Programm für ein Schloss, das ein Palast des Wissens, der Forschung und der Künste für alle ist, bei dem Leibniz ausrufen würde: Ein Theater der Natur und Kunst!

von Stefan Schmidtke

Berlin, 7. November 2016. In meinem Berufsleben als Festivalmacher war es nicht ungewöhnlich, 250 und mehr Tage pro Jahr in der Welt unterwegs zu sein. Allein. Aus jährlich etwa 350 gesehenen Vorstellungen, Begegnungen und natürlich vielen geführten Gesprächen, entwickelt sich ein Programm. Es entspringt keiner These, es entsteht aus dem, was ich in der Theater- und Performance-Welt vorfinde, es setzt sich aus Kunstwerken, der Verarbeitung individueller Erfahrungen und Reflexionen von Künstlern zusammen.

Seit kurzem ist in meinem Leben etwas anders geworden: Ethnologinnen, Archäologen oder auch Altertumswissenschaftlerinnen führen mich durch Magazine und durch die Berliner Sammlungen. Ich besuche den Botanischen Garten und das Botanische Museum, das Stadtmuseum und treffe auf Kunsthistoriker und Kuratorinnen. Ingenieurinnen führen mich über die gigantische Schloss-Baustelle in der Mitte der Stadt, mühen sich redlich, mir all die Details am Bau des Humboldt Forums zu erklären. Korridore, Empfangshallen, Ausstellungssäle und Multifunktionsräume nehmen Gestalt an – alles Säle, in denen es ab 2019 Veranstaltungsprogramm geben wird. Dafür bin ich zuständig.Humboldt Box 560 DavidvonBeckerStaatsministerin Monika Grütters mit den Gründungsintendanten des Humboldt Forums,
Horst Bredekamp, Neil MacGregor und Hermann Parzinger (v.l.n.r.), in der Ausstellung
"Extreme! Natur und Kultur am Humboldtstrom", 1. November 2016.
© Humboldt Forum Kultur GmbH / David von Becker

Mache ich Festival, sind die Auswahl und die Konzentration dramaturgisch (meist auch kontrapunktisch) angeordneter Kunstwerke die größte fachliche Herausforderung. Doch es gibt eine Welt jenseits der mir bekannten Festivals, die mich zunehmend interessiert und die in den Fokus des Humboldt Forums rücken soll. Sie lässt sich mit herkömmlichen Begriffen der Theater- und Performance-Welt nicht fassen.

Transzendente Performances: Feste, Zeremonien, Prozessionen

Ob Time-Based Art Festival in Portland, Kuityattam im Dschungel von Kerala, Butho Dance in Japan, Ta'ziah in Iran, Volksfest mit deutscher Marschmusik auf Samoa, ein Besuch bei den Kwanlin Dün First Nation in Yukon oder Teyyam in Indien: Auf meinen Reisen erlebe ich eindrückliche spirituelle Ereignisse, ich erlebe Feste, Zeremonien, Prozessionen, die sich meist nicht nur strikt-künstlerischer Betrachtung entziehen, sondern auch wegen deren Form und Dauer keinen Platz in Kunst-Festivals finden. Und das – um einen Widerspruch deutlich zu machen –, obwohl sich Festivals in Europa immer mehr "happenings" aus Sub- und Popkultur, Clubs und auch aus der Szene von Queer und Body Politics öffnen, manchmal also auch Fest sind, Installation, Zeremonie oder auch Prozession.

Weitergedacht sind solche bewussten Wechselspiele mit den Grenzen von Wirklichkeit und künstlerischer Fiktion Versuche, Ästhetik in einem umfassenden Sinn wirkmächtig werden zu lassen, als Betrachtung der menschlichen Sinneswahrnehmung (Aisthetik), die alles einschließt, was unsere Sinne beschäftigt, in uns Empfindungen und Gefühle entstehen lässt und auf solchen Wegen unser Bewusstsein prägt. Was nicht Erklärung, sondern Erfahrung von Welt bedeutet, und hier nun Anstoß zu meiner Arbeit gibt, zu untersuchen, ob diese aus dem Immanenten schöpft – und ob es eine Art von Transzendenz gibt.

Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind

Das künftige Humboldt Forum entsteht aus dem Zusammenwirken verschiedener Akteure. Unter einem Dach sollen Wissenschaft, Sammlung und Forschung, Kunst und Bildung einen gemeinsamen Resonanzraum bilden. Das Programm wird Verflechtungen herstellen, sie sollen über künstlerische hinausgehen.Muschel 560 EthnologischesMuseumStaatlicheMuseenzuBerlinWomit sich Stefan Schmidtke (auch) beschäftigt: Spondylus-Muschelschale (Peru, bei Lima)
© Ethnologisches Museum – Staatliche Museen zu Berlin

Im Moment habe ich mich damit zu beschäftigen, was Spondylusmuscheln und Baumwolle, Guanotölpel und Pfeifen aus Ton miteinander verbindet. Was verbirgt sich hinter all dem? Wie erzählt eine rein materielle Welt? Können Objekte "zum Sprechen gebracht" werden? Ist nicht ihre Zuordnung zu performativen Aspekten wie Tanz und Theater, oder auch Musik, Film oder Literatur schon oft praktiziert worden? Fragen stehen immer am Anfang der Konstitution einer sich völlig neu erfindenden Institution: Das Humboldt Forum birgt die einmalige Chance Metaphysik im materiellen Glanz spürbar werden zu lassen, den Reichtum von Widersprüchen aller Art aufzuführen. Bei Leibniz gibt es dazu den wunderbaren Gedanken an ein "Theater der Natur und Kunst".

 

Stefan Schmidtke 280 Sebastian Hoppe© Sebastian HoppeStefan Schmidtke leitet seit August 2016 den Bereich Programm und Veranstaltungen der Humboldt Forum Kultur GmbH. Er studierte Regie an der Russischen Theaterakademie RATI-GITIS in Moskau und war ab 1996 an der Baracke am Deutschen Theater in Berlin engagiert. 1999 ging er an das Omsker Schauspielhaus in Sibirien und leitete ein Festival deutschsprachiger Dramatik in St. Petersburg. Seit 2001 künstlerischer Leiter der Reihe "forumfestwochen ff" der Wiener Festwochen unter Luc Bondy. 2007 und 2008 Leiter des Festivals Theaterformen in Hannover und Braunschweig. Von 2011 bis 2014 gemeinsam mit Almut Wagner Leitender Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus unter Staffan Valdemar Holm, seit 2014 Schauspielchef und Chefdramaturg der Wiener Festwochen unter Intendant Markus Hinterhäuser. Als Kurator im Team von Intendant Tomas Zierhofer-Kin, wird Stefan Schmidtke noch die Neustartausgabe der Wiener Festwochen 2017 begleiten.

 

Presseschau

"Will das Humboldt-Forum weder Ethno-Arena noch Folklore-Rummel sein, muss es jenseits seiner Vitrinen große Kunst ermöglichen", kommentiert Dorion Weickmann diesen Text in der Süddeutschen Zeitung (9.11.2016). "Es muss Residenzen einrichten, Stipendien vergeben, Koproduktionen machen. Mit Künstlern wie Akram Khan, Dada Masilo oder Brett Bailey, die längst zwischen den Kulturen arbeiten."

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