Ein Ausbruch von Wahnsinn

von Ralph Gambihler

Halle, 22. Juni 2008. Der bundesdeutsche Rechtsverteidiger Berti Vogts und sein Teamkollege Horst-Dieter Höttges sind Phantome. Und auch Sepp Maier, der Mann, der die Sensation nicht verhindern kann, führt ein geisterhaftes Leben in diesen 90 Minuten. Mit bloßem Auge jedenfalls ist keiner zu sehen. Aber was macht das schon! Jürgen Sparwasser hat jetzt seinen großen Moment. Energisch umkurvt er Höttges und Voigts, lässt den heran stürmenden Maier alt aussehen, schießt und Toooooooooor! – die Sensation ist perfekt.

Die Idee, aus legendären Begegnungen der Fußballgeschichte Theater zu machen, treibt den Performancekünstler Massimo Furlan nicht zum ersten Mal um. Er war bereits Michel Platini in dem WM-Halbfinale Frankreich gegen Deutschland 1982 und Hansi Krankl in dem Match Österreich-Deutschland bei der Weltmeisterschaft vier Jahre zuvor. Der Publikumserfolg seiner irrwitzigen Erinnerungssausen blieb nicht aus. Und so bot es sich an, dass der 43-jährige Italo-Schweizer auch ein Remake der Schicksalspartie von 1974 folgen lassen würde.

Das Trikot mit der Nummer 14

In Halle, beim Festival Theater der Welt 2008, war es nun soweit, auf den Tag genau 34 Jahre nach dem Wunder von Hamburg. Furlan trägt wie sein Vorbild das Trikot mit der Nummer 14. Mutterseelenallein kommt er auf den Platz im Halleschen Kurt-Wabbel-Stadion, macht zunächst Aufwärmübungen, nimmt dann Haltung an. Das Jugendblasorchester Halle schmettert die Hymnen. Es folgt der Anpfiff. Und während der Künstler nun seine Rolle als Sparwasser-Double spielt, einsam über den Rasen trabt, gestikuliert, rennt, dribbelt und grätscht, haben die Zuschauer die Vergangenheit doppelt im Ohr.

Kleine Transistorradios, die am Eingang verteilt wurden, übertragen die originalen Radiokommentare Ost und West. Man kann nach Belieben umschalten, vergleichen, auf klassenkämpferische Untertöne achten und feststellen, dass sie ausblieben.
Public Viewing gibt es an jeder Ecke. Dies nun war Public Listening, verbunden mit einem Geschehen, das unwissende Zaungäste für einen Ausbruch von Wahnsinn halten mussten. Furlan lief wirklich geschlagene anderthalb Stunden über den Platz, ohne Ball, dafür mit historisch korrekten Aktionen. Sonst passierte wenig.

Die Nation ist dahin, aber der Mythos lebt

Für sich besehen, war es absurd bis langweilig, was sich da vor rund 2000 zahlenden Besuchern abspielte, und gäbe es kein kollektives Gedächtnis, das sich aktivieren ließe wie ein Vogel, der plötzlich aufflattert, wäre es auch dabei geblieben. So aber bewegte sich vor den Augen des Publikums ein Nationalheld.

Seine Nation ist dahin, aber sein Mythos lebt. Als die 78. Minute naht, sind die Leute nicht mehr zu bremsen. Schon Sekunden vor dem Treffer recken sie die Arme und jubeln so lautstark, dass der Radiokommentar nicht mehr zu verstehen ist. Als Jürgen Sparwasser in der Pause leibhaftig vor dem Publikum stand, im Interview-Plausch mit Heribert Fassbender, dem West-Kommentator von einst, war die Freude groß. Die größten Emotionen aber schossen in der Erinnerung an jenes 1:0 – ein halbes Menschenleben danach.


22. Juni 1974, 21 Uhr 03, UA
von Massimo Furlan
Realisation: Massimo Furlan, Technik: Philippe de Rham, Physische Vorbereitung: Marc-Etienne Besson.

www.theaterderwelt.de/2008

 

Kommentar schreiben