Sinnlose Rechtsbegriffe

von Esther Slevogt

Berlin, 15. Mai 2008. Dass es sich hier um ein Highlight des diesjährigen Stückemarkts handeln würde, war schon nach wenigen Minuten klar: An einem Tisch, auf dem ein paar billige Spielzeuge aufgebaut sind, sitzen die drei Schauspieler Brigitte Hobmeier, Sylvana Krappatsch und Thomas Schmauser und berichten in knappen und dennoch episch klingenden Sätzen, wie sie ein Kleinkind entführen, das später zu Tode kommt. In wenigen Minuten blickt man dann schon in die Abgründe dieser Tat. Dabei tut der flämische Dramatiker Klaas Tindemans nichts anderes, als was Autoren seit Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" tun: nämlich das Verbrechen aus der Lebenswelt des Täters heraus zu rekonstruieren.

Kinder, die Kinder töten

Doch was in Tindemans Stück "Bulger" entsteht, ist von psychologisch-soziologischer Erklärung weit entfernt: indem er die Zuschauer tief in Lebens- und Gefühlswelten der jungen Täter eindringen lässt, entstehen Bilder der Gewalt, Überforderung und Verwahrlosung, Atmosphären von Sehnsucht und Erfahrungshunger, Traum und Wirklichkeit. Vor allem aber von einer Welt, die die Kindheit abgeschafft hat und inzwischen so heillos ist, dass die Frage nach Schuld im Grunde nicht weiterhilft. Weil jeder Rechtsbegriff sinnlos wird, wenn die Gesellschaft in Auflösung begriffen ist.

Der Fall ist authentisch: in einer Shopping Mall in Liverpool entführten vor fünfzehn Jahren zwei zehnjährige Schulschwänzer den zweijährigen James Bulger und töten ihn später. Die Jungen wurden zu Jugendstrafen verurteilt und leben inzwischen irgendwo unerkannt mit neuen Identitäten. Die drei Kinder, an denen Tindemans in seinem Stück den ungeheuerlichen Fall von Kindern, die ein Kind töten, nun noch einmal durchspielt, haben mit den realen Tätern nichts zu tun. Das erzählen schon ihre assoziationsmächtigen Namen: Ramses, Justine und Shanya, die aus der Welt eines Fantasy-Computerspiels ebenso stammen könnten, wie aus der Archäologie oder Literatur.

Eine Friseuse auf dem Weg ins Moskau unserer Tage

Auch die hintergründige Komödie "Die Friseuse" von Sergej Medwedew hat es in sich. Mit dem Mitteln der romantischen Satire karikiert der russische Dramatiker das alte "Nach Moskau"-Sehnsuchtsmotiv von Anton Tschechows provinziellen "Drei Schwestern". Die titelgebende Friseuse Irina ist zwischen dreißig und vierzig und von den Männern enttäuscht, die ihr nichtsdestotrotz zu Füßen liegen. Ihr Stammkunde, der Richter Alexej Nikolajewitsch zum Beispiel. Oder der Feuerwehrmann Viktor.

Doch Irina liebt einen Mann, den sie per Annonce kennengelernt und noch nie persönlich getroffen hat. Jewgenij sitzt wegen Mordes an einer Frau im Gefängnis und wird später auch sie zu ermorden versuchen. Vorläufig schreibt er ihr Liebesbriefe und fabuliert von einem gemeinsamen Neuanfang in Moskau, wenn er seine Strafe abgesessen hat. Mit einigem Aberwitz lässt Medwedew seine Protagonistin das reale Glück zielsicher verfehlen und in die tödliche Falle ihrer naiven Glücksvorstellung gehen. Und rettet sie doch am Schluß. Fast jedenfalls.

Nonchalance und existenzielle Unbedingtheit

Sowohl Tindemans als auch Mewedew gehören nun zu den Siegern des Wettbewerbs der Theatertreffentalente-Plattform "Stückemarkt". Allerdings sind sie nicht gerade das, was man junge Talente nennt. Tindemans ist Jahrgang 1959 und ein promovierter Rechtsphilosoph, der erst spät zum Theater fand, und zwar durch seine Beschäftigung mit der Konstruktion des Rechtsbegriffs in der antiken Tragödie, über die er 1996 seine Doktorarbeit schrieb. Sergej Medwedew wurde 1960 in Rostow am Don geboren, damals allertiefste Sowjetunion, hat in Moskau zunächst Physik studiert und als Ingenieur bei der Roten Armee gearbeitet, bevor er nach dem Zusammenbruch der UdSSR Journalist und Texter für Rockbands wurde.

Und während die Arbeiten der anderen Stückemarkt-Teilnehmer Paul Brodowksy, Esteve Soler und José Manuel Mora Symptome der üblichen Kinderkrankheiten neuerer Dramatik aufwiesen: nämlich unausgegorene Charaktere, ein eher der Literatur als dem Leben abgelauschter Ton und die mitunter etwas streberhafte Verarbeitung von Medien- und Literaturerfahrung samt deren Stoffen, glänzten Tindemans und Medwedew mit einer gewissen existenziellen Nonchalance und einer Unbedingtheit, die sie vielleicht tatsächlich der Tatsache verdanken, dass sie zunächst das Leben und Denken lernten, bevor sie zu schreiben begannen. Denn dazu kommt heutiger Dramatikernachwuchs ja kaum noch, der, gerade den Kaderschmieden der Nachwuchsdramatik entwachsen, schon ins Verwertungssystem des Theaterbetriebs eingespeist wird.

Zwei Siegerstücke und zwei gelungene Lesungen

Die beiden szenischen Lesungen, in denen die Stücke vorgestellt wurden, demonstrierten aber auch bravourös, was bereits die szenische Einrichtung eines Textes an Wirkung erzielen kann. Johan Simons setzte seine drei hochklassigen Schauspieler an einen Tisch und ließ sie als die drei Kinder, die sie zu verkörpern hatten mit an Realismus grenzender Wahrscheinlichkeit operieren, kleine wechselseitigen Gewaltanwendungen inklusive. Trotzdem blieben Brigitte Hobmeier, Sylvana Krappatsch und Thomas Schmauser die ganze Zeit vor ihren Mikrophonen sitzen und vollbrachten das Meisterstück, lesend und sitzend Theater zu spielen.

Florian Fiedler und seine Bühnenbildnerin Manuela Pirozzi hatten sich als Schauplatz für Medwedews groteske Komödie die sogenannte Bornemann-Bar im ersten Stock des Berliner Festspielhauses ausgesucht. An den Wänden Fotos, die die Fotografin Erika Rabau in einem viertel Jahrhundert von Theatertreffengrößen geschossen hat – eine Ausstellung im Rahmen des Theatertreffens. Für die Lesung waren sie munter in Werbefotos für Frisuren umfunktioniert worden. "Föhnen drei Euro" stand da zum Beispiel frech unter einem Porträt Peter Steins. Hinter dem Bartresen saß dann Erika Rabau selbst. Im Verlauf des Abends wird sie mit schwächlich piepsender Stimme die Regieanweisungen verlesen.

Spaß im angemessenen Rahmen

Birgit Minichmair spielt Friseuse Irina als Lasziv-Naive zwischen Bodenständigkeit und Wirklichkeitsflucht. Jeanette Spassova ist ihre ebenso gestylte wie frustrierte Kollegin Tatjana, Sebastian Blomberg ein wahnsinnig komisch-tapsiger verliebter Feuerwehrmann Viktor, der zur Schädelrasur stets hingebungsvoll seinen Kopf auf den Tresen legt. Das Publikum kichert, und die Juroren kichern mit. Auch die Schauspieler können sich mitunter das Lachen über Medwedews Dialoge nicht verkneifen. Sogar im Gesicht von Thomas Krüger, dessen Bundeszentrale für Politische Bildung zwei Stückemarktpreise gestiftet hat, und der den Vorstellungen ansonsten eher im Halbschlaf folgte, wurde ab und zu ein Lächeln gesichtet.

Theatertreffen – Stückemarkt IV und V

Bulger. Eine unzulässige Geschichte
von Klaas Tindemans
aus dem Flämischen von Uwe Dethier
Szenische Einrichtung: Johan Simons, Bühne Julia Ries.
Mit: Brigitte Hobmeier, Sylvana Krappatsch, Thomas Schmauser.

Die Friseuse
von Sergej Medwedew
aus dem Russischen von Elina  Finkel
Szenische Einrichtung: Florian Fiedler, Bühne: Manuela Pirozzi.
Mit: Birgit Minichmayr, Jeanette Spassova, Sebastian Blomberg, Andreas Pietschmann, Markus John, Ernst Stötzner und Erika Rabau.

www.berlinerfestspiele.de

 

Hier finden Sie unsere Kritik zu Paul Brodowsky, dessen Stück Regen in Neukölln den ersten Teil des diesjährigen Stückemarkts bestritt. Und hier unsere Kritik zu Teil II und III des Stückmarkts, wo in szenischen Lesungen Contra el pogrés - Gegen den Fortschritt von Esteve Soler und Meine Seele anderswo - Mi alma en otra parteaus von José Manuel Mora präsentiert wurde.

Kommentare  
Stückemarkt IV&V: Klischee vom Denken und Leben
Was für ein Klischee! Das Leben und das Denken lernen! Als ob das etwas mit Lebenszeit zu tun hätte. Manche werden 70 und haben vom Denken und Leben keine Ahnung, manche sterben mit 24 und schreiben Woyzeck und Dantons Tod...
Stückemarkt IV&V: Klone des Literaturbetriebs
ach, sie sind aber naiv. theoretisch haben sie vielleicht sogar recht. praktisch wird unsere jungdramatik von jungen strebern dominiert, die ähnlich wie die politiker, nie die verhältnisse, die sie gestalten wollen, selbst kennenlernten, sondern lediglich das taktieren im parteiapparat. so wie unsere dramatiker inzwischen reine produkte des literaturbetriebs sind. klone, die aus den reagenzgläsern verschulter schreibstudiengänge, nachwuchsförderung und uraufführungsverwurstung stammen und längst verlernt haben, dass kunst so nie was werden kann. büchner, als er mit 24 starb, war schon arzt gewesen, hatte eine revolution gemacht, war ins exil gegangen. das war der humus für seine literatur. nur mal zum beispiel. der junge durchschnittsdramatiker von heute schreibt sein theater aus dem fernsehen ab. von der vermischtes-seite oder von irgendeinem vorbild, dem er nicht das wasser reichen kann.
Stückemarkt IV&V: Bulger intelligent, Friseuse Klischee
bulger war anrührend, intelligent, einfach, tiefsinnig und uneitel dargestellt, in Szene gesetzt und gespielt..leider bestand die friseuse dagegen aus klischees, die von einem deutschen autor verfaßt, wahrscheinlich von publikum und jury niemals akzeptiert worden wäre, dargestellt von extrem selbtdarstellerisch bezogenenen, eitlen, sich selbst viel zu bewußten, schmierigen schauspielern, allen voran birgit minichmayr, die inzwischen hochgelobt (bei anderen gelegenheiten zu recht), dieses mal aber abgrundtief peinlich und sehr übertrieben sich selbst und nicht den text feierten, es war manchmal schwer, hinzusehen, hören...das publikum lachte, aber so lacht es oft auch bei banaler comedy im tv...eigentlich schade, so einen enttäuschend-oberflächlichen stückemarkt-abschluß zu erleben...
Stückemarkt IV&V: Bevor einer schreibt ....
Wieso Klischee, fujitso? Das hat schon Christa Wolf geschrieben: Bevor einer schreibt, muß er leben. Das ist doch so und hat doch nichts mit dem Alter zu tun.
Stückemarkt IV&V: was fujitso meinte
eben das meinte fujitso, wie ich es verstehe. Das Leben nichts mit dem Alter zu tun haben muß...
Stückemarkt IV&V: Der Wahn der Bildungsbürger
Das glaube ich nicht. fujitso tat so, als würde einer von alleine ein Büchner. Man würde sozusagen schon als Büchner geboren und hätte deshalb auch schon mit zwölf sterben können, und trotzdem bereits seinen Danton oä geschrieben. Das ist eben der Wahn der Bildungsbürger. Deswegen hat sie jetzt die Dramatik, die sie verdient.
Stückemarkt IV&V: Was man nicht sieht, ist trotzdem da
...sie haben nicht die Dramatik, die sie verdienen. Sie haben die Dramatik die von den Theatern (aus was für Gründen auch immer-meistens ohne diese) ausgewählt wird um daran zu verdienen. Dramatik mit der man nicht ver-dient, ist nicht zu sehen. Doch wenn man etwas nicht sieht, heißt dies nicht, daß es nicht trotzdem da ist.
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