Sie ist geweiht

von Falk Schreiber

Hamburg, 1. Januar 2017. Ach, was konnte man sich während der vergangenen zehn Jahre beim Hamburger Partysmalltalk über die Elbphilharmonie in die Haare bekommen. Vorbei – der Riss, der sich durch die Stadt zog, wirkt gekittet, seit das Haus Anfang November zumindest in Teilen für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Hanseaten scheinen ihren Frieden mit dem tatsächlich eindrucksvollen Bauwerk gemacht zu haben, selbst die Marketingverniedlichung "Elphi" wird hier und da verwendet, wenn auch mit halbironischem Zungenschlag. Einzig Rechtsaußen poltert kulturfeindlich, dass ein von der öffentlichen Hand gefördertes Konzerthaus Geldverschwendung sei, ansonsten herrscht einig Elphiliebe, die die kluge Argumentation von Petra Schellen, die in der taz das Narrativ vom "Haus für alle" als Mythos darstellte, als Mäkeln einordnet, das zur allgemeinen Begeisterung irgendwie dazugehört. Allerdings bleibt die Begeisterung bis jetzt eigenartig kunstfern. Landmarke, Touristenmagnet, architektonisches Meisterwerk, Millionengrab, das sind alles Einschätzungen, die nichts mit der eigentlichen Bestimmung eines Konzertsaals als Kulturort zu tun haben. Das kommt nicht von ungefähr: Das bislang einzige genuin künstlerische Event in dem ehemaligen Hafenspeicher war die etwas wichtigtuerische Soundinstallation "The Ship" von Brian Eno.

Raumerkundungs-Expertin

Am 11. Januar endlich soll das erste Konzert stattfinden, dann wird sich zeigen, ob die Akustik tatsächlich so atemberaubend ist wie versprochen. Zuvor aber wurde das Gebäude schon künstlerisch in Besitz genommen, wenn auch genrefremd: Sasha Waltz & Guests betanzen am Neujahrstag die Foyers und den Großen Saal mit der Site-specific Performance "Figure Humaine". Starchoreografin Sasha Waltz, das hat natürlich etwas von der "Das Beste ist gerade gut genug"-Haltung, die man im Elbphilharmonie-Kontext häufig antrifft. (Erinnert sich noch jemand an den Skandal 2013 um die Toilettenbürsten im Hause? 291,97 Euro hätten die angeblich kosten sollen. Pro Bürste. Was jetzt nichts mit Waltz zu tun hat.) Andererseits hat Waltz Erfahrung mit der Eröffnungsbespielung von Kulturräumen – sie choreografierte erfolgreich Stücke unter anderem für das Neue Museum Berlin und das Nationalmuseum für die Kunst des 21. Jahrhunderts in Rom, und auch wenn Museumsbauten etwas anderes sind als ein Konzertsaal, konnte man davon ausgehen, dass sie auch in Hamburg eine so kluge wie spektakuläre Raumerkundung realisieren würde.

Elbphilharmonie 560 IwanBaan uWer hätte das gedacht. "Elphi" mit selbstironischer Eigenwerbung auf der frischen Fassade
© Iwan Baan

Und, ja, natürlich macht sie das. Mit den Worten des klugen Hamburgers Heinz Strunk: Waltz liefert ziemlich geil ab. Schon der Einstieg im unteren Foyer, ein M.C.-Escher-haft mehrfach gebrochenes Treppenhaus, nimmt einem den Atem, in seiner Konzentration und seiner szenischen Phantasie: Der Chor Vocalconsort Berlin beginnt, irgendwo aus einem versteckten Winkel ertönt eine Trompete, von woanders eine Violine, und plötzlich stehen Tänzer mitten im Publikum. Tänzer, die das Gebäude umschmeicheln, über die Geländer der Treppen gleiten, sich durch die Zuschauer schieben, im Tanz versinken und einen in der nächsten Bewegung ganz konkret anfassen. Dabei spielt Waltz' Choreografie äußerst intelligent mit der Architektur der Schweizer Architekten Herzog und De Meuron: Immer ahnt man, dass noch viel interessanter als das Gezeigte das ist, was man nicht sieht, weil es irgendwo im Dunkel passiert. Die Kunst bleibt Ahnung, nicht Gewissheit. Der Tanz ist präsent, aber er lässt dem Haus sein Recht, diesem Haus, das es einem deutlich schwerer macht als man beim Gerede vom Touristenmagneten denken würde.

Was die zivilisierte Welt zusammenhält

"Figure Humaine" steht in der Tradition von Waltz' "Dialoge"-Arbeiten, und von denen führt eine Motivlinie noch weiter zurück, zum frühen Stück "Körper". Immer geht es um den Körper als schweres, beschädigbares Instrument, das einerseits liebliche Anmut beherrscht, andererseits aber auch in der Lage ist, von Herzen zu trampeln. Was hier bedeutet, dass auf jede lyrische Passage eine kräftige Dissonanz folgt, dass folkloristische Härte vorkommt und immer wieder auch überraschend derber Humor – vom sensiblen Körpererkunden ist es im Zweifel nicht weit zum Furzgeräusch, das Lippen auf Bauchfalten erzeugen. Was zumindest einen hübschen Kontrapunkt dazu abgibt, dass die Schärfe des knapp zweieinhalbstündigen Abends zur Mitte hin gehörig abflaut, dass die lange Passage im Großen Saal deutlich in Richtung Kunstgewerbe lappt.

FigureHumaine 560 BerndUhlig uDu holde Kunst! Sasha Waltz' Tänzer*innen in "Figure Humaine" © Bernd Uhlig

Und auch wenn es mehr als einmal krachledern zugeht, bleibt der Kern des Stücks das Ritual. Hier wird ein Haus gesegnet. Es geht Waltz um die Würdigung des Kunstortes als heiligen Ort in einer säkularen Welt – wenn man sich auf das Pathos solch einer Position einlassen will, dann funktioniert der Abend in seiner klug komponierten Vielschichtigkeit. "Kultur ist, was eine zivilisierte Welt im Innersten zusammenhält", mit diesem Satz wird die im Oktober verstorbene Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler im Programmheft zitiert. Mit "Figure Humaine" markiert Waltz die Elbphilharmonie in diesem Sinne als Ort einer Kultur, die aggressiv sein kann, poetisch, technisch perfekt, heterogen, überraschend, sexy, humorvoll, anstrengend und manchmal auf eine dekorative Weise auch langweilig. Als erste ästhetische Positionsbestimmung eines seinen Ort im Kulturleben noch suchenden Hauses ist das nicht nichts.

Figure Humaine
von Sasha Waltz & Guests
Musik von Hildegard von Bingen, Béla Bartók, György Ligeti, Dmitri Schostakowitsch, Pēteris Vasks u.a.
Künstlerische Gesamtleitung und Choreografie: Sasha Waltz, Licht: Martin Hauk, Kostüme: Margaretha Heller, Federico Polucci, Dramaturgie: Jochen Christian Sandig.
Tanz: Liza Alpízar Aguilar, Blenard Azizaj, Jirí Bartovanec, Claudia Catarzi, Davide Camplani, Davoide Di Pretoro, Iyar El-Ezra, Edivaldo Ernesto, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Clémentine Deluy, Peggy Grelat-Dupont, Joel Suárez Gómez, Hwanhee Hwang, Hyajin Lee, Annapaolo Leso, Maureen Lopez Lembo, Anthony Lomuljo, Lorena Justribó Manion, Gyung Moo Kim, Margaux Marielle-Trehoüart, Nicola Mascia, Sergiu Matis, Thusnelda Mercy, Michal Mualem, Virgis Poudziunas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina, Kristian Refslund, Aladino Rivera Blanca, Orlando Rodriguez, Corey Scott-Gilbert, Gil Shachar, Claudia de Seroa Soares, Takako Suzuki, Stylianos Tsatos, Idan Yoav.
Chor: Vocalconsort Berlin, Chorleitung: Nicolas Fink, Mezzosopran: Luciana Mancini, Musiker: Carolin Widmann (Violine), Annette Walther (Violine), Pauline Sachse (Viola), Michael Rauter (Violoncello), Gunārs Upatnieks (Kontrabass), Sava Stoianov (Trompete), Uwe Dierksen (Posaune), Krisztián Palágyi (Akkordeon), Alexej Gerassimez (Schlagwerk).

Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, keine Pause

www.elbphilharmonie.de
www.sashawaltz.com

 

Video-Eindrücke von "Figure Humaine" im Bericht der Tagesthemen.

 

Kritikenrundschau

"Schon einmal hat Sasha Waltz diesen Ort bespielt. Als die Elbphilharmonie noch eine wenig hoffnungsvolle Baustelle war, inszenierte sie hier ein ergreifendes Brahms-Requiem", erinnert Daniel Kaiser im NDR (2.1.2017). "Man sah damals Bildungsbürger vor Rührung weinen." Im neuen Abend stecke mehr Witz. "Es gibt ja bei der Elbphilharmonie mittlerweile auch mehr zu lachen." Sasha Waltz gelinge "ein sinnlicher Abend mit Witz, der die Zuschauer tief berührt und der Lust auf mehr Elbphilharmonie macht".

"Keine förmliche Eröffnung, sondern eine freundliche Übernahme" hat Anke Dürr gesehen und schreibt auf Spiegel online (2.1.2017): "Figure Humaine" hätte "nichts Bedeutungsschweres, sondern strahlte Witz und eine Leichtigkeit aus – als habe sich die 53-jährige international gefeierte Choreografin von der Neugier inspirieren lassen, mit der Kinder im Ferienhaus die Treppen hochstürmen, um sich sofort auszumalen, für welche Spiele es sich am besten eignet und wo die besten Verstecke sind." Die Zuschauer hätten sich vom Charme des Abends anstecken lassen.

"Das alles hier ist nicht nur spektakulär, sondern auch anheimelnd", schreibt Katrin Bettina Müller von der tageszeitung (2.1.2017). "Es ist überraschend zu erleben, wie Bewegung und Musik, eben noch in einem spannungsvollen Gegeneinander, plötzlich zusammengehen und in ihrer Dynamik die kulturellen Räume verschmelzen."

"Alle und alles ist in Bewegung – das passt zu einem Raum, der nicht zum Verharren, sondern eben genau für so einen flanierenden Strom der Menge gemacht ist", so Elisabeth Nehring vom Deutschlandfunk (1.1.2017). "Paul Eluards Gedichte, die die Textgrundlage bilden, rufen auf versteckte Weise darin zum Widerstand auf. Dass Sasha Waltz gerade dieses Werk zum musikalischen Herzstück ihrer Rauminszenierung macht, kann symbolisch aufgefasst werden – als Mahnung, bei aller Freude an der Kunst (und einem neuen fantastischen Raum für die Kunst) die problematische Wirklichkeit nicht zu vergessen."

Während das Publikum sich auf der Expidition durchs Haus notorisch selbst im Weg und in der Sicht stehe, glücke Waltz im großen Konzertsaal angekommen dann doch eine Sternstunde der Bewegungskunst, schreibt Dorion Weickmann in der SZ (4.1.2016). "Frauenkörper wiegen sich wie Korallen unter Wasser, bündeln sich zu Dreier-, Vierer- und Fünfergruppen, um eine stumme Symphonie anzustimmen: Allegro, Andante, Maestoso, Vivace – alles, was dazugehört." An diesem Ort finde 'Figure humaine' ganz zu sich selbst. "Und die Choreografin zu großer Form."

Nie sehe und höre man alles, "was es zu sehen und zu hören gibt", schreibt Andreas Kilb in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (8.1.2017). "Was man miterlebt, ist immer nur ein Fragment des Schauspiels, das um die Ecke, im nächsten Gang, eine Treppe höher weitergeht. Das liegt nicht an der bruchstückhaften Choreographie von Sasha Waltz. Es liegt an der Architektur der Elbphilharmonie, die den Raum des Foyers in seine Bruchstücke auflöst." Tanz sei "die Antithese von Architektur: Wo das Feste beginnt, hört das Fließende auf. Ebendeshalb tritt die Eigenart des Gebäudes an diesem Tanzabend so deutlich hervor. Es ist eine Modernität, die den Geist der architektonischen Moderne, die große, klare, raumgreifende Geste, nur noch behauptet."

 

 

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