Abwärtsspirale im Schnelldurchlauf

von Martin Pesl

Wien, 6. März 2017. Die Zeiten haben sich geändert. Sah man im vergangenen Jahrzehnt ein Theaterstück mit weit unter 90 Minuten, wollte man einen Teil seines Eintrittsgeldes zurück. Oder nach der Pause noch ein zweites Stück sehen. Heute wird eher über Überlänge gemotzt. Dazu jedoch besteht bei dieser freien Produktion im Werk X Eldorado kein Anlass. Die Uraufführung des im Rahmen des Autor*innenprojekts Wiener Wortstätten entstandenen Textes "mutterseele. dieses leben wollt ich nicht" von Thomas Perle in der Regie von Lina Hölscher dauert etwa 50 Minuten. Diese Flüchtigkeit macht es aber auch nicht leichter, den Abend so ernst zu nehmen, wie das darin verhandelte sozialpathetische Drama es zu verlangen scheint.

Wie der Titel schon verrät ...

Der 1987 in Rumänien geborene Autor umreißt in seinem Stück die Geschichte der Alkoholikerin Rita und ihrer Tochter Marie. In knappen, sich entsprechend hastig auf die Negativspitze zubewegenden Dialogszenen arbeitet er sich von glücklichen Anfängen – die Eltern lernen sich in der Vergangenheit kennen, parallel trifft in der Gegenwart auch die Tochter eine neue Liebe – zum tragischen Ende vor, das da lautet: Hier Mutter totgesoffen, da Tochter vor lauter Angst, wie Mutter zu werden, doch keine Lust auf Familie.

Es ist, als würde man eine DVD in zweifacher Geschwindigkeit abspielen. Man kriegt noch alles mit, aber es geht halt schneller. Perle schafft es innerhalb der kurzen Zeit auch, die Entwicklung biografisch herzuleiten, sodass nie auch nur eine einzige Frage aufkommt. Der Vater war gewalttätig, Seitenspringer und dem Alkohol nicht abgeneigt. Daher: die Mutter verbittert, alkoholisiert. Daher: der Vater weg. Daher: die Mutter noch verbitterter, noch alkoholisierter. Die Tochter trinkt sich mit 19 zwar auch einen Rausch an, scheint aber keinen größeren Schaden davonzutragen, bis ihr die Mutter gegen Ende gesteht, dass sie sie, wie der Titel schon verrät, eigentlich nie wollte.

mutterseele03 560 Edi Haberl uLilly Prohaska, Florian Stohr, Nikolaij Janocha, Lisa Weidenmüller ©  Edi Haberl

Genügend Zeit ist auch, die Rückwand der in drei Stufen unterteilten Bühne gänzlich gelb zu streichen. Die drei Schauspielerinnen teilen sich diese nicht unbedingt als zwingend erkennbare Aufgabe, während die beiden Männer, die jeweils nur in ein, zwei Szenen vorkommen, viel halb beleuchtet in der hermetischen Bühnenkonstruktion herumstehen.

Während der Text zwischen trivialer Alltagssprache ("was ist mit dir? du wirkst so angespannt"), geschmacksunsicheren Regieanweisungen ("der wein steigt zu kopf. das blut in die hose.") und Ellipsen im Stile Ewald Palmetshofers changiert ("kein wunder, dass dich papa!"), kann sich Lina Hölschers Regie nie zwischen Konkret und Abstrakt entscheiden. Getrunken wird nie aus echten Flaschen, Dialoge werden teilweise frontal über die Bande gespielt, aber Schwangerschaftstest und Blumenstrauß, Heiratsantrag auf Knien, Küsse und Ohrfeigen müssen konkret da sein.

Komödiantisch taumelnde Trunkenheit

Anfangs scheinen die drei räumlichen Ebenen noch eine strenge Unterteilung zu repräsentieren: Lily Prohaska vegetiert als kaputte alte Mutter ganz oben hinten mit Gammelpantoffeln und ekelverzerrtem Gesicht vor sich hin, während ihr junges Ich (Claudia Carus) vorne unten noch heiter von Gerhard (Nikolaij Janocha) angeflirtet wird und das erste Date von Marie (Lisa Weidenmüller) und dem netten Sven (Florian Stohr) auf der Mittelstufe stattfindet. Bald darauf verliert sich auch diese Struktur in der Beliebigkeit, die Vergangenen greifen in die Szenen der Heutigen ein, und umgekehrt.

Unter diesen Umständen macht Lisa Weidenmüller die beste Figur, trifft meist den passenden Ton und gibt in allen Altersstufen ihrer Rolle alles. Der am nächsten gehende Moment des ganzen Abends ist ihr markerschütterndes Schreien als neugeborene Baby-Marie. Lilly Prohaska lockert den Ernst mit komödiantisch taumelnder Trunkenheit auf, an der sich Claudia Carus dafür gar nicht erst versucht, obwohl auch die junge Rita einige Eskalationsszenen zu bewältigen hätte.

Auf Maries bittere Erkenntnis, man könne erst richtig erwachsen werden, wenn die Eltern tot sind, scheint Thomas Perle mit seinem Text hinzusteuern. Schade, dass einen dieser eigentlich erschreckend profunde Gedanke in dem rasant durchlaufenen Familiendrama eben nicht erschreckt. Weil: keine Zeit.

 

mutterseele. dieses leben wollt ich nicht
von Thomas Perle
Uraufführung
Inszenierung: Lina Hölscher, Ausstattung: Julia Grevenkamp und Santo Krappmann
Mit: Claudia Carus, Lilly Prohaska, Lisa Weidenmüller, Nikolaij Janocha, Florian Stohr
Dauer: 50 Minuten, keine Pause

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www.wortstaetten.at

 

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