Vom Aufladen der Denkbatterie

Krakau, Juni 2008. Bis vor kurzem gab es im polnischen Theater die Position des Dramaturgen nicht. Das verändert sich gerade, Folge eines Wandels, dessen tiefere Ursache in den politischen und kulturellen Veränderungen nach 1989 liegt.

Von Szymon Wróblewski

Krakau, Juni 2008. In Lexika der polnischen Sprache wird das Wort "Dramaturg" als Synonym für "Dramatiker" geführt, und auch Theaterexperten machen oft keinen Unterschied zwischen den beiden Begriffen. Das entspricht den Verhältnissen im polnischen Theater, das bis vor kurzem die Position des Dramaturgen nicht kannte. Es gab und gibt zwar den Posten des Literarischen Leiters, der für die Textauswahl zuständig ist und bei der Erarbeitung von Inszenierungen assistiert. Ein Charakteristikum des polnischen Theaters, auch was die Auswahl und Bearbeitung von Texten angeht, ist aber bis heute die weitgehende Autonomie des Regisseurs.

Man denke nur an Jerzy Grzegorzewski, der für "Hamlet St. Wyspiańskiego" (Nationaltheater Warschau 2003) oder Tadeusz Różewiczs "Duszyczka" ("Animula", Nationaltheater Warschau 2004) selbst zusammengestellte Ausschnitte aus dem Werk Stanisław Wyspiańskis oder eben Różewiczs als Textgrundlage verwendete. Oder an Jerzy Jarocki, einen anderen großen Regisseur der älteren Generation, der in "Błądzenie" ("Irren", Nationaltheater Warschau 2004) Versatzstücke aus Gombrowiczs Leben und Schaffen zu einer eigenständigen Geschichte über Werk und Person des Autors montierte.

Diese und andere Produktionen entstanden ohne Dramaturgen, und auch der Einfluss des literarischen Leiters ist nur schwer bestimmbar, weil das polnische Theater kein allgemein etabliertes Modell für die Zusammenarbeit von literarischer Leitung und Regisseur kennt. Da zudem meist der Intendant entscheidet, wer an welchem Haus inszeniert, ist das Repertoire polnischer Theater oft eher Spiegelbild der Vorlieben des jeweiligen Intendanten als Ausdruck einer durchdachten Gesamtkonzeption.

Zu wem soll man jetzt eigentlich sprechen? Und wie?

Seit einigen Jahren lässt sich aber ein Wandel beobachten, dessen tiefere Ursache in den politischen und kulturellen Veränderungen nach 1989 liegt. Der Wegfall der Zensur, die wachsende Dominanz der Populärkultur und die Zersplitterung der Gesellschaft machten die bewährten Kommunikationsmuster zwischen Theatermachern und Publikum obsolet. Es stellte sich die Frage, zu wem und wie man sprechen soll. Nach 2000 gab es daher nicht nur eine Flut neuer Stücke und eine Reihe spektakulärer Regiedebüts (von Jan Klata über Maja Kleczewska, Michał Zadara oder Wiktor Rubin bis hin zu Michał Borzuch), die ein neues Publikum ins Theater lockten. Man orientierte sich auch verstärkt am deutschen Theater.

Berlin wurde zum Mekka für polnische Theaterschaffende. Neben ästhetischen Ansätzen übernahm man auch das deutsche Arbeitsmodell einschließlich der Funktion des Dramaturgen, das seither in immer mehr Theatern etabliert wird. Dabei geht es keineswegs um eine bloße Umbenennung, in der aus dem alten Literarischen Leiter der neue Dramaturg würde; es geht um einen neuen Arbeitsstil: Der Dramaturg wird vom Regisseur als Diskussionspartner hinzugezogen, um Fragen des Textes, der ästhetischen Form der Inszenierung oder der konkreten Arbeit mit den Schauspielern zu besprechen.

So hat Krystian Lupa, inzwischen selbst ein – wenn auch jung gebliebener – Nestor des polnischen Theaters, in seinem jüngsten Projekt am Stary Teatr in Krakau mit Iga Gancarczyk und Magda Stojowska zusammengearbeitet. "Factory 2" (2008) erforscht das New Yorker Künstlermilieu um Andy Warhol, der Text des Stücks entstand in Improvisationen der Schauspieler, unter Verwendung von Filmmaterial und unter von Lupa geschaffenen situativen Rahmenbedingungen. Gancarczyk und Stojowska waren als Dramaturginnen von Beginn an in das Projekt involviert. Sie besorgten das Material (Literatur, Filme, Tagebücher), auf deren Grundlage die Schauspieler ihre Figuren erarbeiteten. Die fast achtstündige Aufführung wurde zu einem Höhepunkt der laufenden Spielzeit.

Unter Verdacht der Minderbegabung

Beide Mitarbeiterinnen Lupas kommen von der Krakauer Theaterhochschule. Stojowska studierte dort Regie, und Gancarczyk ist eine der ersten Absolventinnen des 2002 auf Betreiben der Regie-Professorin Ewa Kutryś eingerichteten Studiengangs Dramaturgie. Im ersten Jahr studieren die zukünftigen Dramaturgen zusammen mit den Regie-Studenten, später gibt es neben gemeinsamen Veranstaltungen eigene Kurse: praktische Übungen, in denen eigene szenische Texte entstehen oder mit Schauspielern Szenen erarbeitet werden, theoretische Seminare zur Geschichte literarischer Topoi oder zur Theatergeschichte. Was noch fehlt, sind Übungen zum Einsatz neuer Medien im Theater und Seminare zur Gegenwartsdramatik.

Weil der Beruf des Dramaturgen in Polen keine Tradition hat, haftete den ersten Absolventen der Ruf an, sei seien "minderbegabte, schlechte Regisseure". Die Arbeit Iga Gancarczyks widerlegt dieses Vorurteil eindrucksvoll. Gancarczyk sagt aber auch – ebenso wie Stojowska –, dass sie am meisten durch die praktische Arbeit am Theater gelernt hätte, in diesem Fall am Stary Teatr. Beide waren an der Organisation mehrerer Auflagen des Festivals "baz@art", das sich aktuellen Tendenzen in der polnischen und internationalen Dramatik widmet, und an der Konzeption einzelner Spielzeiten beteiligt (das Stary Teatr ist eine der wenigen polnischen Bühnen, die seit einigen Jahren thematische Schwerpunkte setzt). Dank eines breit gefächerten Begleitprogramms rund um die Inszenierungen der Schwerpunkte "Romantik" (2005) und "Antike" (2007) – wissenschaftliche Tagungen und Kunstaktionen – gelang es, ein neues Theaterpublikum anzusprechen.

Das älteste Regie-Dramaturgie-Tandem bilden Paweł Miśkiewicz und Dorota Sajewska. Sie arbeiteten erstmals 2002 beim Festival Eurodrama am Teatr Polski in Wrocław zusammen (Sajewska war Übersetzerin eines von Miśkiewicz inszenierten Texts) und vertieften anschließend ihre Zusammenarbeit. Inzwischen haben sie – mit wechselndem Erfolg – bereits mehrere Arbeiten abgeliefert, darunter eine hervorragende Inszenierung von Dea Lohers "Unschuld" (Niewina, Stary Teatr Krakau 2004) und eine eher langweilige von Roland Schimmelpfennigs "Vorher/Nachher" (Przedtem/Potem, Stary Teatr Krakau 2006). Die Arbeiten des Gespanns kennzeichnet die Suche nach einer eigenständigen, sich ständig weiter entwickelnden Bühnensprache. Vor einigen Monaten übernahmen Miśkiewicz und Sajewska die Leitung des Warschauer Teatr Dramatyczny und man darf auf die Ergebnisse gespannt sein.

Noch haben die Dramaturgen keinen festen Platz

Auf ähnliche Weise wie Sajewska kam auch Monika Muskała zum Theater. Auch sie arbeitete erst als Übersetzerin und machte sich mit ausgezeichneten Übersetzungen der Stücke Werner Schwabs einen Namen, bevor sie Dramaturgin bei Michał Borczuchs "Lulu"-Inszenierung am Stary Teatr (2007) wurde. Mit dem bei der Neuübersetzung von Wedekinds Stück erworbenen Wissen unterstützte sie Borczuch bei seiner intelligenten, subversiven Interpretation des Textes. Piotr Gruszczyński dagegen war jahrelang Theaterkritiker, ehe er als Dramaturg mit Grzegorz Jarznya (TR Warszawa) und dem Opernregisseur Mariusz Treliński zu kooperieren begann. Andere Dramaturgen kommen aus der Theaterwissenschaft – Bartosz Frąckowiak etwa oder Łukasz Chotkowski, der seit einigen Spielzeiten am Teatr Polski in Bydgoszcz Geschmack und Interessen des Publikums auslotet.

Noch haben die polnischen Dramaturgen keinen festen Platz im Theaterbetrieb. Kürzlich fragte das Theatermagazin "Didaskalia" Regisseure, ob sie den Dramaturgen eher als intellektuellen Zuarbeiter in der Textarbeit sehen oder doch eher als Künstler, der in der Probenarbeit die Ästhetik der Inszenierung mitbestimmt. Die Antworten waren erwartungsgemäß sehr unterschiedlich, und letztlich müssen auch die Dramaturgen selbst ihren Weg und ihre Position zwischen diesen beiden Polen finden. Diese Aufgabe können sie einstweilen aber durchaus selbstbewusst angehen: Die von Kritik und Publikum meistbeachteten Premieren der letzten Spielzeiten fanden an Theatern mit fest angestellten Dramaturgen statt. Das gilt für renommierte Häuser wie das TR Warszawa oder das Krakauer Stary Teatr ebenso wie für Bühnen wie das Teatr Polski in Bydgoszcz, die sich erst einen festen Zuschauerstamm erarbeiten müssen. Zufall ist das sicher nicht.

 

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
 

 

Szymon Wróblewski
geboren 1983, ist Dramaturg und Dramatiker. Für sein Debütstück "Punkiet" (eine Mischung aus, auf deutsch, Punk und Bankett, etwa: Punkett) war er für den Kulturpreis "Pass" des renommierten Wochenmagazins "Polityka" nominiert. Sein Stück "die oberfläche" wurde in Theater der Zeit (4/2005) abgedruckt und im März 2007 am Theater Vorpommern, Greifswald inszeniert. Als Dramaturg arbeitete er am TR Warszawa mit René Pollesch zusammen ("Ragazzo dell’Europa"). Derzeit studiert er in Krakau Dramaturgie an der Staatlichen Theaterhochschule und arbeitet als Dramaturg am Stary Teatr.


Den ersten Theaterbrief aus Polen finden Sie hier, Neues aus Paris schrieb uns Ute Nyssen hier.

 

 

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