Hui, ein Sodom und Gomorra

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 10. November 2016. "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt", singen die jungen Mädchen Thilde und Erika, dirigiert von Hauptsturmführer Wolf von Aschenbach. Die Inszenierung "Die Verdammten" am Theater in der Josefstadt versucht sich am in sich geschlossenen historischen Drama. Dabei kommt die Vorlage zum Abend, der gleichnamige Film von Luchino Visconti, ohne homophobe Hetze oder antisemitische Witzchen aus. Dabei verfällt der Film aufgrund seiner artifiziellen Opulenz nicht in den Versuch, geschichtlich zu sein. Die Bühnenfassung von Ulf Stengl in der Regie von Elmar Goerden gönnt sich keinen solchen kunstvollen Zugriff auf nationalsozialistische Geschichte. Sondern scheint diese vordergründig ernsthaft erzählen, also ohne deutlich gemachten Zugriff ausbreiten zu wollen.

Familie Krupp, diese deutsche Industriellen-Dynastie, lässt sich mit Viscontis Familie der von Essenbecks referenz-lesen. Wirtschaftliche Profitinteressen und Bereitstellung von Waffen für die Kriege Europas sind beim italienischen Filmregisseur Beiwerk eines Melodrams. Da gibt es den Generationenkonflikt zwischen dem Ancien Régime von Baron Joachim, seinem mit der SA verbundenen Sohn Konstantin und dem mit der SS sympathisierenden Parvenü Friedrich Bruckmann. Da gibt es außerdem inzestuöse Begierden, verschwommene Gefühlslagen und vor allem einen queer as queer can be Helmut Berger in der Rolle des Martin, Sohn von Sophie von Essenbeck.

Familienaufstellung à la Hollywood

Die Schauspielerin Andrea Jonasson macht aus dieser Sophie eine aggressive Trunkenheit, die durch ihre saloppe Schlagfertigkeit immer mal wieder für Comic Relief sorgt. Die Beziehung zum Sohn gerät durch diese Setzung zur bloß behaupteten wechselseitigen Abhängigkeit. Auch Alexander Absenger manövriert sich als Martin merkwürdig vital durch die ihn bedrängenden Umstände. Insgesamt ist die Bühnenfassung auf größtmögliche Eskalation aus. Wer da alles noch wen und dann noch jemanden in expliziter Darstellung sexuell nötigt, hui, ein Sodom und Gomorra das.DieVERDAMMTEN2 560 Erich Reismann uLorbeerbekränzt: Alexander Absenger ist Martin von Essenbeck ist Helmut Berger,
Meo Wulf ist Cousin Günther ist Meo Wulf © Erich Reismann

Was im Film verwirrend destruktives Begehren ist, wird bei Stengl zum schnellen Gewaltausbruch. Durch diese Fokussierung auf Sex ähnelt die Bühnenfassung einem auf Aufmerksamkeit getakteten Biopic. Die Geschichte der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie erzählt als eine mit dem Realismus von Hollywood kokettierende Familienaufstellung, das ist in etwa so ungeschichtlich wie die meisten Versuche, Geschichte als psychologisch wahre Geschichten zu erzählen. Die surreale Manieriertheit der Vorlage wird bei Goerden in choreografischen Szenen angedeutet. Etwa wenn alle sieben männlichen Darsteller gleichzeitig Schuhe putzend auf die Bühne kommen. Trotz der vielen eleganten Szenenwechsel, bei denen eins zum ganz anderen führt, oder der präzise gearbeiteten Gruppendialoge bedingt die textliche Reduktion der wirr ausufernden Innenleben der Figuren große Einfältigkeit.

... und dann ist da Meo Wulf!

Die Reduktion der Außenwelt führt aber zum Besten. Ortswechsel und also Umbauten vermeidend, konzentriert sich die Handlung auf die Erlebnisse der Familienmitglieder untereinander. Es bleibt sozusagen die Kamera im Wohnzimmer der von Essenbecks stehen. Dadurch muss Martins Persönlichkeitsentwicklung anders erzählt werden, er verführt in dieser Version seinen Cousin zu einer homosexuellen Beziehung. Deswegen kann die Rolle des Cousin Günther von Essenbeck bedeutender und also Meo Wulf als dieser zum Blickfang der Veranstaltung werden. Wie der seine vom Vater verletzte Hand von sich abspreizt, als ginge es darum, das ganze Stahlwerk von sich weg zu halten. Wie der will und nicht will, wenn es darum geht, Zärtlichkeiten auszutauschen. Wie der in Unterhosen und Lorbeerkranz unbekümmert auf Sesseln hüpft. Und wie der seine ihm aufgezwungene Zukunft bei der SA illusioniert, plötzlich nicht mehr kunstsinniger Cellospieler, sondern schon gnomenhafter Verzweiflungstäter. Da wird aus einem Helmut Berger-Film ein Meo Wulf-Theaterabend.

 

Die Verdammten
nach dem Film von Luchino Visconti in der Übersetzung von Hans Peter Litscher
Fassung für das Theater in der Josefstadt von Ulf Stengl
Regie: Elmar Goerden, Bühnenbild: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Dramaturgie: Barbara Nowotny, Licht: Manfred Grohs.
Mit: Heribert Sasse, Andrea Jonasson, Peter Kremer, Bettina Hauenschild, Peter Scholz, Meo Wulf, Alexander Absenger, André Pohl, Raphael von Bargen, Laura Scholz/Vanessa Fülöp, Calista Berger/Amelie Knoglinger.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.josefstadt.org

 

Weitere Bühnenbearbeitungen der "Verdammten" legten unter dem Titel "Der Fall der Götter" Stephan Kimmig (2011 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg) und Karin Henkel (2008 am Düsseldorfer Schauspielhaus) vor. Die legendäre, mehrfach auch im deutschsprachigen Raum gezeigte Produktion von Johan Simons mit ZT Hollandia kam 1999 in Gent heraus und liegt somit vor der Zeit nachtkritischer Beobachtung.

 

Kritikenrundschau

"Goerdens Inszenierung verdichtet manches aus Viscontis Film geschickt, das Ensemble ist in Bestform", schreibt Christina Böck in der Wiener Zeitung (12.11.2016).  Aus dem Film habe aus dem orgienreichen Sittenbild sein unter Goerdens Regie einen vergleichsweise diskreten Gesellschaftsthriller geworden - "der aber nicht minder heftig als Schlag in die Magengrube endet". Die aktuelle Weltpolitik lasse den kalten Hauch, der diese gelungene metaphorische Familien-Apokalypse durchwehe, noch ein wenig kühler erscheinen.

Von einer "wunderbar gelungenen Aufführung" und "hinreißend-beklemmenden Ensembleleistung" schreibt Ronald Pohl in der Wiener Tageszeitung Der Standard (12.11.2016). Regisseur Elmar Goerden nüchtere den Stoff gnadenlos aus. Anstand, Haltung, Ehre: Alle Tugenden übersetze er in bizarre Handlungen. "Es ist der Unernst der Leistungsethik, der diese Stützen der Gesellschaft für Terror empfänglich macht."

In Erinnerung bleibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung  (14.11.2016) "ein gruseliges, beängstigendes Gleichnis über das Streben nach Macht mit einem durch die Bank hervorragenden Ensemble." Ein Schelm, wer "dabei an aktuelle politische Tendenzen oder gar anstehende oder soeben absolvierte Präsidentenwahlgänge dies- und jenseits des Atlantiks" denke. "Man ließ es sich nicht nehmen, dem grandios-unterkühlt seinen SS-Mann Aschenbach gebenden Raphael von Bargen einen Satz inn den Mund zu legen, den man aus dem laufenden Präsidentschaftswahlkampf in Österreich kennt: 'Ihr werdet euch noch wundern, was alles möglich sein wird!' So kontert der SS-Mann den Vorwurf von Freifrau Sophie von Essenbeck, die Nazis hätten keine Phantasie."

"Würde man das Stück ohne Ton sehen, könnte man meinen, hier werde eine harmlose Salonkomödie aufgeführt", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (15.12.2016). "Tatsächlich handelt es sich um ein eiskaltes Theater der Grausamkeit: jeder für sich und die Nazis gegen alle." So trocken und so gnadenlos wie Goerden und das Josefstadt-Ensemble müsse man das erst einmal hinbekommen.

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