Peers Pas de Deux

von Friederike Felbeck

Mülheim an der Ruhr, 19. Januar 2017. Es gehört zu den Geheimrezepten des Mülheimer Theaters an der Ruhr, sich mit einem Stück so zu verabreden, als müsse man etwas endgültig klären. Dabei sind es oft Paraphrasen oder "nur" ein einzelner Akt von fünfen, den man dazu benötigt. Es werden Figuren verworfen oder miteinander vereint, Stücke eines oder verschiedener Autoren zu einem neuen verknüpft, voluminöse Textkörper durch einen Trichtertunnel geschickt, um am Ende eine Fassung ganz ohne Schnickschnack, ohne Schlenker zu gewinnen. Es bleibt nur das Wesentliche, der Kern.

Nach Vorerfahrungen mit dem norwegischen Dramatiker in "Ibsens Haus" (1995), eine zu einem neuen Plot zusammengewachsene Collage aus "Hedda Gabler", "Nora", "John Gabriel Borkman", "Gespenster", "Wenn wir Toten erwachen" und "Klein Eyolf", haben sich Roberto Ciulli und Maria Neumann nun "Peer Gynt" vorgenommen und daraus eine packende anderthalbstündige Reise ins Innere des märchenhaften Gedichts von Henrik Ibsen gemacht.

Zwei Peer Gynts, auf Siebenmeilenstiefeln

Ein Tisch, zwei Stühle, ein Schrank und ein schmales Bett markieren das Universum der beiden Peers. Zu Beginn sitzen sie sich wie schlafend gegenüber, die Köpfe auf dem Tisch abgelegt. Der eine ein alter Mann mit langen schlohweißen Haaren, der andere eine androgyne, alterslose Erscheinung. Wie Zwillinge tragen beide einen schwarzen Anzug, das Hemd ein paar Knöpfe weit offen. Mit Siebenmeilenstiefeln wandern sie durch die fünf Akte des Originals und werfen sich die unterschiedlichen Rollen wie Bälle zu. Mal gibt der eine, dann die andere den Peer, gemeinsam rekapitulieren sie die wichtigsten Stationen und Begegnungen eines Menschenlebens und treten in Dialog mit den eigenen Gespenstern, die sie heimsuchen.

PeerGynt2 560 TheateranderRuhr uIn Traumwelten: Roberto Ciulli und Maria Neumann spielen "Peer Gynt" © Theater an der Ruhr

Das Stück beginnt mit dem Bankrott des Vaters. Die Mutter Aase, im ersten Akt von Ciulli gespielt, ist verbittert, aggressiv und böse. Der junge Peer, "ein Schwein von Sohn", gespielt von Maria Neumann, flüchtet in Traumwelten und größenwahnsinnige Abenteuer. Seine Erzählung vom Ritt auf einem Bock über den Gendringrat hallt wie von ganz weit weg zu uns. Die beiden Schauspieler holen ihre Sätze aus der Erinnerung, ziehen sich diese an wie das Kostüm einer vergangenen Identität und stellen sie wie eine Fahne auf den erklommenen Gipfel.

Dabei ist es vor allem Ciullis Fremdsprachigkeit, die den Texten zu einer besonderen Verdichtung verhilft. Wenn er als Aase dem eigenen Sohn finster entgegenblökt: "Aus dir hätte etwas werden können!", dann wirkt es so, als wäre der Konjunktiv in diesem Moment gerade erst erfunden worden. Als sich die beiden, nun Ciulli als Peer, an die geraubte Bauerstochter Ingrid erinnern, die er als reiche Partie vom Traualtar entführt und schändet, dekliniert Ciulli den Namen Ingrid als ein ganzes Spektrum sterbender Liebe: Begehren, Wut, Ekel und Gleichgültigkeit kann er aus diesen zwei Silben pressen, bis Maria Neumann als Ingrid weinend zu seinen Füßen liegt.

Tanz bis ans Ende der Liebe

Der Wahn, Kaiser zu werden, treibt Peer zum Trollkönig. Neben der ätherisch idealisierten Solvejg soll hier die Königstochter, die „Grüne“, als Karrieresprungbrett herhalten. Peer, der Lügner, laviert sich aus der brenzligen Lage, selbst ein einäugiger Troll zu werden, heraus und flieht: die geschwängerte Braut lauert ihm in Gestalt einer Stripteasetänzerin auf, die ihm den gemeinsam gezeugten Balg, einen Stoffaffen, vorhält. Zu Leonard Cohens Dance me to the end of love zaubert Maria Neumann, lasziv tanzend und sich bis auf die Dessous und Strapse enthüllend, die Erotikbar im leeren Kleiderschrank.

Ein kleines Wunder dieses Abends ist es, wie es die beiden Schauspieler schaffen mit minimalistischer Genauigkeit und einer Handvoll Requisiten, die aus einer kleinen Schublade hervorgezogen werden, so unterschiedliche Räume und Atmosphären entstehen zu lassen. Die Ozeanreise wird mit dem Falten eines Papierschiffs illustriert, das sinkende Schiff und der Zweikampf zwischen zwei Ertrinkenden manifestiert sich am Bett, die alte Mutter drapiert sich klammernd um den auf dem Stuhl sitzenden Peer, um dann sterbend auf den Tisch gebettet zu werden.

PeerGynt3 560 TheateranderRuhr u"Sich selbst sein, heißt sich selbst an den Kragen gehen" Maria Neumann und Roberto Ciulli spielen "Peer Gynt" © Theater an der Ruhr

Maria Neumann, seit 1986 Schauspielerin am Theater an der Ruhr, die schon vor Jahren aus dem Ensemble heraustrat, um den Kanon der Grimm'schen Märchen als One-Woman-Show zu präsentieren, ist es gewöhnt, von einer in die andere Rolle zu springen und bei jedem Wechsel die Figuren noch stärker und klarer werden zu lassen. Der 82-jährige Gründer und Regisseur des Theaters an der Ruhr, Roberto Ciulli, hat sich erst in den vergangenen Jahren zunehmend auch als Schauspieler profiliert. Seit 2000 ist die ebenfalls von Neumann und Ciulli entwickelte Fassung von "Der kleine Prinz" im Repertoire des Theaters.

Auch wenn die Aufführung manchmal ein Hauch von romantischem Abschiedstheater umweht und von melancholischer Altersweisheit dirigiert wird, so gelingt es ihr doch, "Peer Gynt" auf den Punkt zu bringen: unsere Träume, die Lügen, die Umwidmung einer sowieso trügerischen Realität zielen am Ende nur darauf ab, zu uns selbst zu gelangen: "Sich selbst sein, heißt sich selbst an den Kragen gehen."

 

Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Regie, Raum und Dramaturgie: Roberto Ciulli und Maria Neumann, Kostüm: Heinke Storck, Lichtgestaltung: Thorsten Scholz, Ton: Fritz Dumcius.
Mit: Maria Neumann und Roberto Ciulli.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

"Ein starker, magischer Abend", schreibt Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (21.1.2017). Maria Neumann und Roberto Ciulli hätten, so der Kritiker, "eine faszinierende Zweipersonen-Fassung des märchenhaften Dramas herausgebracht. Zu sehen ist die Lebensgeschichte eines Gescheiterten in Schlaglichtern, wie sie in der Erinnerung des alten Peer Revue passieren und dabei den Fünfakter, dem Versmaß enthoben, im 90-minütigen Konzentrat wiedergeben."

Als sehr sehenswert beschreibt Steffen Trost die Inszenierung in der WAZ (21.1.2017). Sie verzichte auf opulente Ausstattung und Überwältigungseffekte und setze auf das Wort und das Spiel. Aus gut drei Dutzend Einzelpersonen seien maximal zehn Personen geworden, denen die beiden Spieler "in wunderbarer Weise Leben voller Emotionen einhauchen."

"Mag 'Peer Gynt' als gemeingefährliches Bühnenabenteuer gelten, das drei Dutzend Mimen zu beschäftigen weiß: Ciulli und Neumann bleiben unter sich. 95 pausenlose Minuten lang", schreibt Lars von der Gönna in der Westfälischen Rundschau (21.1.2017) "Die zwei könnten sich auch 'Robinson Crusoe' oder das Alte Testament vorgenommen haben – man könnte nicht wegsehen. Zu elementar ist, was da zwei Theatertiere aus sich selbst schöpfen."

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