Es gähnt

von Frauke Adrians

Berlin, 11. November 2016. Das klingt aber wirklich mal nach einem Tanztheater für unsere Zeit: "Gegenwart heißt heute Krise", konstatiert das Programmheft zu Laurent Chétouanes neuer Choreographie "Khaos". "Das Chaos scheint nicht mehr nur Ausnahmezustand zu sein, sondern ein gleichermaßen bedrohliches wie unvermeidliches 'Modell' für die Zukunft." Bravo! Da lässt ein Choreograph, wie es scheint, nicht nur den Brexit vertanzen, er hat auch gleich noch den Trump-Sieg antizipiert. Und in der Tat: Die drei Tänzer, die sich da Arm in Arm auf die Bühne des HAU 2 vorwagen, wirken wie gebrannte Kinder der Dauerkrise. Desillusioniert, abgekämpft. Wachsam beäugen sie den Saal und das Publikum, nichts Gutes erwartend. Lösen sich voneinander, durchschreiten den Bühnenraum. Drehen sich, wie von einer fremden Macht gezwungen, um ihre eigene Achse. Strecken die Arme hoch, als müssten sie einen unsichtbaren Wasserball auf der Schulter transportieren. Kreisen umeinander.

Und das tun sie dann, mit kleinen Unterbrechungen, die nächsten anderthalb Stunden lang. Freundlich unterstützt werden sie von drei Musikern, die ein Sitzdreieck bilden und an Flügel, Cello und Geige Bruchstücke von Cage, Rihm und Bach beisteuern. Laut Programmheft haben wir es hier mit Musik zu tun, "die eine Affinität zum Unkontrollierbaren aufweist". Das ist hübsch geschraubt formuliert – und echter Quatsch. Der Konzertbesucher, der in Bachs Partiten für Violine solo etwas Unkontrollierbares – oder gar das Chaos – zu hören meint, müsste wohl noch gefunden werden. Die Allemande und Chaconne aus der Partita Nr. 2, die hier gelegentlich in Fetzen erklingen, sperren sich geradezu körperlich gegen eine derartige Chaos-Theorie. Unkontrollierbar wird es nicht einmal dann, wenn sich in Artiom Shishkovs ausdrucksstarkes Bach-Geigenspiel nach und nach Cage'sche Klopflaute aus Mathias Halvorsens Flügel einschleichen und für eine Weile ganz geordnet das musikalische Feld übernehmen.

Gegengewicht zum Chaos

Die Tänzer bleiben so oder so seltsam unberührt von der Musik, sie legen still und fleißig schreitend mehrere Kilometer zurück an diesem Premierenabend, ohne dass das Publikum erführe, wie das mit dem Chaos oder auch dem im Programmheft umrissenen "Khaos in der griechischen Antike" zusammenhängen könnte. Das Khaos, erfahren wir dort, hat zu tun mit "Gähnen, Kluft, Schlund, Abgrund, Ausdehnung, Unermesslichkeit, Aufbrechen oder Öffnung". Und es rufe "die Dimensionen des Entstehens, des Möglichen, der Erneuerung auf". Die Rede ist dann auch noch von "formloser Form und Streben in Richtung eines anderen, als es schon ist". Stimmt, die Tänzer ändern öfter mal die Richtung – das bleibt wohl nicht aus auf einer Bühne, die nicht unendlich ist.

Khaos3 560 Thomas Aurin u"Khaos" mit sparsamen Mitteln © Thomas Aurin

Eigentlich hätte ein Quartett – eine Frau, drei Männer – das "Khaos" tanzen sollen, aber einer der Tänzer, Bilal Elhad, fiel am Premierenabend erkrankt aus. Ob das viel änderte an der Umsetzung von Chétouanes Choreographie: schwer zu sagen. Fest steht, dass die Zahl drei, hier sogar noch gedoppelt – drei Tänzer, drei Musiker –, das genaue Gegengewicht zum Chaos bildet. Übersichtlicher, harmonischer geht es nicht seit der Erfindung des Dreiklangs und der Dreieinigkeit; es ist, wie bei Bach, alles in schönster Ordnung und muss Chétouanes Intentionen also eigentlich zuwiderlaufen.

Schwer auszuhalten

Aber daran lag es nicht, dass sich dieser Abend so stumpf und reizlos abspulte, allen Bemühungen der Tänzer und Musiker zum Trotz. Es lag daran, dass Laurent Chétouane hier wenig zu erzählen hat und das Wenige dann auch noch quälend lang wiederholt. Da "entsteht" nichts, da "erneuert" sich nach spätestens einer halben Stunde auch nichts mehr. Die gelegentlich an Tai Chi gemahnenden Bewegungsabläufe der Tänzer und das Mit- und Gegeneinander der musikalischen Versatzstücke sind nur noch Zitate dessen, was schon war.

Nichts Chaotisches, auch kein Khaos. Nur wachsende Langeweile, die etliche Zuschauer offenbar so sehr quälte, dass sie den Saal, zum Teil türenschlagend, verließen. Auch noch zehn und fünf Minuten vor Schluss. Das ließ die Tänzer anscheinend nicht unberührt: Es kam zu einer kleinen Kollision auf der Bühne. Wo sie sich doch bis dahin solche Mühe gegeben hatten, auch nur die Andeutung eines Chaos zu vermeiden.

Khaos
von Laurent Chétouane
Choreographie und musikalisches Konzept: Laurent Chétouane, Kostüme: Lydia Sonderegger, Dramaturgie: Marten Weise, Licht: Jan Maertens, Ton: Johann Günther.
Mit: Mikael Marklund, Kotomi Nishiwaki und Tilman O'Donnell (Tanz) sowie Mathias Halvorsen (Klavier), Tilman Kanitz (Cello), Artiom Shishkov (Geige).
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kommentare  
Khaos, Berlin: alles außer Chaos
Das Problem dürfte sein, dass von herausragendem Tanztheater thematisch ALLES choreografiert werden kann - außer Chaos. Weder das mit Ch noch das mit K. Chaos ist einfach eine Ordnung, die als Ordnung im Moment der Wahrnehmung nicht als Ordnung erkennbar ist. Und damit das Gegenteil einer Choreografie. JEDE Choreografie, die Chaos darstellen möchte, kann immer nur ein falsches, ein gefaktes, Chaos darstellen, weil sie eine Ordnung IST. Die einzige Choreografie, die Chaos erfolgreich darstellen kann, wäre eine, bei der die Tänzer sich unabhängig und unbezogen aufeinander nach draußen in den alltäglichen öffentlichen Raum begeben und auf den Zufall hoffend, sich zu begegnen, sich darin wie sie wollen ohne jegliche Festlegung von Körperausdruck durch Dritte frei bewegen... Das ist keine Frage von Kunst, sondern eine der Logik. Das mythische Kaos des hellenistischen Weltbildes kann man eventuell darstellen, aber nur unter Verzicht auf Gegenwartsbezüge.
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