Man kann auch ohne Beine nach Hollywood gehen

von Elisabeth Maier

Karlsruhe, 9. Februar 2017. Krüppel Billy wächst auf einer Müllhalde auf. Plastiktüten und Dosen hat die irische See auf die Insel vor der Westküste gespült. In dieser Hölle der Zivilisation siedelt Nicolai Sykosch seine Inszenierung von Martin McDonaghs "Der Krüppel von Inishmaan" am Staatstheater Karlsruhe an. Sogar das Kreischen der Möwen erstickt in diesem Niemandsland.

Krueppel1 560 Felix Gruenschloss uBühnenbild: Stephan Prattes. Meik van Severen, Antonia Mohr (Kate), Lisa Schlegel
© Felix Grünschloß

In dem sprachlich brillanten Schauermärchen, das der irische Autor 1996 schrieb, geht es um Heimatverlust und um Ausgrenzung. Er zeichnet ein düsteres Bild von der grünen Insel in den 30er-Jahren. Nach seiner Uraufführung am Londoner Royal National Theatre brachten einige amerikanische und deutsche Bühnen das Stück heraus. 2013 spielte Daniel Radcliffe den Waisenjungen Billy in einer Inszenierung von Michael Grandage im Londoner Westend. Damit brachte der Harry-Potter-Star das nicht mehr ganz taufrische Drama wieder ins Gespräch.

Dralles Volkstheater

Einfach ist dieser meisterhaft gebaute, aber komplexe Text nicht. McDonaghs naturalistische Anflüge und sein schwarzer Humor sind schwer auszubalancieren. Im Netz der Folklore zappelt zunächst auch Sykoschs Regie. Zu tief bleiben manche Figuren in den Traditionen der Aran-Inseln verhaftet, die McDonagh zu einer Trilogie inspiriert haben. Da lässt sich der Regisseur von seiner Faszination am drallen Volkstheater blenden.

Trinkerin Mammy ist bei Eva Derleder eine alte Frau mit Haaren auf den Zähnen. Ihr Sohn Johnnypateenmike lullt die Inselbewohner mit abgestandenen Neuigkeiten ein. Gunnar Schmidt zieht seine Figur stark ins Lächerliche. Mit dem surrealen Universum, das Bühnenbilder Stephan Prattes in seiner Landschaft aus Fetzen, Schrott und leeren Flaschen erschaffen hat, halten beide schwerlich Schritt. Britta Leonhardt zitiert mit den Kostümen Lokalkolorit, nimmt aber zugleich Irland-Klischees aufs Korn. Schräg und spießig wirken die roten Perücken der Insulaner. Klangkünstlerin Sabine Worthmann entlockt dem Müllberg Töne, Wortfetzen und gälische Gesänge. Mit leeren Flaschen und Trompeten lässt sie die Spieler musizieren.

Krueppel2 560 Felix Gruenschloss uGanz unten: Eva Derleder (Mammy), Gunnar Schmidt (Johnnypateenmike), Marthe Lola Deutschmann (Helen), Lisa Schlegel (Eileen), Antonia Mohr (Kate) © Felix Grünschloß

Ein Himmel aus schwarzen Plastikplanen wölbt sich in Prattes` faszinierendem Bühnenkonstrukt über Billy. Meik van Severen als Krüppel erklimmt darin nicht nur eine goldene Himmelsleiter. Der junge Schauspieler zeigt das körperliche Gebrechen mit einer Anmut, die kirre macht. Traurig sitzt er auf einem ausgemusterten Stuhl, träumt von der Flucht nach Hollywood. Die gelingt ihm auch tatsächlich, denn das Filmteam von Robert J. Flaherty nimmt ihn nach den Dreharbeiten zum Dokumentarfilm "Die Männer von Aran" nach Hollywood mit.

Eine brutale Welt

So flieht er vor der Leere, die ihn bei seinen Adoptivtanten umgibt. Nach dem Tod der Eltern zogen sie ihn auf. In Fettpolstern aus Schaumgummi zeichnet Lisa Schlegel das Porträt einer gebrochenen Frau. Antonia Mohr scheitert schon daran, mit dem Einwegfeuerzeug ihre Zigarette anzuzünden. Tag um Tag verkaufen sie Erbsen in ihrem Laden. Büchsen sind das einzige, was es auf dem von Hungersnot gezeichneten Eiland noch gibt. Ein paar Süßigkeiten, die Verwandte aus den USA schicken, halten die Moral hoch. McDonaghs Spagat zwischen Komik und pechschwarzer Groteske liegt den beiden. Sascha Tuxhorn als brutaler Fischer steht ihnen in nichts nach.

Eindrücklich arbeitet Sykosch die Aktualität des Stoffs heraus, die auch 20 Jahre nach seiner Uraufführung auf der Hand liegt. Wenn Martha Lola Deutschmann als jugendliche Schlägerin Helen eiskalt erzählt, wie sie von Priestern missbraucht wurde, liegt das ebenso beklemmend nah wie der Hass, der dem Krüppel Billy entgegen schlägt. In dieser brutalen Welt wird die politische Dimension von McDonaghs Text deutlich. In Zeiten von Klimawandel, Armut und nackter Gewalt trifft die Inszenierung noch immer den Nerv der Zeit. Billys Träume vom besseren Leben spiegeln die Hoffnungen einer jungen Generation, die den Boden unter den Füßen verloren hat.

 

Der Krüppel von Inishmaan
von Martin McDonagh
Deutsch von Martin Molitor und Christian Seltmann
Regie: Nikolai Sykosch, Bühne: Stephan Prattes, Kostüme Britta Leonhardt, Musik: Sabine Worthmann, Licht: Aljoscha Glodde, Dramaturgie: Roland Marzinowski.
Mit: Joathan Bruckmeier, Eva Derleder, Marthe Lola Deutschmann, Antonia Mohr, Sebastian Reiss, Lisa Schlegel, Gunnar Schmidt, Meik van Severen, Sascha Tuxhorn.
Spieldauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

"Den Darstellern im Staatstheater – allen voran Meik van Severen in seiner ersten abendfüllenden Hauptrolle als 'Krüppel-Billy', dem er feinfühlig eine stets hervorscheinende Würde verschafft, sowie Sascha Tuxhorn in der berührenden Nebenrolle des Babbybobby – gelingt der Spagat zwischen Komik, Tragik und Groteske vor allem in der zweiten Hälfte des Stückes gut", schreibt Martha Steinfeld in den Badischen Neuesten Nachrichten (11.2.2017). Und zeigt sich darüber hinaus vor allem fasziniert von der Bühne: "Dutzende Meter schwarzer Folie hat Bühnenbildner Stephan Prattes um zwei in spektakulärer Unordnung aufgetürmte Müllberge wallen lassen, die den Schauspielern nicht nur eine unübliche Spielfläche bieten, sondern mit subtilen Klängen aus ihrem Inneren zu belebten Wesen werden."

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