Sterbt langsam

von Elske Brault

Karlsruhe, 16. Dezember 2016. Man hätte das stilvoller erledigen können. Mit einer gedruckten Einladungskarte beispielsweise. Lucys Mutter jedoch ruft Lucy einfach in deren Firma an, um sie zur Beerdigung einzuladen. Die Mutter nämlich, schwarze Glacé-Handschuhe, darüber Brilliantringe, hat beschlossen, aus dem Leben zu scheiden. Zweihundert Freunde und Verwandte kommen zu ihrer letzten Feier. In einer schönen Rede lässt Lucys Mutter die Vergangenheit noch einmal Revue passieren, verabschiedet sich von Weggefährten. Dann ein paar Atemzüge aus dem Giftinhalator, und ab ins Krematorium. Regisseurin Marlene Anna Schäfer lässt dazu pinkfarbenes Konfetti werfen. Schöner sterben, made in Utopia.

Eigentlich ist alles perfekt: Lucy lebt mit ihrer dunkelhäutigen Frau und dem gemeinsamen Kind in einer offensichtlich multikulturellen, multisexuellen Welt. Der Mensch ist dort frei von Vorurteilen und Zwängen, hat auch genügend Geld für ein angenehmes Leben: Lucys Vater nutzt die Freiheit als Witwer sofort für Tauchkurse in der Karibik und Kreuzfahrten rund um den Südpol. Nur sterben muss der Mensch nach wie vor, irgendwann. Damit dies kurz und schmerzlos geschehen und wie alles andere der eigenen Entscheidung unterworfen sein kann, wird der Giftinhalator gleich bei der Geburt mitgeliefert. Und selbstverständlich von den treu sorgenden Eltern weggeschlossen, bis das Kind volljährig ist.

"Schon vorbei, Schatz"

Konstantin Küspert spielt in "Sterben helfen" verschiedene Varianten des kontrollierten und erwünschten Tötens durch: Lucy bekommt Krebs, ist aber schwanger. Um die Chemotherapie zu beginnen, wird zuerst der Fötus abgetrieben. Lucys Frau Fruor (Sithembile Menck) kommentiert das vom Bühnenrand aus, sie hat offenbar das erste gemeinsame Kind ausgetragen: "Wenn ich mir vorstelle, dass Bellerophon auch in einem medizinischen Staubsaugerbeutel hätte landen können, wird mir ganz schlecht." Aber so etwas sagt frau natürlich nicht einer Partnerin, die ohnehin gerade mit einer Abtreibung fertig werden muss. "Schon vorbei, Schatz, keine Sorge", sagt Fruor stattdessen.

sterben helfen 03 560 c FelixGruenschloss uSchöner sterben mit rosa Konfetti © Felix Grünschloss

Als nächstes ist die Enkelin des Vorzimmerherren in Lucys Firma dran. Sie hatte pubertäre depressive Verstimmungen. In einem unbewachten Augenblick hat die 15jährige ihren Inhalator benutzt, die Eltern hatten ihn, man kennt das ja von jugendlichen Amokläufern und schlecht verriegelten Waffenschränken, einfach in einer Schublade aufbewahrt. Die Mutter des Mädchens erträgt den Verlust ihrer Tochter nicht und greift als nächste zum Gift, schließlich ist auch Lucys Vorzimmerherr, als sie nach der ersten Chemotherapie in die Firma zurückkehrt, einfach nicht mehr da.

Leben müssen, statt leben wollen

Kurz und schmerzlos verschwinden die Figuren aus dem Stück. Gerade damit gelingt Konstantin Küspert ein überzeugendes Plädoyer für das langsame, schmerzhafte Sterben mit all seinen unvorhersehbaren Wendungen. Auch wenn sein Text gleichzeitig nicht an drastischen Beschreibungen spart, wie das zugeht und die Angehörigen belastet: Wie der Körper sich allmählich auflöst und der Sterbende seine Säfte aus allen Öffnungen den anderen vor die Füße kotzt. Das Leben-Müssen ist hier die Kehrseite des Leben-Wollens: Wie oft schon hätten wir, wie Lucys Sekretär, uns umgebracht, wenn das ganz einfach wäre. Das Leben bietet viele Momente, die es mangels Ausweichmöglichkeit zu ertragen gilt. Das Sterben auch.

sterben helfen 02 560 c FelixGruenschloss uAlexander Küsters, Ute Baggeröhr © Felix Grünschloss

Konstantin Küsperts "Was wäre, wenn"-Versuchsanordnung ist ein simpler, doch starker Text. Seine Uraufführungsregisseurin Marlene Anna Schäfer setzt ihrerseits auf die starken Schauspieler, unterstreicht die dramatischen Passagen nur behutsam, wenn beispielsweise Klaus Cofalka-Adami als Lucys Vater das bei der Beerdigung verschüttete Konfetti ordnungsgemäß zusammenkehrt oder mit Handschlägen auf ein Mikrophon den Herzschlag seiner Tochter während der Krebsdiagnose nachahmt. Zwischen dem Wunsch nach Kontrolle, nach Ordnung, und den leidenschaftlichen Ausschlägen unseres dummen Herzens bewegt sich alles menschliche Leben und Sterben. Lucys Aufbegehren gegen das gesellschaftlich verordnete sozialverträglich rasche Ableben und zugleich ihr Gefangensein im eigenen Krebstod visualisiert überzeugend das beherrschende Bühnenelement, ein mannshoher Kasten aus Plexiglas: In dem steht Ute Baggeröhr als Lucy und tastet die durchsichtigen Wände zunehmend verzweifelt ab.

Ungetrübte Daseinsfreude

Ein zu Tränen rührender Moment ist ausgerechnet eine wilde Polonaise aller Schauspieler kurz vor Schluss: Singend und tanzend feiern sie da die ungezügelte Schönheit des Augenblicks, und jeder tut es auf seine Weise: Allen voran Ute Baggeröhr als lebenshungrige Lucy, unbekümmert, ausgelassen, am Ende der Menschen-Schlange Annette Büschelberger (Lucys Mutter / Dr. Asche): Die stets diszipliniert wie eine preußische Landadlige wirkende Grande Dame des Karlsruher Ensembles stampft nur widerwillig mit, aber doch mit so viel ungetrübter Daseinsfreude, wie eben möglich ist, wenn man bereits in früher Jugend einen Stock verschluckt hat.

Der Autor war bei der Uraufführung seines Textes übrigens nicht anwesend: Wie Schauspieldirektor Axel Preuß nach Ende der Vorstellung verkündete, war Konstantin Küspert vor weniger als 24 Stunden Vater geworden und wollte bei seiner Frau in Frankfurt bleiben. Gibt es Zufälle? Mit einer schöneren Geste hätte Küspert wohl kaum sein Plädoyer unterstreichen können, dass jeder von uns die eigene Gefühlshoheit dem jeweiligen Betrieb entgegensetzen sollte: Bei der Arbeit, im Krankenhaus oder Pflegeheim und nicht zuletzt im Theater.

Sterben helfen
von Konstantin Küspert
Uraufführung
Regie: Marlene Anna Schäfer, Bühne & Kostüme: Marina Stefan, Dramaturgie: Judith Heese.
Mit: Ute Baggeröhr, Sithembile Menck, Annette Büschelberger, Klaus Cofalka-Adami, Peter Pichler, Luis Quintana, Alexander Küsters.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

Andreas Jüttner schreibt in den Badischen Neuesten Nachrichten (19.12.2016): Die Grundidee sei nicht uninteressant, aber leider seien die Figuren "reine Funktionsträger", die meistens direkt ins Publikum "von ihren Erinnerungen" sprächen. In der Inszenierung wirkten diese Figuren noch "eindimensionaler" als im Text, selbst versierte Schauspielerinnen hätten dagegen keine Chance. Das interesse des Regieteams erschöpfe sich in "platten Aktionismus-Ausbrüchen". "Sterbenslangweilig".

Jürgen Berger schreibt in der Rheinpfalz (19.12.2016) und ausführlicher in der Süddeutschen Zeitung (21.12.2016) die Ouvertüre sei "beschwingt" und als "rasante Selbstverständlichkeit" inszeniert. Regisseurin Marlene Anna Schäfer verzichte auf "schmückendes Beiwerk" und habe sich von Marina Stefan eine "nüchtern funktionale Bühne" bauen lassen. Da Konstantin Küspert uns in eine Situation versetze, "in der alle mit der größtmöglichen politischen Korrektheit so tun, als sei selbst die Angst vor dem Tod tabu, fehlen die großen Emotionen". Das gelte auch für die todkranke Lucy. Ute Baggeröhr spiele sie als eine auf "Effektivität getrimmte Frau, die auch in der Ausnahmesituation gnadenlos ungerührt zu sein scheint". Schäfer inszeniere eine Art Härtetest für die Protagonistin, "in dem geprüft wird, ab wann das Material einem zu großen Druck nachgibt".

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