Rückkehr des Pathos-Theaters

von Hartmut Krug

Berlin, 30. April 2008. Man hätte es bei dem der Aufführung vorausgehenden theaterwissenschaftlichen Vortrag belassen sollen. Denn Mythen sind langlebig, aber nicht immer lebendig. "The Brig", mit dem das Living Theatre am 15. Mai 1963 seinen Ruhm begründete, erwies sich bei seiner Rückkehr nach 44 Jahren an den Ort, an dem es 1964 zum ersten Mal in Deutschland gastierte, als Lehrbeispiel dafür, wie zeitgebunden Theatermittel sind und wie sehr sich unsere Theaterformen und Wahrnehmungsweisen verändert haben.

Schon die Uraufführung des Stückes von Kenneth H. Brown, das vor dem Hintergrund von Rassenunruhen, Kuba-Krise und Vietnam-Protesten auf großes inhaltlich-ideologisches Einverständnis traf, war weniger als Theater denn als Akt der Rebellion verstanden worden. Zwar wurde immer wieder betont, dass hier gegen ein vorherrschendes Sprech-Theater ein von Antonin Artaud beeinflusstes neues Theater der puren Körperlichkeit gesetzt wurde. Und die Filmbilder, durch die ich diese alte Inszenierung kennen lernte, beeindruckten mich allein durch die schiere körperliche Präsenz der Darsteller. Doch das ist Historie, so verdienstvoll, wie auf der Bühne nicht wieder lebendig zu bekommen.

Kopie der Aufführung von 1963

Wenn nun diese Kopie der alten Aufführung in Zeiten von Guantanamo und Abu Ghraib wiederum zwei Stunden lang die gewalttätigen Drill- und Unterdrückungsmaßnahmen in einem amerikanischen Militärgefängnis nachstellt und nachzuspielen versucht, dann trifft sie zwar auch auf ein einverständiges Publikum, und so verstehe ich den ungeheuren Erfolg, den die Neuinszenierung der 82jährigen Judith Malina bei ihrer Eröffnungspremiere des neuen New Yorker Spielorts der Gruppe im vergangenen Jahr feiern konnte, doch zugleich hat dieses Publikum längst neue mediale Erfahrungen gemacht und avanciertere Formen des Dokumentartheaters erfahren.

Die Bühne ist vom Zuschauerraum durch einen bühnenhohen Stacheldrahtzahn getrennt. Doch während bei der alten Inszenierung das Publikum auf beiden Seiten saß und einen Panoramablick in eine schlimme Welt erhielt, sitzt man jetzt nur auf einer Seite: was man sieht, wirkt gleich nur wie Theater. Die Szene zeigt einen Gitterkäfig mit fünf Doppelstockbetten, darin zehn Gefangene, meist in weißer Unterwäsche, und davor vier geschniegelte Wärter in khakifarbenen Uniformen.

Nachspiel der Wirklichkeit

Gespielt wird ein monotones Ritual der Unterdrückung: die Gefangenen müssen stets in albernen Ententanz-Posen, die Arme hoch angewinkelt und die Knie hochgerissen, hintereinander durch den Raum trampeln. Wollen die nicht als Individuen, sondern als Nummer angesprochenen eine weiße Linie überqueren, müssen sie laut um Erlaubnis bitten: "Sir, prisoner number one requests permission to cross the white line, Sir".

Der Abend besteht vor allem aus diesem unentwegt gebrüllten Satz, aus trampelndem Laufschritt und so kalt selbstverständlicher wie brutaler Prügelei. Fast zwei Stunden lang soll ein Sog entstehen, der den Zuschauer in die Empörung führt und ihm erklärt, dass in einer Armee nicht Menschen zu Verteidigern des Humanismus erzogen, sondern zu potentiellen Mördern konditioniert werden, mit denen jederzeit Krieg möglich ist. Weckrituale, Reinigung mit Besen, Laufschritt zum Waschraum, Schrubben des Bodens und drei kurze Handlungsszenen gibt es: ein Gefangener dreht durch und kommt in die Zwangsjacke, einer wird entlassen und ein anderer neu aufgenommen.

Überdeutliche Wirkungsabsicht

Dramatische Handlung stellt sich nicht her, soll auch nicht entstehen, denn ein Nachspiel von Wirklichkeit soll den Zuschauer emotional packen. Doch was wir sehen, (auch durch moderne Formen dokumentarischen Theaters sensibilisiert, die ihr Material und ihre Darsteller stets während des scheinbaren Spiels zugleich inhaltlich wie formal befragen), das sind sympathische junge Darsteller, die nicht etwas realistisch abbilden, sondern die deutlich und engagiert Rollen spielen.

Das ist oft, statt bedrückend, eher unfreiwillig komisch. Zugleich nervt die rhythmische Monotonie des Rituals in ihrer überdeutlichen Wirkungsabsicht, statt zu bedrücken. Wenn schließlich ein Soldat durchdreht und seine Verzweiflungsnummer spielt, dann feiert Opas schlimmstes Pathostheater seine Wiederkehr. Der Begriff Hyperrealismus, mit dem die Uraufführung gefeiert wurde, traf schon damals auf "The Brig" nicht zu.

Es war ein quälender Abend, nicht inhaltlich, sondern theatralisch quälend. Viele junge Zuschauer gingen in der Pause, die älteren, die diese Gastspielpremiere auch zu einem 68er-Veteranentreffen machten, harrten für ihren solidarischen Applaus bis zum Ende tapfer aus.

 

The Brig
von Kenneth H. Brown, Inszenierung: Judith Malina, Bühne: Gary Brackett.

www.livingtheatre.org

 

Kritikenrundschau

Im Tagesspiegel (2.5.2008) schreibt Jan Oberländer: In "The Brig" passiere wenig bis fast gar nichts. Gezeigt werde die "entmenschlichende Erziehung zum gehorsamen Werkzeug in einer Strafbaracke der US-Marines". 1964 sei diese "von Artauds 'Theater der Grausamkeit' inspirierte Performancekunst neu, hochpolitisch und schockierend" gewesen. Heute käme es auf den Kontext an. Dasselbe stück aufgeführt an Ground Zero unter Transparenten wie "Close Guantanamo Now!" werde zur politischen Aktion. Im Berlin des Jahres 2008 dagegen wirke es "zwar wacker idealistisch, aber vor allem: historisch." Weil seine Mittel nicht mehr funktionierten. Vielleicht aber habe auch das Publikum seine Unschuld verloren: Das öffentliche Bild vom Militär sei ohnehin ein kritisches, und revolutionäre Rhetorik gehe heute nur noch wenigen so leicht über die Lippen wie Judith Malina.

Peter Hans Göpfert schreibt in der Berliner Morgenpost (2.5.2008): Als das Living Theatre 1964 mit "The Brig" in Belrin gastiert habe, sei das Gedränge zwar "bedrohlich für Zehen und Mantelknöpfe" gewesen, aber das Publikum habe "diese hyperrealistische Demonstration militärischen Strafdrills" zwar als "beeindruckend", aber auch als "monoton" empfunden. Den Mythos des Living Theatre habe viel mehr das Gastspiel mit "Paradise Now" sehcs Jahre später im "prallvollen Sportpalast" befördert. Das habe den Zeitgeist getroffen. "Aber es wurde auch tausendfach gegähnt." Der strenge Naturalismus der Aufführung von The Brig verlange "unentwegtes Exerzieren, Großreinemachen, Kleiderwechsel. Zweieinhalb Stunden strapaziöses Stampfen, gellendes Schreien und Melden." Dennoch: "Gegen die Bilder aus der von den Medien vermittelten Wirklichkeit kommt es nicht an. Guantanamo und Abu Ghraib wirken stärker."
 

 In der Frankfurter Rundschau (3.5.2008) beschreibt Tom Mustroph die spektakulärste Szene der Aufführung: "Der Zuschauer blickt auf einen auf der Bühne installierten Käfig. In diesem und um ihn herum kriechen uniformierte Männer mit Schrubbern und Lappen. Sie versuchen fieberhaft, das Wasser auf dem Boden zu verteilen, das andere permanent ausschütten; letztere entleeren ihre Eimer am liebsten in die Gesichter und auf die Körper der Wischenden. Infernalisches Getöse breitet sich aus, weil jeder der Putzenden, sobald er eine weiße Linie überschreiten will, einen Aufsicht führenden Uniformierten brüllend um Erlaubnis fragt. Die Putzkolonne ist zehnköpfig und es gibt viele weiße Linien…" Die Inszenierung habe in den 60er Jahren einen Skandal ausgelöst. Das Theater in New York wurde geschlossen. "Man kritisiert nicht die Marines", hieß es. Das Living Theatre emigrierte nach Europa. 2008 sei das bestialische Potential des amerikanischen Militärapparats hinreichend bekannt. Judith Malina, die die Inszenierung unverändert zeige, gehe fehl in der Annahme, dass die Mittel von einst auch die Mittel von heute sein können. Zwei Dinge immerhin "durfte man lernen". Malina stellte in einer Videobotschaft klar, dass der militärische Drill die "Nachtseite der in Theaterkreisen so hochgeschätzten Biomechanik" sei. Und der Blick in den traditionellen Militärknast erinnere daran, dass jeder das, was er selbst erlitten hat, als normal und regelkonform erachte. Der Ursprung "der Gefangenenmisshandlungen in Abu Ghraib liege demnach im bürokratisch-sadistischen Spiel in den Gefängnissen der US-Marines in den 50er Jahren".

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