Träumen unterm Lebensbaum

von Michael Laages

Hamburg, 18. März 2017. Shakespeare hin, Molière her – kaum jemals sonst taucht das Theater derart tief ins vorvorvorgestern ein wie gerade mit diesem klassischen Stoff: mit der träumerischen Märchenfabel um "Cyrano de Bergerac", den Edmond de Rostand 1897 dem tatsächlichen französischen Landedelmann aus dem 17. Jahrhundert nachempfand und als sehr speziellen Sonderling auf die Theaterbühne schickte. Dieser Cyrano nämlich ist ein ziemlich zerrissenes Wesen – einer körperlichen Besonderheit wegen (die Nase ist übermäßig groß) bleibt sein Werben um die schöne Cousine Roxane unerhört; die einen jüngeren und exzeptionell dümmeren Mann erhören will. Dieser Christian hat zwar einen schönen Körper, kann dafür aber weder gut reden noch gar gut schreiben. So leiht der Titelheld diesem perfekten Körper den eigenen perfekten Geist – und weil das natürlich praktisch sehr komisch ist, muss es tragisch enden. Die Wahrheit, unabweisbar spätestens im Tode, macht alle zu Betrügern und Betrogenen zugleich.

Unvereinbar mit niemandem

Aus dem Rahmen fällt der Klassiker aber vor allem durch die Art des menschlichen Miteinanders, die dieser wunderliche Held vorzugsweise pflegt – er prügelt sich extrem gern, um zwar mit einem Requisit, das in längst vergangenen Zeiten als Requisit zwingend zum Theater und auf die Bühne gehörte: mit dem Degen. Während Shakespeares Hamlet nur gegen Ende um Tod und Leben fechten muss, fordert Cyrano gleich zu Beginn des Stückes quasi jeden heraus. Und er siegt immer, auch allein gegen alle … und im Grunde steht er auch geistig genau so in der Welt: unvereinbar mit niemandem und nichts; frei.

Cyrano 560 KrafftAngerer uAlle mit Degen © Krafft Angerer

Noch immer erlernen Studierende der Theaterkünste an vielen Hochschulen auch das Fechten; und noch immer gibt es ein paar wenige Theatermenschen, die Gefechte auf der Bühne choreographieren können – Klaus Figge ist die Legende in diesem Metier, 75 wird er im Mai. Seit 1971 unterrichtet der gebürtige Essener an der Folkwangschule seiner Heimatstadt Bühnenkampf – und wer ihn zur Seite hat, kann sich auch "Cyrano de Bergerac" nähern. Leander Haußmann hat in Hamburg dieses Glück gehabt; und auch deshalb gelingt, mit Meister Figge, der tiefstmögliche Sprung hinein in die Vergangenheit.

Wort- und Degengefechte

Noch ein Glücksfall ist am Hamburger Thalia Theater zu bestaunen: die Übersetzung von Frank Günther. Schon als der Regisseur Haußmann aus dem Osten in den Westen hinüberwuchs, als er (noch vor der Intendanz in Bochum) etwa in Weimar oder Berlin inszenierte, bevorzugte er Günthers freche, in Teilen gegenwartssprachlich durchsetzte Shakespeare-Übertragungen, die ja immer auch Bearbeitungen waren. Beim "Cyrano" jetzt ist das ganz genau so – Günther verpasst Rostands Versen immens viel Zeitgenossenschaft, und auch die strenge Versform handhabt der Übersetzer derart elegant, dass jeder extrem genau gesetzte Vers-Reim wie zufällig zu stehen kommt im gesprochenen Text. Als Regisseur dreht Haußmann nun die Schraube noch ein bisschen weiter – in den Wort-Gefechten, die Finten, Hieb und Stich mit den Degen gegenüber stehen, lässt er die Kämpfer gern mal ein wenig aus der Rolle fallen und über das eigene Tun, den eigenen Zustand räsonnieren.

Das schafft Distanz und also Ironie; obendrein steigert diese Methode den witzigen Effekt enorm. Prompt braucht's nichts sonst, um die wirklich sehr olle Kamelle ganz und gar im Hier und Jetzt wahrzunehmen. Über den Zusammenhang (und Widerspruch!) von Schönheit und Geist, gerade in amourös-sexuellen Zusammenhängen, ließen sich ja durchaus auch im Wellness-Studio die Klingen kreuzen im scharf geschliffenen Disput; das ist aber gar nicht nötig. Haußmanns Theater macht in diesem Fall staunen, gerade weil es modernen Effekt nicht braucht. Auf den setzt der Regisseur mitunter ja auch; für Die Räuber etwa oder Woyzeck in Berlin. Nichts davon hier – unübersehbar sind wir immer (nur) im Theater.

Überforderungs-Mantra

Gleich zu Beginn (nachdem als Motto Heinrich Heines traurige Miniatur von der "alten Geschichte" rezitiert worden ist, in der sich "immer neu" auf "Herz entzwei" reimt) spiegelt die Bühne von Theresia Anna Ficus per Video den realen Thalia-Zuschauerraum in die Tiefe der Bühne; später, in Rostands schöner Parodie auf die Balkonszene von "Romeo und Julia", wird die real beschworene Geliebte zugleich auf Balkon-Brüstungen oberhalb der Bühne projiziert. Im übrigen ist ein großer kahler Lebensbaum das zentrale Requisit; in dessen Zweige hinein steigt Cyrano im Tode, als alle Finten aufgeflogen sind. Und die Geliebte, die nun weiß, wer sie so schön bedichtet und belogen hat, steigt ihm nach.

Cyrano1 560 KrafftAngerer uWofür es sich zu kämpfen lohnt? Jens Harzer (Cyrano) und Marina Galic (Roxane) © Krafft Angerer

Jens Harzer, einer der zentralen Protagonisten am Thalia Theater, bewältigt die Gebirge von Text in diesem Stück wie unter Überdruck – weil er nicht sprachlos sein will und darf, setzt er auf Atemlosigkeit. Was durchaus auch anstrengend ist; für ihn und für uns: Harzer zwingt diesen Cyrano unter das Mantra ständiger Überforderung. Sebastian Zimmler zeigt ihm gegenüber erstaunlich selbstbewusst, das heißt: selbstkritisch, die schöne Larve. Und Momente gibt's, wo sich beide Bewerber wie in einer Art "ménage a trois" zur Angebeteten fügen. Ein schöner Effekt – während die drei einander auf der Bühne real umarmen, Harzer, Zimmler und Marina Galic als Roxane, kommt die Nachricht, dass der schöne Christian gerade gestorben sei; Traum war's nur, nur Theater und Poesie, was uns das Spiel gerade vorgegaukelt hat.

Wie von sehr weit her und aus unsagbar weit entfernten Zeiten führt uns das Theater an diesem sehr überzeugenden Abend beharrlich an die Quellen zurück – wie große Kinder, die noch einmal alte Träume träumen dürfen. Wo sonst ist das möglich?

Cyrano de Bergerac
von Edmond de Rostand
deutsch von Frank Günther
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Theresia Anna Ficus, Kostüme: Janina Brinkmann, Video: Jakob Klaffs, Hugo Reis, Fecht-Choreographie: Klaus Figge, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Marina Galic, Jens Harzer, Pasc al Houdus, Tim Porath, Steffen Siegmund, Rafael Stachowiak, Marina Wandruszka, Sebastian Zimmler.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Dass sich heutzutage überhaupt noch ein Regisseur traut, Romantik und Poesie, gepaart mit Witz und Eleganz, unverfälscht auf die Bühne zu bringen!", holt Monika Nellissen in der Welt (20.3.2017) aus und freut sich: "Leander Haußmann tut es aus vollem Herzen." Er gebe sich der Mantel-und-Degen-Romanze hin und verführe die fantastischen Schauspieler, es ihm gleichzutun. "Ein Fest der Sinne, ein Märchen- und Traumtheater, das dem Besucher beschert wird: verspielt, virtuos, zärtlich, verwegen, komödiantisch, herzbewegend, elegisch und stilsicher."

Haußmann schicke eine ebenso routinierte wie entdeckungsfreudige Schauspielertruppe ins pralle Mantel-und-Degenleben, so Werner Theurich auf Spiegel online (19.3.2017). "Jens Harzer schießt seine Texte beinahe noch beeindruckender ab als die charmant choreografierten Fechtduelle." Cyranos härteste Kämpfe finden jedoch im Kopf statt, "in der beinahe obsessiven Sprachlastigkeit liegt die Schwäche der Inszenierung, denn sie bürdet Hauptdarsteller Harzer viel Last der Verbalisierung allen Heldenleidens in all seinen Facetten auf". Die textlastige Bilderrevue gehe nur gut, weil Jens Harzer das natürlich perfekt könne, "allein wie er die Textmassen seiner Seelenpartitur bewältigt, überwältigt den Zuschauer".

Leander Haußmann inszeniere diese heimliche ménage à trois wie ein Märchen mit allen Zutaten des Mantel- und Degen-Stücks, "es gibt wunderschöne Fechtszenen, fantastische Kostüme", so Heide Soltau im NDR (19.3.2017). Mehr Freude hätte man allerdings gehabt, wenn Haußmann mehr gestrichen hätte. "Dem Abend fehlt zudem der Rhythmus. Besonders am Ende geht Haußmann die Puste aus." Das sei schade, weil dieser "Cyrano de Bergerac" eine anrührende Tiefe hat, was insbesondere Jens Harzer in der Titelrolle, Sebastian Zimmler als Christian und Marina Galic als Roxane zu verdanken sei.

 

Haußmann verlangsame "den ganzen elektrischen Kosmos des frühen Science-Fiction-Autors, Aufklärers, Dandys, Revolutionärs und Konventionsverächters Cyrano de Bergerac zu trivialem Unterhaltungstheater",  grollt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (22.3.2017) diesem Abend. Und "Haußmann ist eben auch der Meinung, dass das aktuell Gesellschaftliche und Politische im Theater nur noch nervt. Und mit dieser langweiligen Haltung wird man dann eben zu diesem Effektmaschinist mit Mega-Ego, der im Kino so viel besser aufgehoben ist als im Theater."

 

Kommentare  
Cyrano de Bergerac, Hamburg: in Steno
....bitte 30-40 Minuten umgehend streichen...
Zimmer köstlich..
Garlic gut, das präziöse fehlt allerdings...
Harzer, immer wieder faszinierend, wenn auch in diktion unddiktion ein wenig sich wiederholend...
O Poesie
Cyrano de Bergerac, Hamburg: auf der See komödiantischen Überschwangs
Das ist oft lächerlich, immer unterhaltsam, nicht selten wunderbar albern. Und hat doch Tiefe. Denn die Theatralität, die Haußmann diesem Theaterschlachtross lässt, paart sich ganz wunderbar mit dem Auseinanderdriften von Sein und Schein, der Anbetung letzteren und der Verachtung ersteren, von dem die Geschichte erzählt. Natürlich ist auch das Theater ein Ort des Scheins, der das Sein sucht oder zumindest vorgaukelt, ein Ort des Glücks für Cyrano, der sich im Verborgenen ein kleines Glück sucht, sich einredend, dass das, was Roxane liebt, doch eigentlich seine Worte sind. Das Leben als Spiel, bei dem am Ende alle verlieren und doch der eine oder andere Sieg bleibt. Jens Harzer ist dieser riesennasige Cyrano und er ist eine Naturgewalt: verzweifelt, erregt, verspielt, spöttisch, tieftraurig und doch auch ganz zuletzt noch voller Dankbarkeit und Hoffnung. Sein Spiel reißt mit, belustigt, begeistert, berührt. Stark auch Sebastian Zimmler als Christian: Gockelhaft stellt er den gestählten Körper aus, potenziert die Lächerlichkeit dieses tumben Gesellen und findet dann doch eine zarte Seele voller Selbstzweifel und Reue. Wenn sein Christian, gerade in die tödliche Schlacht gezogen, versucht, Cyrano und Roxane zusammenzuführen, ein Versuch, der abbricht, als die Kunde von seinem Tod kommt, dann ist das ergreifend und von einer existenziellen Wahrheit, wie sie nur der Schein des Theaters zu erzeugen vermag.

Es gibt einige dieser Momente inmitten der See komödiantischen Überschwangs: Wenn sich der Abschied ins Feld etwa als Dreifachumarmung entpuppt oder Cyrano ganz am Schluss, sterbend den Baum der Fantasie ersteigt und ihm Roxane (ein wenig distanziert: Marina Galic) folgt, dann triumphiert hier nicht nur das Theater als Ort der Einbildungskraft, als Möglichmacher des Unmöglichen, sondern dann ist hier der existenzielle Kern des Menschlichen ganz bei sich. Das war vor einem Vierteljahrhundert im Romeo schon so und das ist es, viele theatrale Revolutionen, die Haußmanns Theater heute altmodisch erscheinen lassen, noch der Fall. Denn hier ist Lust, Leben, Lieben, Scheitern, ohne Angst vor der Lächerlichkeit und ohne Illusion, dass alles gut werden wird. Der Urgrund des Theaters ist das Spiel und Leander Haußmann feiert es an diesem Abend mehr denn je. Nicht als Wirklichkeitsbehauptung, aber als Ausdruck menschlichster Lebensgier. Die Vision, dass dereinst das Sein den Schein bezwingen möge, teilt er nicht, der Scheinhaftigkeit des eigenen Tuns ist sich dieses Theater stets bewusst. Aber auch seiner Kraft – und seines Rechts – die Wahrheit zu sagen. Wie der Narr, den alle verlachen und um dessen Wahrhaftigkeit doch jeder weiß.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/04/02/es-lebe-die-narrheit/
Cyrano de Bergerac, Hamburg: mit Verve
Popsongs streute Leander Haußmann in seine Hamburger „Cyrano de Bergerac“-Inszenierung sparsamer ein als gewohnt. Dennoch ist auch dieser Abend wieder ein Theaterfest, das Spaß macht.

Es sind vor allem vier Faktoren, auf die Haußmann bauen kann:
Wie schon bei seinen Shakespeare-Übersetzungen fand Frank Günther auch für die romantische Tragikomödie von Edmond Rostand einen pointierten, saft- und kraftvollen Ton. Klaus Figge hat hervorragende Fechtszenen choreographiert, bei denen z.B. Pascal Houdus und Jens Harzer sehr gekonnt die Klingen kreuzen. Vor allem sind die beiden Hauptrollen glänzend besetzt: Hier die Titelfigur, der unglücklich verliebte Cyrano, der mit einer viel zu langen Nase verunstaltet ist. Dort der unbekümmerte Schönling Christian, durchtrainiert wie ein Model, aber dumm wie Brot. Jens Harzer und Sebastian Zimmler spielen diese Rollen mit großer Verve und lassen die beiden Figuren trotz aller Komik nie zur Karikatur verkommen.

Schon in seinen Inszenierungen am Berliner Ensemble hatte Leander Haußmann regelmäßig damit zu kämpfen, dass seine Inszenierungen zu sehr ausuferten. Seinen „Hamlet“ strich er noch kurz vor der Premiere deutlich zusammen. Auch bei den „Räubern“ justierte er nach einigen Aufführungen und entsprechenden Hinweisen aus Rezensionen und Publikumsgesprächen noch nach und straffte den zweiten Teil, der nach fulminantem Auftakt abfiel.

Auch dem „Cyrano de Bergerac“ am Thalia täte es gut, an der einen oder anderen Stelle zu streichen und zu straffen. Dies gilt sowohl für die ersten zwei Stunden bis zur Pause als auch für den etwas zu melodramatisch geratenen Schluss im Kloster. Dann würde aus einem guten Theaterabend ein herausragender.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/05/cyrano-de-bergerac-theaterspass-von-leander-haussmann-mit-jens-harzer-und-sebastian-zimmler-am-thalia-theater/
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