Ein digitaler Raum, was sonst?

von Esther Slevogt

8. November 2016. Unsere Theater verstehen sich gerne als die letzten Schauplätze bürgerlicher Öffentlichkeit, die noch nicht von marktorientiertem Denken geprägt und von Wirtschaftsinteressen privatisiert worden sind. Unter diesem Denken hören Orte nämlich auf, öffentlich zu sein; nur merkt man es manchmal nicht gleich. Privatinteressen (und nichts anderes sind Wirtschaftsinteressen) drohen inzwischen alles platt zu machen, was nicht unmittelbar monetarisierbar ist beziehungsweise einer Monetarisierung im Wege steht. Auch staatliche Einflusssphären werden unter diesem Druck zunehmend aufgeweicht.

kolumne 2p slevogtDoch in dieser auf Leistung, Erfolg und Profit getrimmten Welt leiste sich die Gesellschaft mit dem Theater noch immer einen Ort, der mit der Tragödie immer wieder das Scheitern in den Mittelpunkt stellt, wird zum Beispiel der Dramaturg Carl Hegemann nicht müde festzustellen. Das Theater gehört aus seiner Sicht zu den ganz wenigen Institutionen der Gesellschaft, die in ihrem "Kerngeschäft" nicht dem Kalkül, nicht dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfen sind. Dieser Logik zufolge sind die Antriebe des Theaters also nicht ökonomischer Natur, statt dessen leistet sich die Gesellschaft "einen Ort grenzenloser Freiheit, in dem 'wir von allem, was Zwang ist, im Physischen wie im Moralischen, befreit sind' (Schiller)."

So weit, so Hegemann. Die Frage, inwieweit dieses euphorische Bild, das ein Theatermensch hier vom Theater zeichnet, mit der Theaterwirklichkeit übereinstimmt, soll hier erst einmal nicht weiter erörtert werden.

Von etwas anderem als dem Konsum erzählen

Unbestreitbar ist: In Zeiten, da Theater auf innenstädtischen Filetgrundstücken längst zu Spekulationsobjekten geworden sind – siehe die Berliner Ku'damm-Theater, aber auch das Düsseldorfer Schauspielhaus, das der Oberbürgermeister der Stadt plötzlich abreißen und ganz woanders wieder aufbauen wollte, um über den kostbaren Grund am Rande der teuren Düsseldorfer Shoppingmeilen Königsallee und Schadowstraße (wo jetzt noch der 1970 eingeweihte, berühmte wie sanierungsbedürftige Theaterbau von Bernhard Pfau steht) anders und renditeträchtiger verfügen zu können – in Zeiten also, wo die Menschen in ihren Städten eigentlich nichts anderes mehr tun können sollen als einkaufen und konsumieren, gibt es gute Gründe, die Theater als Orte zu behaupten, die von etwas anderem als dem Konsum erzählen, der das Individuum zunehmend formatiert.

"Der nicht dem Konsum und dem Renditeversprechen gewidmete öffentliche Raum, der Raum der direkten Begegnung wird immer kleiner; es gilt ihn zu verteidigen", hat es kürzlich der neue Intendant des plötzlich in Frage gestellten Düsseldorfer Schauspielhauses, Wilfried Schulz, formuliert.

Die digitale Bühne als ziviler Raum

Aber gilt das, was für den analogen Raum gilt, nicht auch für den digitalen Raum? Denn stärker noch als der städtische Raum ist das Netz von den privatwirtschaftlichen Interessen der Konzerne strukturiert, denen die Plattformen gehören, die wir für die Schauplätze unserer digitalen Öffentlichkeit halten. Dafür, dass uns dort Aufenthalt gewährt wird, bezahlen wir mit dem, was einmal das Gegenteil von Öffentlichkeit war: mit unserem Privaten nämlich. Unsere Daten werden abgesaugt, weiterverkauft und gespeichert. Hier hat nicht einmal der Staat noch Zugriff, gibt es keine Rechtswege, die von oder vor staatlichen Organen einklagbar oder nur steuerbar wären. Müssten unsere letzten Helden bürgerlicher Öffentlichkeit, also die Theater, es deshalb nicht längst auch als ihre Aufgabe betrachten, im Netz ebenfalls einen nicht renditeorientierten und wirklich zivilen Raum zu etablieren?

Doch wenn Theater über digitale Bühnen nachdenken, dann allerhöchstens als Distributionskanäle für ihre Produktionen, als Mediathek für Abgespieltes und als Archiv, wo die Flüchtigste aller Kunstformen zumindest digital dingfest gemacht werden soll. Und als elektronischen Leporello und Marketingtool sowieso.

Theater muss Orte schaffen, auch im Netz!

Die Internetseiten der Theater sind hermetisch gegen Zuschauerbeteiligung abgeschirmt. Das Interaktivste was dort in der Regel möglich ist, ist der Kartenkauf. Damit bieten aber Theater, die immer so stolz auf ihre Nichtmarktorientiertheit sind, auch nicht mehr als ganz normale Internethändler. Doch Theater, das keine Orte mitdenkt, an denen das Publikum noch etwas anderes sein kann, als Kunstkonsument und Frontalunterrichtsempfänger, ist kein wirkliches Theater.

Man schaue bloß mal auf die Theaterarchitektur des 19. Jahrhunderts mit ihren weitläufigen Foyers, Treppenhäusern und Wandelgängen. Hier hat das Bürgertum einmal die repräsentative Demokratie gelernt und eingeübt, die es im Netz-Age gerade wieder zu verlernen droht. Theater sind Erfahrungsräume der Demokratie, schreibt der Dramaturg Harald Wolff in einem Beitrag zur Stadttheaterdebatte. Das könnte auch für das Theater im Internet gelten. Wäre es deshalb nicht ein Zukunftsprojekt, wenn die Theater ihre Internetseiten zu Social-Media-Plattformen ihrer Städte ausbauen würden? Und die Leute dann eines Tages statt bei Facebook oder Instagram auf den Internetseiten ihrer Theater leben würden? Aber das ist wahrscheinlich nur ein Kolumnist*innentraum.

 

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Außerdem ist sie Miterfinderin und Kuratorin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt schrieb Esther Slevogt in ihrer Kolumne über gescriptete und andere Realitäten.

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