Dilemma der Spätgeborenen

von Tobias Prüwer

Leipzig, 25. Dezember 2016. "Ereignis": Schwarz auf Weiß prangen die Großbuchstaben im Schlussbild auf der Brust der Spieler. Warum sie die Kapuzenpullis falsch herum tragen, bleibt unaufgelöst. "Wir sind dein Ereignis", säuselten sie zuvor sirenenartig, die Kraft von Wort und Inszenierung andeutend. Diese verhält sich in "Grand Prix de la Vision" am Schauspiel Leipzig umgekehrt proportional zur zunehmenden Stücklänge. Zu viel will der Stoff von Laura Naumann, der die Ratlosigkeit der Welt dokumentiert. Ebensolches Gefühl zeigt Regisseurin Alexandra Wilke, die die Uraufführung als Road-Trip ohne Road inszeniert. Ost-Highway: Gelungene Szenen verblassen auf irrlichternder Fahrt über Bischofswerda gen Westen und Weltfrieden.

Das vom Schicksal zusammengewürfelte Quartett ist unterwegs zu einer Casting-Show, wo Kandidaten ihre Entwürfe eines globalen Notfallplans präsentieren. Carla hat eine Drohne zur Friedfertigkeit umprogrammiert. Digital-Native und Troll-Bekämpferin Anna leistet technischen Support. Weil Liebeskummer tollwütige Aktivisten motiviert, ist Skart dabei. Und durch einen dummen Unfall kommt noch Halbgar mit ins Auto, der seiner Familie beim Re-Enactment des Ersten Weltkriegs nicht mehr folgen will. Natürlich gerät ihre Fahrt zur Odyssee mit Hindernissen.

Verheult im Tüllrock

Grundsetting und Auftreten der schrulligen Charaktere gelingt erst einmal gut. Der Text variiert zwischen Erzählpassagen und Dialogen. Die offene Bühne ist u-förmig aus Autositzen gebaut, was die einengende Situation der Fahrgastzelle fürs Spiel auflöst. Dessen Lebendigkeit friert allerdings irgendwann zur Maskenhaftigkeit ein. Brian Völker hat dabei als Halbgar kaum Darstellungsraum. Einmal mehr ist er als weinerlicher Jungspund gebucht, der als Sensibelchen in gelber Strumpfhose eine Spur Gefühl einspeisen soll.

grand prix 02 560 c rolf arnoldCasting-Show mit Kapuzenpullis und Welt-Lebens-Notfallplänen in "Grand Prix des la Vision"
© Rolf Arnold

Verheult im verdreckten Tüllrock kann Runa Pernoda Schaefer nur in den Erzählmomenten ausbrechen. Ansonsten ist sie das Mädchen mit "broken heart", das sich auch mal wütend strampelnd auf dem Boden wälzt. Mehr Freiheiten besitzen die anderen beiden. Zwischen zorniger Entschlossenheit und zerbrechlicher Verpanzerung tritt Anne Cathrin Buhtz' Carla auf. Shari Asha Crosson erfüllt ihre Nerd-Aktivistin Anna mit charmanter Härte. Doch auch bei den Zweien schleichen sich die gestischen Allgemeinplätze ein, nimmt undifferenziertes Schreien zu.

Last Exit: Beliebigkeit

Das liegt vor allem am Text. Thema um Thema wird angeschnitten, der ganze Kosmos links-liberaler Identitätspolitik von der Gender-Selbstdefinition bis zur ironischen Konsumkritik und der Kritik an dieser wird mit Fragmenten überspannt. Ausbuchstabiert oder -artikuliert findet sich davon nichts. Ohne Verdichtung oder Konkretisierung wabert die Grundstimmung des Abends als gefühliges, allgemeines Unbehagen dahin. Übersättigt zur Floskelwolke regnet der Text schließlich nur noch traurige Tropfen Beliebigkeit ab. Szenisch einfangen lässt sich das nicht mehr.

Der eigentliche Schlüsselartefakt Drohne – lächerliches Objekt der Requisite – ist für größere Repräsentativität in einen Orbit aus Metallstreifen verbaut. Allein: Dieses Gehäuse nimmt dem Gerät offensichtlich jede Funktionalität, wenn es da blinkend und piepend wie das goldene Kalb über allen Köpfen baumelt.

Gestus des Andersseins

Die Vier berichten an der Bühnenkante gen Publikum gewandt von Flüchtlingen, die meterhohe Zäune mit Stacheldraht besteigen und Sicherheitspersonal, das sie daran hindert. Hier steigert sich der Vortrag kurz zu fieser Intensität. Doch sogleich zerstört eine die Szene illustrierende Projektion alle Kraft, dann erweist sie sich das Geschilderte als Musik-Video.

So sieht auch Alexandra Wilkes Inszenierungsstil insgesamt aus. Mal ein eingespieltes Lied und ein live performter Rap, beim "Trauer-Burger"-Kauen in der Autobahnkirche kommt ein "Sanctus" aus dem Off. Neonfarbene Sturmhauben zitieren Pussy Riot und Revolution. Ob allen Unbehagens an der Kultur igelt man sich hier genüsslich ein in der Lust an ironisch missverstandener Albernheit. Kann man machen, nur so fresh wirkt die in die Jahre gekommene Indiepop-Haltung halt nicht mehr. Der konventionelle Gestus des Andersseins ist ausgereizt: Aus diesem Dilemma der Spätgeborenen finden Stoff und Umsetzung keinen Ausweg.

Event statt Ereignis

Hinzu kommt die Fallhöhe des Textes. Der raunt selbst vom Ereignis, das Programmheft sekundiert mit dem Ereignis-Denken des Philosophen Jacques Derrida. Nur erreichen Stoff und Inszenierung diese Messlatte nicht. Das Ereignis tritt als Bruch hervor, es sprengt den Erwartungshorizont – ereignet sich. Als nicht vorhersagbares revolutionäres Geschehen zeigt es sich im Kairos, im günstigen Moment. Man kennt das im Theater: Nicht nur die antiken Tragödien handeln davon. "Grand Prix de la Vision" ist aber kein Ereignis, sondern auf Kurzweil programmiertes und durchgezogenes Event. Hier überwältigt nichts. Der Theatervielgucker entdeckt Bekanntes auf ausgelatschten Pfaden, Gelegenheitsbesucher viel mehr Amüsierendes. Dieses Event vermag zu unterhalten; vermag.

Grand Prix de la Vision
von Laura Naumann
Uraufführung
Regie: Alexandra Wilke, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Agathe MacQueen Dramaturgie: Christin Ihle, Licht: Jörn Langkabel.
Mit: Anne Cathrin Buhtz, Shari Asha Crosson, Runa Pernoda Schaefer, Brian Völkner.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"Ein Stück, wie eine Dönerbuden-Bestellung", konstatiert Dimo Riess von der Leipziger Volkszeitung (28.11.2016). "Was an Aktualität und Gegenwartsdebatte (...) greifbar ist, wirft die Inszenierung in einen Topf." Der Text beschreibe hübsch Oberflächen, traue sich aber letztlich nicht in die Tiefen der selbstgestellten Fragen. Die Spielführung lasse immer wieder lieber behaupten, als spielen. Der Abend lohne sich dennoch, weil er trotz seiner Überfachtung als unterhaltsame Satire auf die Gegenwart lesbar bleibe.

"Ganz spannend" findet Hartmut Krug von Deutschlandradio Kultur (27.11.2016) den Abend. Die Figuren seien Verkörperungen einer Medienwelt, seien "Medienfiguren". Es werde sehr expressiv, intensiv und mit viel Lust gespielt.

Wolfgang Schilling kommentiert für MDR Kultur (26.11.2016), Laura Naumann bringe das Lebensgefühl ihrer Generation, der heute um die 30jährigen, auf den Punkt. An dem Abend nähmen die vier Protagonisten den Mund sehr voll, würden  von der Regisseurin Alexandra Wilke aber leider nicht dazu gepusht, um ihr Leben zu spielen. "Die Haltung dahinter ist eher die, wir machen da mal ein Projekt. Und so stehen sie am Schluss der Inszenierung ein bisschen unbeholfen rum."

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