Lebensmittel oder Standortfaktor?

von Tobias Prüwer

2. März 2017. "Und dann haben sie überall Wessis an der Spitze installiert." Manche Mythen, wie der Verdacht, alle ostdeutschen Theater wären nach dem Mauerfall plötzlich in Intendantenhand aus dem Westen übergegangen, halten sich lang; bis mal einer kommt und nachschaut. Torben Ibs hat es getan.

Doch rechnete der Theaterwissenschaftler – er ist heute Pressesprecher am Leipziger Theater der Jungen Welt – nicht nur Zahlen nach und bereitete sie für seine Doktorarbeit auf. Er analysierte insbesondere die Sprache: Welche Ausdrucksweisen, welche Begriffe und damit transportierte Vorstellungen und Bedeutungen begleiteten die Transformationen des ostdeutschen Theaters von der Wende bis in die Mitte der neunziger Jahre? Wie sprachen die Theatermacher damals unter veränderten Bedingungen über ihre Kunst und Orte? Welche (neue?) Rolle maßen Journalisten, Politiker und die Öffentlichkeit dem Theater an?
Um das herauszufinden, griff Ibs zur Diskursanalyse und wertete relevante Artikel, Rezensionen, Interviews in "Theater heute" und "Theater der Zeit" aus. Ausgewählte Beiträge anderer Medien kamen während der Ausgangsrecherche hinzu und fanden Eingang in die Analyse. So konnte Ibs Schlüsselworte, Vorstellungen und Legitimationen identifizieren, die die Diskussionen ums Theater maßgeblich bestimmten.

Basisdemokratie vs. Hierarchie

Herausgekommen ist eine interessante Materialsammlung, die über zum Teil bis in die Gegenwart anhaltende Diskussionen und Zustände informiert. Zunächst liefert Ibs eine Darstellung der kulturpolitischen Entwicklung im Osten der Wendezeit. Er berichtet von der Suche nach angemessenen Rechts- und Organisationsformen, bei der besonders die Fragen der Mitbestimmung seitens des Ensembles mitschwangen und uneingelöst blieben. Nach basisdemokratischen Wendeerfahrungen stand vielen Schauspielern und Bühnenarbeitern eigentlich nicht der Sinn nach der straffen Hierarchie eines Intendantenbetriebs.
Fallbeispiele zum mit den Intendantenwechseln vollzogenen Elitenwandel runden den berichtenden Teil ab.

buch umbruecheDer fällt historisch informativ aus und wird fast anekdotisch, etwa wenn die Eigengeburt des Theaterhaus Jena aus dem umbruchswilden Osten heraus geschildert wird: Es ist die einzige Stadttheatergründung der Neunziger, aber weniger an dem Modell, sondern an freien Theaterhäusern orientiert. Oder wenn sich Neustrelitz auf den Hoffnungsträger Gregorij von Leïtis freut: Seine Bewerbung erweist sich rasch als Schaumschlägerei. Er fällt alsbald durch alle Erwartungen und wird nach drei Monaten suspendiert. Vor Gericht erstreitet er eine Abfindung von 125.000 DM. Dabei wird die Berliner Situation meist ausgespart, weil sie speziell ist und eines eigenen Blickes bedarf. in den sezierten Debatten sind die Berliner natürlich genauso mitverstrickt.

Auf die zeitgeschichtliche Einordnung folgt die Diskursanalyse, die sich an Diskussionen um den Ensemblebegriff, um das Publikum und die Aufgabe des Theaters und schließlich den Veränderungen im kulturpolitischen Feld festmacht. Was hält das Theater zusammen? Besonders an dieser Frage wird ein Unterschied zwischen Ost und West deutlich. So hält die Divergenz zwischen dem Festhalten am Ensemble und der Präferenz eines Produktionsteams an, befruchten sich aber die Positionen zwischen Gesellschafts- und Kunstanspruch zum gesamtdeutschen Diskurs. Bei der Frage nach dem Publikum und wie die leeren Säle zu füllen sind, sehen sich die Theater allein.

Kampf um Geld und Publikum

Was aber die Selbstverteidigung wie -behauptung der dramatischen Kunst betrifft, so zeichnete sich rasch eine Ausweitung der Kampfzone aus. Sie nahm im Osten einen jähen Anfang. "Das Theater in der DDR war ein Ort der Revolution, doch mit ihrem Sieg leerten sich die Häuser", zitiert Ibs einen Kritiker. Plötzlich mussten sich Theatermacher rechtfertigen, sahen sich Finanzierungskrisen ausgeliefert – und eigenen Existenzängsten. Während die ersten Kürzungs-, Fusions- und Schließungswellen anliefen, mussten die Künstler um Publikum und Aufmerksamkeit kämpfen. Diese Prozesse schwappen aber alsbald in den Westen über, weil sich mit Fall des Eisernen Vorhangs das Gesamtsystem des globalen Kapitalismus verändert. Im Neoliberalismus sehen sich die öffentlichen Kassen unter Druck. Schon kurz nach den „"Haushaltsanpassungen" im Osten folgten jene im Westen. Die Bühne der noch neuen Bundesländern erhalten hier sogar Modellcharakter, wie man mit wenig(er) Geld Theater stemmen kann.

Dabei verorten sich die Theater in verschiedenen Aufgabenfeldern beziehungsweise werden diese ihnen zugeschrieben. Ibs macht fünf aus: Lebenshilfe, Utopie, Humanismus, Unterhaltung und lokale Identität/Standortattraktivität. Diese wirken bis heute bestimmend, möchte man hinzufügen. Insbesondere die Rückbindung an die Theatersituation West macht das Buch – dem Fokus auf das Sprechtheater und Stadttheatermodell um Trotz – über eine reine Rückschau hinaus zum geeigneten Ausgangspunkt, auch das Gegenwartstheater zu befragen. Denn die Diskussion um die Aufgabe des Theaters bleibt virulent. Stadttheater sind weiterhin Rechtfertigungszwängen ausgesetzt.

Avantgarde des Ostens

Übrigens: Es waren knapp 50 Prozent Westimporte, die in den ersten Jahren die ostdeutschen Intendanzen übernahmen. Eine reine Übertragung von Westmodellen fand jenseits von Tarifmodellen nicht statt. Ibs macht eine "ostdeutsche kulturpolitische Pragmatik" aus, "die eben nicht die West-Vorgaben übernimmt, sondern eigene Lösungen sucht". Besonders kooperative Ideen klingen dabei an, auch wenn das Fusion bedeuten kann. Ostdeutsche Eigensinnigkeit besteht insbesondere in der tradierten Auffassung des Ensembles als Gemeinschaft und Theater als zuerst sozialer Ort. Als ab Mitte der Neunziger jüngere Regisseure wie Petras, Ostermeier, Thalheimer und Pollesch hier wie da inszenieren, wird das Theater gesamtdeutsch, so Ibs.

Zu dieser Zeit bilden die ostdeutschen Theater – wie die Menschen in Ostdeutschland insgesamt – in einer Hinsicht die Avantgarde: Sie haben den durch einziehenden Neoliberalismus angestoßenen Wandel, die Umwälzungen und Zumutungen bereits erfahren. Die Abwehrkämpfe gegen den nun bundesweit laut werdenden Ruf nach Reform der Theater und Vereinnahmung durch Standortmarketing mussten hier früher geführt werden. Die Transformation des Theaters wurde gesamtdeutsch.

 

Umbrüche und Aufbrüche
Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995
von Torben Ibs
Verlag Theater der Zeit 2016, 414 Seiten, 22 €.

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