Die Menschheitsgeschichte, ein Spaziergang

von Otto Paul Burkhardt

Tübingen, 16. Juli 2008. Sie sind Publikumsbeweger, Landschaftsverzauberer, Querfeldeinschauspieler: Die Melchinger Lindenhöfler beherrschen vor allem eines ganz vorzüglich – den Theaterspaziergang. Hier wechselt das Publikum ständig den Ort, flaniert vorbei an Szenen in freier Natur, bummelt und schlendert durch eine theatralisch belebte Landschaft. Hölderlins Leben wurde so zur Neckarpromenade, Horváths Volkstheater zum Jahrmarktsparcours, ein Text von Werner Fritsch zum Höhlen-Trip. Im Albdorf Melchingen verkehrt jedenfalls die Theaterwelt, auch das BE-Urgestein Manfred Karge hat hier schon Regie geführt. Und mit dem "Schwabenblues", einer Geschichte der Mundharmonika (schwäbisch: "Goschahobel"), gastierte der Lindenhof bei Theater der Welt 2005.

Paradies betreten verboten 

Auch die neueste Produktion des Lindenhofs – "Aussem Paradies" – ist eine Theaterwanderung. Es geht um nichts weniger als die Menschheitsgeschichte, die eben mal en passant im Spaziergang erzählt wird. Das Publikum unternimmt einen kleinen Bummel – er beginnt im Paradies (einer Wiese über dem "Wankheimer Täle") und endet in der Realität heute (im ökoalternativen Französischen Viertel Tübingens). Einem Stadtgebiet also, das einst Kasernenareal war und nun durchaus als kleines städtebauliches, verkehrsberuhigtes Reißbrett-Paradies gilt. Die Quartierbewohner spielen mit. Theatergang und Stadtteilfest gehen fließend ineinander über.

Klar aber, dass das alte Paradies nicht zu betreten ist – ein per Bauzaun abgeschottetes Areal, in dem ein bizarrer Erzengel mit Schwert Patrouille geht. Und während er noch vollmundig Passagen aus John Miltons "Paradise Lost" rezitiert ("das schönste Paar, das je seither in Liebe sich umfing"), sieht die Wirklichkeit bereits anders aus: Bei Adam und Eva ist apfelbedingter Zoff angesagt, und der Herr höchstselbst poltert ein schwäbisch zürnendes "Heilix Blechle, des isch koi Luschtgarta" in diese menschheitstraumatische Urszene.

Lernpfad durch die Natur

Pathos gegen Mundart ergibt befreiende Ironie, ein pfiffiger Beginn. Dann folgt ein urgeschichtlicher Lernpfad durch den Wald, wo die Zuschauer mitansehen dürfen, wie ein Rudel unschuldiger Urmenschen von einem voyeuristischen Kamerateam gefilmt wird. Hundert Meter weiter verhallen Brechts Vorschläge ("greift zur Kelle, nicht zum Messer") ungehört: Ein paar Dreikäsehochs antworten mit lustvoll imitiertem MG-Geballere. Wir lernen: Des Dichters Friedensappelle sind in der Verwirklichungsquote noch immer optimierbar.

Im Schritttempo streift das Publikum weiter durch den Wald, vorbei an Szenen nach Shakespeare und Erich Fried. Bis eine stolze Reiterin auf einer Lichtung erscheint und Grillparzers Libussa zitiert: "Baut eure Stadt, denn sie wird blühn und grünen." Denn die nun ziemlich paradiesfern fortgeschrittene Zuschauermenschheit steht schon nahe am real existierenden Französischen Viertel. Dort sammelt sich der Zuschauerpulk in einer ehemaligen Panzerhalle. Der Rest des Theaterabends wird ganz konventionell im Sitzen absolviert.

Befreit sich der Mensch im Gemeinwesen aus alter Barbarei? 

Beim gemächlichen Outdoor-Schlendern im Freien konnte der Sample-Text von Siegfried Bühr und Oliver Moumouris noch assoziativ blühen – als ambulanter Bildungs-Parcours gewissermaßen. Doch im stationären Finale mutiert der Abend alsbald zur szenischen Lesung, zum bildungshuberischen Tübingen-Seminar. Regisseur Siegfried Bühr muss da mächtig gegensteuern – mit Städtechor und Stadtbluesballade, mit Stadtkanon und Stadtteil-Umfrage. Die Bühne präsentiert sich als offenes, mehrstöckiges Haus, bevölkert von Geistern oder realen Bewohnern, je nach Beleuchtung. Die Essenz: Erst im Gemeinwesen befreit sich der Mensch aus uralter Barbarei.

Immerhin: Heraus kommt unterhaltsam-besinnliches Brainstorming, im Turbotempo von Aristoteles bis Peter Sloterdijk und wieder zurück. An die Bildmächtigkeit der legendären Hölderlin-Spaziergänge des Lindenhof-Theaters reicht der neuerliche Tübinger Rundgang "Aussem Paradies" nicht heran. In vielen Phasen versprüht er den Charme einer theatral und stadtteilintegrativ aufgehübschten Zitatensammlung. Doch in besten Momenten, wenn  die Reiterin in der Dämmerung  verschwindet, wenn die Panzerhalle in vielstimmiger Poesie zu leuchten beginnt, findet im Französischen Viertel Welttheater statt.

 

Aussem Paradies
Konzeption und Buch: Siegfried Bühr, Oliver Moumouris
Regie und Bühne: Siegfried Bühr, Kostüme: Mechthild Kaumanns, Musikalische Leitung: Susanne Hinkelbein.
Mit: Philipp Becker, Sabine Bräuning, Moritz Brendel, Silvia Danek, Christian Dähn, Frank Deesz, Jakob Dinkelacker, Folkert Dücker, Moritz Gaa, Susanne Heigl,Oliver Moumouris, Reinhold Ohngemach, Leslie Roehm, Britta Scheerer, Linda Schlepps, Carola Schwelien und Bewohner des Französischen Viertels.

www.theater-lindenhof.de


Die Menschheitsgeschichte, ein Spaziergang

von Otto Paul Burkhardt

Tübingen, 16. Juli 2008. Sie sind Publikumsbeweger, Landschaftsverzauberer, Querfeldeinschauspieler: Die Melchinger Lindenhöfler beherrschen vor allem eines ganz vorzüglich – den Theaterspaziergang. Hier wechselt das Publikum ständig den Ort, flaniert vorbei an Szenen in freier Natur, bummelt und schlendert durch eine theatralisch belebte Landschaft. Hölderlins Leben wurde so zur Neckarpromenade, Horváths Volkstheater zum Jahrmarktsparcours, ein Text von Werner Fritsch zum Höhlen-Trip. Im Albdorf Melchingen verkehrt jedenfalls die Theaterwelt, auch das BE-Urgestein Manfred Karge hat hier schon Regie geführt. Und mit dem "Schwabenblues", einer Geschichte der Mundharmonika (schwäbisch: "Goschahobel"), gastierte der Lindenhof bei Theater der Welt 2005.

Paradies betreten verboten 

Auch die neueste Produktion des Lindenhofs – "Aussem Paradies" – ist eine Theaterwanderung. Es geht um nichts weniger als die Menschheitsgeschichte, die eben mal en passant im Spaziergang erzählt wird. Das Publikum unternimmt einen kleinen Bummel – er beginnt im Paradies (einer Wiese über dem "Wankheimer Täle") und endet in der Realität heute (im ökoalternativen Französischen Viertel Tübingens). Einem Stadtgebiet also, das einst Kasernenareal war und nun durchaus als kleines städtebauliches, verkehrsberuhigtes Reißbrett-Paradies gilt. Die Quartierbewohner spielen mit. Theatergang und Stadtteilfest gehen fließend ineinander über.

Klar aber, dass das alte Paradies nicht zu betreten ist – ein per Bauzaun abgeschottetes Areal, in dem ein bizarrer Erzengel mit Schwert Patrouille geht. Und während er noch vollmundig Passagen aus John Miltons "Paradise Lost" rezitiert ("das schönste Paar, das je seither in Liebe sich umfing"), sieht die Wirklichkeit bereits anders aus: Bei Adam und Eva ist apfelbedingter Zoff angesagt, und der Herr höchstselbst poltert ein schwäbisch zürnendes "Heilix Blechle, des isch koi Luschtgarta" in diese menschheitstraumatische Urszene.

Lernpfad durch die Natur

Pathos gegen Mundart ergibt befreiende Ironie, ein pfiffiger Beginn. Dann folgt ein urgeschichtlicher Lernpfad durch den Wald, wo die Zuschauer mitansehen dürfen, wie ein Rudel unschuldiger Urmenschen von einem voyeuristischen Kamerateam gefilmt wird. Hundert Meter weiter verhallen Brechts Vorschläge ("greift zur Kelle, nicht zum Messer") ungehört: Ein paar Dreikäsehochs antworten mit lustvoll imitiertem MG-Geballere. Wir lernen: Des Dichters Friedensappelle sind in der Verwirklichungsquote noch immer optimierbar.

Im Schritttempo streift das Publikum weiter durch den Wald, vorbei an Szenen nach Shakespeare und Erich Fried. Bis eine stolze Reiterin auf einer Lichtung erscheint und Grillparzers Libussa zitiert: "Baut eure Stadt, denn sie wird blühn und grünen." Denn die nun ziemlich paradiesfern fortgeschrittene Zuschauermenschheit steht schon nahe am real existierenden Französischen Viertel. Dort sammelt sich der Zuschauerpulk in einer ehemaligen Panzerhalle. Der Rest des Theaterabends wird ganz konventionell im Sitzen absolviert.

Befreit sich der Mensch im Gemeinwesen aus alter Barbarei? 

Beim gemächlichen Outdoor-Schlendern im Freien konnte der Sample-Text von Siegfried Bühr und Oliver Moumouris noch assoziativ blühen – als ambulanter Bildungs-Parcours gewissermaßen. Doch im stationären Finale mutiert der Abend alsbald zur szenischen Lesung, zum bildungshuberischen Tübingen-Seminar. Regisseur Siegfried Bühr muss da mächtig gegensteuern – mit Städtechor und Stadtbluesballade, mit Stadtkanon und Stadtteil-Umfrage. Die Bühne präsentiert sich als offenes, mehrstöckiges Haus, bevölkert von Geistern oder realen Bewohnern, je nach Beleuchtung. Die Essenz: Erst im Gemeinwesen befreit sich der Mensch aus uralter Barbarei.

Immerhin: Heraus kommt unterhaltsam-besinnliches Brainstorming, im Turbotempo von Aristoteles bis Peter Sloterdijk und wieder zurück. An die Bildmächtigkeit der legendären Hölderlin-Spaziergänge des Lindenhof-Theaters reicht der neuerliche Tübinger Rundgang "Aussem Paradies" nicht heran. In vielen Phasen versprüht er den Charme einer theatral und stadtteilintegrativ aufgehübschten Zitatensammlung. Doch in besten Momenten, wenn  die Reiterin in der Dämmerung  verschwindet, wenn die Panzerhalle in vielstimmiger Poesie zu leuchten beginnt, findet im Französischen Viertel Welttheater statt.

 

Aussem Paradies
Konzeption und Buch: Siegfried Bühr, Oliver Moumouris
Regie und Bühne: Siegfried Bühr, Kostüme: Mechthild Kaumanns, Musikalische Leitung: Susanne Hinkelbein.
Mit: Philipp Becker, Sabine Bräuning, Moritz Brendel, Silvia Danek, Christian Dähn, Frank Deesz, Jakob Dinkelacker, Folkert Dücker, Moritz Gaa, Susanne Heigl,Oliver Moumouris, Reinhold Ohngemach, Leslie Roehm, Britta Scheerer, Linda Schlepps, Carola Schwelien und Bewohner des Französischen Viertels.

www.theater-lindenhof.de


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