. Die Neuen Authentischen hassen Kunst, weil sie "wahr" und "echt" sein wollen. Und lügen dabei grandios - nämlich sich selber in die Tasche. Und beerdigen damit die Schauspielkunst des Sich-Verwandelns ebenso wie Möglichkeit, sie überhaupt noch auszüben.

Halt! Doch, es gibt sie noch - diejenigen mit der alten Als-Ob-Kunst - sie haben nur die Plattform gewechselt. Sie sind jetzt im Kino. Und werden ob ihrer Kunst weiterhin bewundert und werden gebraucht - um immer wieder Splitter der conditio humana darzustellen.
Nur dort, wo sie mal herkamen, im Theater, werden sie nicht mehr gebraucht. Und da kündigen sie.

Gehen die Authentizitäts-Darsteller eigentlich nie ins Kino?
Presseschau Hobmeier II: Bankrotterklärung
Die Plattform der Films ist verschieden von der des Theaters. Die Verwandlung, die während sie stattfindet vom sich Verwandelnden in Echtzeit mitdargestellt werden muss - was die eigentliche KUNST an der Schauspielkunst ist, wird im Film vom Move geschluckt. Die Verwandlung, die gemachte, durch und beim Darstellen erzielte, wird zerstückelt in Einblicke der vollendeten Sensation. Buchstäblich passend zurechtgeschnitten. Das sind alles technische Vorgänge, die Schauspiel-KUNST ersetzen und als vorausgedachte Vorgänge zu einer eigenständigen Kunst sich herangebildet haben. Zur Film-Kunst eben. Die ohne Schauspieler, die ihre eigentliche Kunst zerstückeln zu lassen bereit sind, noch nicht ganz auskommt. Aber zunehmend. Es gibt bereits Kunstfilme, die vor der Kamera beinahe menschenlos funktionieren, indem sie menschenlose Orte als ästhetische Verwüstung in Stimmungsbilder bringen... Und es gibt "liebevoll" organisiert totalitäre Bühnenräume, die nur noch von einem einzelnem Besucher gegen Entgeld betreten werden, der mit der Erfahrung, die er dort macht allein bleibt, wenn er sie nicht öffentlich kommunizieren kann.
Unmenschlicher geht Theater nach der Digitalen Revolution eigentlich nicht mehr. Es heißt dann Immersion. Aber es ist in Wirklichkeit eine Bankrotterklärung des Theaters gegenüber dem Staat... Wer liebt hier wen oder was, um solche Bühnenräume zu gestalten, wer s p i e l t hier was für wen???
Presseschau Hobmeier II: Weissagung
Weissagung des Pierre Brice:
"Erst wenn der letzte Schauspieler gekündigt,
die letzte Subvention gestrichen,
das letzte Theater geschlossen ist,
werdet Ihr merken, dass man Performance-Kunst nicht essen kann.“
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