Verrätselter Himmel, verrätselte Hölle

von Hartmut Krug

Halle, 27. Juni 2008. Die Bühne ist leer und die Welt ein mystischer Traum. Zwischen anfangs vier (und später mehr als doppelt so vielen) goldenen Spitzkegelbergen, deren Gitteröffnungen an Fenster denken lassen, schwitzt Gott, ein schmaler, kahlköpfiger Herr im langen weißen Mantel, bei seiner Arbeit ganz mächtig.

Denn er steckt in der Mühle seines Amtes, muss einen mächtigen Balken unentwegt im Kreise drehen und ganz ohne himmlische Heerscharen auskommen. Ein kräftiger, magisterhaft dunkel gekleideter Mephisto lässt sich derweil vom Erdgeist rote (Herz-)Tonscheiben vor die Flinte werfen und parliert mit dem Herrn kein bisschen unterwürfig.

Mephisto mit roter Fahne

Faust ist ein ebenfalls kahlköpfiger, aber weißbärtiger älterer Mann, der mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen auf der Suche zwischen den Kegelbergen ist, bis ihm vom Himmel ein Stuhl mit Büchern vor die Füße fällt. Wenn er nun die Magie benutzt, erscheint Mephisto mit dem Darsteller des Erdgeists, der ihn als Figur immer wieder unterstützt oder verdoppelt und dessen rote Frackschöße mit der roten Fahne in seiner Hand um die Wette flattern. Faust reiht sich in die Zweier-Marschgruppe ein, man schimpft und zeigt gen Himmel und trampelt auf den Boden. Das machen alle Figuren immer wieder während der Aufführung, denn die Geschichte spielt, nun ja, zwischen Himmel und Hölle.

Schließlich beißt Mephistos Doppel im Kampf mit Faust diesem ins Bein und beide Mephistos verschwinden. Darauf radelt Wagner mit brennender Kerze als Rücklicht herein, den Kopf auf einem Kissen auf den Lenker gelegt. Er meint wie bei Goethe, Faust deklamieren gehört zu haben. Weshalb Faust bei Eimuntas Nekrosius tatsächlich anfängt zu deklamieren. Denn dessen Faust-Version ist in einem Kunstland der faszinierenden und verrätselten Bilder angesiedelt, in dem die Darsteller deutliche Gesten – Kopf in den Nacken, Blick nach oben bei Bedeutung! – und bedeutsames Textaufsagen lieben. Über alles szenische Geschehen aber ergießt sich unentwegt eine wabernde Musiksoße (von Faustas Latenas).

Eine schwarze Geisterschar

Faust ist bei Nekrosius eine Theaterfigur, er wird weder individuell noch psychologisch, weder äußerlich noch innerlich entwickelt, jedenfalls zeigt es uns sein Darsteller Vladas Bagdonas nicht. Die wirkliche Welt, und sei es nur die von Goethe erdachte, gibt es nicht. Keinen Schüler, kein österliches Volk, nicht Auerbachs Keller, nicht die Walpurgisnacht, auch keine Kirche und keine Mädchen am Brunnen, und von Marthes Garten bleibt nur Gretchens Text  übrig. In der Hexenküche agiert Faust ganz allein, leert ein Glas und zeichnet seine Herzströme (?) auf den Boden.

Anstelle des bunten Volkes gibt es eine schwarze Geisterschar. Die baut sich malerisch magisch mit Spinnrädern in Gretchens Stube auf, schubst sich beim Faust vom Gifttrunk abhaltenden Glockenklang gegenseitig wie pendelnde Glocken hin und her, demonstriert Gewalttätigkeit mit großen Stöcken, bringt als wimmelnde Schar Fausts Bücherstapel auf dem Boden in wunderschön wehende Beweglichkeit oder marschiert, eingehüllt in eingerollte Planen und Faust immer wieder ausschließend, umher.

Poetisches Bildertheater

Die sich mächtig dahin ziehende, mehr als vierstündige Aufführung hat ihre erste Pause noch vor des Pudels Kern (der sich in einer Badewanne erweist) und ihre zweite vor dem Auftritt Gretchens. Der Regisseur vertieft sich in die Verbindung zwischen Faust und Mephisto, indem er alle ihre Texte so vollständig sprechen lässt, wie es bisher wohl nur Peter Stein getan hat. Bilder für die zwei unterschiedlichen Seelen sucht er allerdings nicht, sondern Bebilderungen für ihre Texte. Die sind oft faszinierend, auch wenn sie (für mich) in ihrem Bedeutungsgehalt nicht immer zu entziffern waren, während die andauernde rennende, springende, bedeutungsvoll gehende Beweglichkeit der Darsteller und ihre vielen absichtsvollen, abgezirkelten Gesten keinen tieferen Sinn zu haben schienen als den einer äußerlichen Lebhaftigkeit.

Gretchen, von der jungen Elzbieta Latenaite mit sprunghafter, hin und her flatternder Aufgeregtheit gespielt, kommt mit einem silbernen Reifen auf die Bühne, in den sie Faustas zieht und sich ihm nähert: wunderbar ihre Unsicherheit und Unfähigkeit, sich einem alten Faust mitzuteilen, der zwischen Anziehung und Angst hin und her gerissen ist. In der Gretchen-Tragödie wird aber auch besonders deutlich, wie Nekrosius zuweilen szenische Einfälle in unwichtigen Situationen lange ausspielt, z.B. wenn er Mephisto lange mit einem weiblichen Geist um das erste Kästchen für Gretchen kämpfen lässt. Das Geschmeide darin, an dem sich Gretchen ohne eine Frau Marthe erfreut, sind Spiegelscherben, in denen sie sich bewundert, an denen sie sich aber auch verletzt.

Wer poetisches Bildertheater und absichtsvolle mystische Verrätselungen mag und zugleich sehr ausgeruht ist, der ist bei dieser Inszenierung richtig. Wer allerdings Nekrosius "Drei Schwestern" und seinen "Hamletas" kennt, wird diesem doch allzu sehr von ältlichem Schauspielertheater bestimmten "Faustas" wenig abgewinnen können.


Faustas
von Johann Wolfgang Goethe
Ensemble Menos fortas aus Litauen (Vilnius), Regie: Eimuntas Nekrosius, Musik: Faustas Latenas, Bühne: Marius Nekrosius, Kostüme: Nadežda Gultiajeva.
Mit: Vladas Bagdonas, Salvijus Trepulis, Elžbieta Latenaite, Povilas Budrys, Vaidas Vilius, Kestutis Jakstas, Diana Gancevskaite, Viktorija Streiča, Viačeslavas Lukjanovas, Margarita Žiemelyte, Gabriele Kuodyte, Vladimir Dorondov.

www.theaterderwelt.de/2008

 


Kritikenrundschau 

In der Mitteldeutschen Zeitung (30.6., in der online-Ausgabe 29.6., 20.36 Uhr) freut sich Andreas Hillger über die Faust-Poetisierung des litauischen Regisseurs Nekrosius mit seinem Theater Meno Fortas: "Mit großem Atem und ausgesucht schönen Bildern erforschten die Künstler den Text als Fremdkörper und rückten ihn für das deutsche Publikum so in die Ferne." Dabei bedienten sie sich "einer Mischung aus religiösem Ernst und naivem Humor", wie sie bei uns schon lange nicht mehr möglich sei: "Faust an den Quellen des Mysterienspiels und Kaspertheaters." Doch auch die Gesellschaft komme in den Blick, wenn der Erdgeist etwa mit roter Fahne aufmarschiert. Die "sentimental vollgesogene Klangtapete" hinter allem störte den Kritiker indessen, während ihn das Schlussbild rundweg überzeugte: "Seine blutige Unterschrift unter den Pakt leistet Faust übrigens auf einem Seil, das zum gordischen Knoten geschlungen ist. Besser kann man die fortdauernde Herausforderung durch Goethes Tragödie kaum illustrieren."

In einem Halle-Zwischenstand-Artikel in der Berliner Zeitung (30.6.), in der sie beschreibt, wie sehr das Hallenser Theater der Welt trotz Gegenbestrebungen doch bei sich bleibe, befindet Doris Meierhenrich den "schlafwandelnden 'Faustas' " für "am meisten in sich verschlossen", obwohl Vladas Bagdonas immer wieder gegen den Bretterboden der Oper stampfe, "als suche er dort den Ausweg". In der Inszenierung von "Regie-Altmeister" Nekrosius sei er "zuallererst gefangen in einem Kokon aus überladenen Bühnenbildern und Choreografieeinfällen zwischen Kunstfertigkeit bis Kitsch". Man könne immer weiterdeuten, "doch nach einer Stunde spätestens schaltet sich das Gehirn aus und gibt sich der Synthesizerschmalzmusikschleife hin, die das vierstündige Faust I-Geschehen unterlegt. Schmerzfrei."

Für Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (7.7.) kommt Nekrosius’ "Faustas", "so altbacken, pathetisch und hohl" daher, "dass sie schon vor dreißig Jahren, als gegenwartsfernes Bildertheater noch Mode war, kaum Beifall gefunden hätte". Eine "extrem textarme, dabei vierstündige Turnstunde für Theatergesten (...), für die das Wort 'Kitsch' noch ein Kompliment ist", habe der "Giorgio Strehler Litauens" aus Goethes Stück gemacht. Vom Bühnenambiente fühlt sich Briegleb an "bemühtes Baumarktdesign für Gartenmöbel erinnert". Dazu hört er eine "pausenlose Musikgelatine filmtypischer Streicherakkorde", zu der Faust "mit eingeschweißter Sorgenfalte als Schlafwandler" umherparadiere und "überernst sein Best of Faust" spreche, "als seien die Worte Inhalts- und Kontextwaisen". Mephisto tue sich "durch ausdauernde rhythmische Gymnastik ohne Ball hervor", und Gretchen zeige eine "eineinhalbstündige Performance für nervtötende Klischees von Koketterie".

     
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