.... und der universale Niemand lacht

von Christian Rakow

Berlin, 25. März 2017. Der Regisseur Dušan David Pařízek stellt mit Vorliebe Overhead-Projektoren auf die Bühne. Ein Markenzeichen. Es steht für die handwerkliche, betont unverkleidete Grundnote seines Theaters: Eine kleine Folie, vom Schauspieler selbst aufgelegt, gilt hier tausendmal mehr als hundert fette HD-Videos.

Horváthtypische Hinterhof-Gesellschaft

Zumal, wenn die Projektionen derart tragen wie an diesem Abend: Schön schreibmaschinenecht bedruckte Textblätter aus Ödön von Horváths "Niemand" gibt's in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu sehen. Zeugnisse einer bibliophilen Trophäe. Schließlich war dieses Frühwerk "Niemand", von Horváth mit 23 Jahren verfasst und 1924 einem Verlag übergeben, der bald darauf Pleite ging, gute 90 Jahre verschollen, ehe es 2015 bei einer Auktion wieder auftauchte und im September 2016 in der Wiener Josefstadt zur Uraufführung kam.

Niemand1 560 arnoDeclair hFiguren wie Fußnoten: Wiebke Mollenhauer (Ursula) und Marcel Kohler (Lehmann) vor dem projizierten Horváth-Typoskript  © Arno Declair

Pařízek blendet die Seiten aus dem Textbuch zu Anfang auf die im Parkettmuster des Fußbodens getäfelte Hinterwand seiner – von ihm selbst entworfenen – Bühne (eine Bühne, die im Übrigen an die Spielkartons von Jürgen Goschs Bühnenbildner Johannes Schütz erinnert). Es ist ein Fingerzeig: Pařízeks Spieler werden den Text betont zitathaft, in bewusster Halbdistanz angehen. "Sprich das mal ostiger", instruiert Franziska Machens als Prostituiere die junge Hilfesuchende Ursula alias Wiebke Mollenhauer. Man kokettiert mit dem Making-Of eines Milieustücks. Alles wird angetestet, angerissen. Ausmalen ist nicht.

"Niemand" entwirft eine horváthtypische Hinterhof-Gesellschaft: Huren und Zuhälter, Anstreicher, Bestatter, Kellnerinnen. Sie alle kreisen um den Wucherer Fürchtegott Lehmann, der als Pfandleiher die letzte Anlaufstation ist. Ein kurzbeiniger "Krüppel" ist Lehmann obendrein, verachtet vom gesamten Haus. Ursula wird mit ihm die Ehe eingehen, aus Hungersnot und aus Mitleid. Aber ihr gemeinsames Glück dauert nicht.

Stolzes Philologenwerk

Mit dem maroden Kleinbürger-Sujet verweist der Text auf Horváths späteres, längst klassisch gewordenes Werk (an dessen Durchbruch das Deutsche Theater Berlin mit der Uraufführung von "Geschichten aus dem Wiener Wald" 1931 selbst Anteil hatte). Im Ton ist es weniger lakonisch, eher expressionistisch aufbrausend, voll nietzscheanischem Pathos, eine Rebellion gegen Gott und die Welt. Gott vor allem. Er, dieser universale "Niemand", habe für die Menschen nur "höhnisches Lachen" übrig, sagt Lehmann, der Fürchtegott.

Pařízeks Dramaturgie interessiert sich für die Linien, die von "Niemand" ins weitere Schaffen Horváths weisen. Und also wird munter fremdes Textmaterial angelagert – vom "Wiener Wald" über "Glaube Liebe Hoffnung" bis zum militarismuskritischen Roman "Ein Kind unserer Zeit". Es sind im Grunde gelehrte Fußnoten, die von den Akteuren in kleinen Monologen zur Rampe geschafft werden. Stolzes Philologen-Werk.

Mit ihm beginnen die Probleme: Die Inszenierung sucht beständig den Kontrapunkt, noch ehe sie überhaupt ihren Punkt findet. Vom existenziellen Druck der Figuren ist wenig zu spüren unter dem dichten Schutzpanzer des Meta-Spielkonzepts. Dabei ist mindestens die Besetzung des kurzbeinigen Fürchtegott Lehmann mit dem baumlangen und bildschönen Marcel Kohler ein Clou. Wie Kohler aus all seiner Geschmeidigkeit die körperliche Versehrtheit des Lehmann herausschält, das hat schon was. Wie er ihn als eine Art Mackie Messer der übrigen Hausgesellschaft entgegenschleudert, das trägt über gewisse Strecken dieses Abends.

Redlich gedacht und gemacht

Aber in den anderen Figuren gibt sich Pařízek mit flüchtigen Skizzen zufrieden. Die Ursula von Wiebke Mollenhauer darf ganz (mit-)leidender Engel sein (wo ist ihr Ekel vor dem unpässlichen Gatten?). Franziska Machens scherzelt sich souverän durch ihre Dirnen-Partie. Frank Seppeler gibt als Kasperle Lehmann im Bruderkampf mit Fürchtegott Gas, Gas, Gas, auf soldatischer Typus gepolt. In seinen Wutreden, mit Einschüben aus "Jugend ohne Gott", geht die Inszenierung am weitesten darin, das historische Setting dieses Stücks in seiner faschistischen Latenz aufzuweisen.

Das ist redlich gedacht und gemacht. Und verpufft binnen Sekunden. Mag sein, dass Dušan David Pařízek, der an sich ein wundervoll analytischer Regisseur ist, bei diesem DT-Debüt letztlich nicht ganz bei seinem Stoff war. Ideendramen liegen ihm mehr. Schmerzlich ist seine weiträumige Umschreitung dieses noch zu entdeckenden Horváth-Textes trotzdem. Mit jeder Sekunde dieser Aufführung wächst die Erinnerung an Michael Thalheimers Geschichten aus dem Wiener Wald, 2013 hier am Deutschen Theater. Eine kolossale Schmerzenskomödie war das. Heute gab's nur gehobenes Papierrascheln. Tändelei fürs Philologen-Herz.

 

Niemand
Eine Tragödie in sieben Bildern
von Ödön von Horváth
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Musikalische Leitung: Marcel Braun, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Birgit Lengers.
Mit: Marcel Kohler, Franziska Machens, Wiebke Mollenhauer, Frank Seppeler, Kaspar Lehmann, Elias Arens, Lisa Hrdina, Henning Vogt.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Man zeigt die Theatermittel her, bleibt semi-ironisch auf Distanz, hält aber immer Tuchfühlung zur Tragödie. Man will halt einerseits keinen Milieukitsch produzieren, die Figuren andererseits aber trotzdem irgendwie ernst nehmen: Ein theoretisch nachvollziehbares Dilemma, das in der Praxis selten zu überdimensionaler Tiefenschärfe führt", beschreibt Christine Wahl die Inszenierung im Tagesspiegel (26.3.2017). Parízek entdecke Verbindungslinien zum späteren Werk und implementiere dem Text entsprechende Passagen. Das sei zwar plausibel gedacht und führe zu einer spürbaren Konkretisierung des Personals, nur gehe damit kein gesteigerter Nuancenreichtum einher. "Die Figuren bleiben an der Oberfläche – und sind, kaum steht man im Foyer, eigentlich auch schon wieder weg."

In unterhaltsamen zwei Stunden schildere Parízeks 'Niemand' eine sehr ferne Welt. Das mache einerseits die Stärke und die Aufrichtigkeit dieses Theaterabends aus: "dass er gar nicht erst so tut, als könnte das Los der Elendsmenschen, die der Autor Horváth hier mit etwas großkotziger Jungdichter-Attitüde vorführt, den heutigen Zuschauerinnen und Zuschauern ans Herz gehen und einen Spiegel der Gegenwart vorhalten",  schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel Online (26.3.2017). Andererseits enttäusche diese nette Revue die Sehnsucht nach einem großen Horváth-Streich. Schuld daran sei nicht der Regisseur, sondern die an diesem Abend offensichtliche Erkenntnis: "In 'Niemand' übte der Dichter Horváth noch."

Elisa von Hof schreibt in der Berliner Morgenpost (27.3.2017), Pařízek verfremde und ironisiere. "'Das ist Theater', schreit Fürchtegotts Bruder (Frank Seppeler) irgendwann. Dabei hatte man es ja nie vergessen." Unbedingt werd es auf der Bühne bloß, wenn man das Treppenhaus verlasse und endlich heranzoome an die Substanz der Leidenden – wie an Marcel Kohlers Fürchtegott. "Denn da lässt Kohler durchblitzen, dass da echter Schmerz ist unter dem Insektenpanzer. Dass da ein Mensch steckt, der vergeblich um Liebe bittet." Es seien diese – wenigen – Momente, in denen man einen echten von Horváth erkenne: "wenn die Maske fällt".

"Das ist schon alles ziemlich etüdisch, konstruiert und aufgeladen, vor allem machen die Gestalten, anders als man es heute von Horváth gewohnt ist, sehr viele Worte",
schreibt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (26.3.2017) über das Stück. Parizek habe aber bei allen Strichen nicht auf die originalen, interessanten Mängel des Stückes verzichten wollen. Er habe die Unreife, den rohen Pathos und den verschwatzten Furor nicht herausgefiltert, sondern gehe auf Abstand und lasse die Schauspieler ihre Theatermittel ausstellen. "Diese Verkünstlichung ist ein kluger Zugriff, mit dem auch jeglicher Sozialkitsch vermieden wird, der eigentlich zwangsläufig entsteht, wenn sich wohlsituierte Zuschauer unreflektiert mit armen Elenden identifizieren."

Pařízek "montiert Sinnsprüche und Monologe zu einem Horváth-Best-Of, das im Lauf des Abends immer zielloser wird", berichtet Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (28.3.2017). Anfangs agierten die Akteure mit "erfrischender Leichtigkeit" und Pařízek zeige "seine Kunst, mit einfachen Theatermitteln und leiser Ironie große Wirkung zu erzielen". Allerdings könne sich der Regisseur aufs Ganze gesehen "nicht entscheiden". Einerseits versuche er, "den Figuren psychologisch Futter zu geben"; andererseits probiere er, "das kafkaeske Moment des Textes in Bilder zu übersetzen", wenn die Spieler in grauen Anzügen als "lauter Niemande, die in der Masse verschwinden. Ob das bloß Sozialkritik ist oder schon Nihilismus, bleibt offen. Ebenso wie die Frage, was uns das heute zu sagen hat."

 

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