Hinlegen, zudecken, Kur machen

von Wolfgang Behrens

Berlin, 27. September 2008. "Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding", sinniert die Marschallin im Hofmannsthal/Strauss'schen "Rosenkavalier". 1913, zwei Jahre nach der Uraufführung der Oper, begann Thomas Mann mit der Niederschrift eines Romans, der diese Sentenz tausendseitig entfalten sollte: "Der Zauberberg" entführte seine Leser in ein Davoser Sanatorium, in welchem sich die Zeit in der Tat höchst sonderbar geriert – weil nichts passiert, scheint sie dort nicht vergehen zu wollen; ist sie aber einmal vergangen, so schnurrt sie in der Rückschau auf einen Augenblick zusammen, denn es ist ja nichts passiert.

Stefan Bachmann, dessen Inszenierung der Die Gottlosen von Paul Claudel in Berlin noch als besonders zeitraubend in Erinnerung ist, hat sich nun am Maxim Gorki Theater des "Zauberbergs" angenommen und gemeinsam mit Carmen Wolfram eine Bühnenfassung erstellt. Und siehe da: Die tausend Seiten des Romans schnurren auf schlanke zwei Stunden zusammen, und herausgekommen ist eine hübsche, konzentrierte, ja, eine heitere Etüde über die Zeit.

Dies gelingt, weil sich Bachmann – trotz der äußeren Kürze des Abends – Zeit nimmt. Denn zuallererst lässt der Regisseur sein Publikum zwölf lange Minuten lang mit einem stillen Bild allein: Auf der Drehbühne kreisen sechs Sanatoriumsliegen samt den regungslos auf ihnen verharrenden Patienten, die der unablässig aus dem Schnürboden rieselnde Kunstschnee einwattiert, während überm Bühnenportal eine Digitaluhr das zähe Verrinnen der Zeit anzeigt: 19:41, 19:42, 19:43, 19:44 ...

Aus der Zeit gehobene Rituale
Naturgemäß hält das Publikum, das, unmittelbar aus dem Flachland kommend, nicht auf Davoser Zeitrechung eingestellt ist, der Stille nicht stand, und bald beginnen das Tuscheln und die üblichen Zwischenrufe: "Wann geht's los?" "Wir ham's kapiert!" Um 20:05 wird der Held Hans Castorp übrigens selbst während einer Fiebermessung auf die digitale Anzeige schauen und ausrufen: "Aber wie lange dauert denn das?" Überhaupt ist Hans Castorp zu Beginn der Vertreter des "gesunden" Zeitempfindens: Marek Harloff, den die Sergio-Tacchini-Tennisshorts als scheinbar unverbesserlichen Schnösel aus dem Flachland ausweisen, spielt ihn mit jungenhafter Nonchalance, naiv und geradeheraus. Doch er erliegt zunehmend den aus der Zeit gehobenen Ritualen des "Berghofs".

Die Spielfassung von Bachmann und Wolfram findet für diesen fortschreitenden Verlust des Zeitgefühls einen schönen Dreh: Sie lässt Castorp mehrfach ankommen. Immer wieder, über den Abend verteilt fünfmal, spricht Harloff jene ersten Sätze der Romanerzählung: "Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen." Dazu erklingen die ins nahezu Unendliche geloopten ersten Takte des Klaviervorspiels zum Schubert'schen "Lindenbaum" – musikalische Metapher des Stillstands ebenso wie Anspielung auf das hier ausgesparte Romanende, das Castorp mit ebendiesem Lied auf den Lippen in den Ersten Weltkrieg entlässt

Grammophon und langsamster Walzer
Nach jeder erneuten Ankunft lässt sich Castorp schneller und tiefer in das Geschehen – oder besser: Nichtgeschehen – im Sanatorium verstricken. Die Patienten liegen sauber aufgereiht und auf exakt vorgeschriebene Weise in ihre Decken eingewickelt an der Bühnenrampe auf ihren Stuhllagern und zerreden die Zeit, oder sie tanzen mit Glanzpapierhütchen zu Grammophonklängen aus "La Bohème" – Fülle des Wohllauts! – langsamsten Walzer.

Geschieht doch einmal etwas, wenn etwa Miguel Abrantes Ostrowski als Herr Albin seinen Revolver vorzeigt (das heißt bei Bachmann in komischer Abweichung zu Mann: Er lässt die Hosen herunter und zieht blank), dann wird das routiniert mit standardisierten Sätzen abgebügelt: "Legen Sie sich hin, decken Sie sich zu, machen Sie Kur!" Eine heitere Atmosphäre breitet sich so über diesen "Zauberberg": Sätze, die als running gags durch den Raum schwirren ("Immer schön die Quecksilberzigarre ins Gesicht gesteckt! Messen kann nie was schaden"), und die verschroben-liebenswerte Personnage sorgen dafür.

Gegen den Strich besetzt
Bachmann besetzt dabei gerne gegen den Strich: Ronald Kukulies etwa gibt den feinsinnigen Aufklärer Settembrini überraschend hemdsärmlig, unduldsam und polternd, und Anja Schneiders Madame Chauchat vertauscht das gefährlich Mondäne ihres Charakters eher mit gezügeltem nordischen Charme.

Auf der Strecke bleiben muss in diesem fröhlich-gelösten Treiben jedoch das existentielle Drama Castorps. Mit dem "Schnee"-Kapitel, in dem Castorp träumend surrealste Dinge erschaut und überdeutlich den Ruf des tätigen Lebens vernimmt, sind sowohl Harloff als auch Bachmann überfordert – hier finden sie weder zum nötigen Ernst noch zum überzeugenden Bild, eine ziemlich albern geratene Geburtsszene zu "Lohengrin"-Musik ist alles, was dabei herausspringt. Es ist halt ein sonderbar Ding, so ein Roman – man bekommt ihn nie ganz auf die Bühne.

 

Der Zauberberg
nach Thomas Mann von Stefan Bachmann und Carmen Wolfram
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Felix Huber. Mit: Marek Harloff, Ruth Reinecke, Anja Schneider, Miguel Abrantes Ostrowski, Ronald Kukulies, Gunnar Teuber.

www.gorki.de

 

Mehr über Arbeiten von Stefan Bachmann, seine Hamburger Inszenierung von Calderóns Das Leben ein Traum im Juni 2008 lesen Sie hier, hier über seine Maria Stuart am Düsseldorfer Schauspielhaus im Februar 2008. Hier lesen Sie über Bachmanns Shakespeare-Inszenierung Maß für Maß am Thalia-Theater im Oktober 2007 in Hamburg, hier wie er im September 2007 in Wien Wajdi Mouawads Erfolgsstück Verbrennungen inszeniert hat. Und hier, wie Bachmann im März 2007 am Berliner Maxim Gorki Theater unter dem Titel Die Gottlosen Paul Claudels Coufontaine-Trilogie in einen Theaterabend fasste.

 

Kritkenrundschau

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2008), Stefan Bachmann habe Thomas Manns "Zauberberg" in eine "schöne Inszenierung" verwandelt. Das Problem der Nicht-Inszenierbarkeit eines Romans "fast ohne Handlung", mit Figuren als "Thesenträgern", löse Bachmann, indem er erst gar nicht versuche, dem "Text- und Gedankenlabyrinth" zu folgen. Stattdessen inszeniere er "eine Liegekur". Vor allem vergehe in der Aufführung die Zeit. Wenn nach zehn Minuten gemächlichen Kreisens der Drehbühne und herabsinkenden Schnees Hans Castorp zu sprechen beginne, "fühlt man sich als Zuschauer längst wie ein Mitpatient, der hier im kollektiven Dämmer eine Auszeit von der Wirklichkeit nimmt". "Schön", wie Marek Harloff den "unbedarften Hans im Unglück" als "großen Jungen" spiele, der sich in seinen konfusen Gedankengängen" verliert, ohne dabei "in die kabarettistische Denunziation seiner Figur abzurutschen". Die Inszenierung sei "ein Urlaub von der Wirklichkeit", "nicht unsympathisch", aber "nie beängstigend" oder gar "größere Fragen" aufwerfend.

In der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel (29.9.2008) beginnt Andreas Schäfer so: "Der überraschendste Moment dieses Theaterabend ist der erste". Als auf einer Anzeigentafel "1942" erschien, hatte Schäfer kurz gehofft, Bachmann verlege die Handlung vom Vorabend des Ersten Weltkriegs mitten hinein in den zweiten. Aber das "1942" über dem Portal signalisierte leider nur die aktuelle Uhrzeit, schließlich handelt der Roman von Thomas Mann von der Zeit. "Wie enttäuschend naheliegend". Bachmann, schreibt Schäfer, habe "alles Historische und fast alles Erzählerische" weggelassen und sich auf die Zeit selbst konzentriert. Aus der Vorlage habe der Regisseur als Zen-Meister nur einzelne Sätze herausgepickt, die er "in eine große Leere hineinsprechen", variieren und wiederholen lässt, um so "eine Atmosphäre von Unwirklichkeit" herzustellen. Neben Castorp seien keine Figuren zu identifizieren. "Obwohl dieser formalisierte Ansatz theoretisch interessant ist, haftet ihm ganz praktisch etwas Steriles und Geheimnisloses an". Von der Atmosphäre des Buches, seinem Witz, seiner Melancholie, den wunderbar reichen und zartverästelten Beziehungen" bleibe nichts übrig.

In der Berliner Zeitung (29.9.2008) schreibt Dirk Pilz: "Die Sache" habe durchaus "gezündet". Das sei angesichts der Textfassung, die "mutig gerade jene Romanpassagen" auslasse, "die nach theatralischer Umsetzung gieren", verblüffend. Entstanden sei "eine Séance, die nicht in die Breite und Tiefe erzählt, sondern von der Eigentümlichkeit unseres Zeitorgans". Wenn Castorp immer wieder neu ankomme und Marek Harloff seine "schnarrend kipplige, für die Figur Castorps wundersam passfertige Stimme" den Ankunftssätzen widme, werde dem Abend eine "wunderlich strudelnde Rondo-Struktur aus Wiederholungen, Modulationen, Variationen über dasselbe Thema geschenkt". Die Frage nach der Zeit mutiere dabei "unversehens zur Frage nach dem "Mondscheingespinst" namens Seele". Feiner Ironie sei es zu danken, dass die "handlungsarme Veranstaltung erstaunlich kurzweilig" sei. Mitunter herrsche "auf diesem Zauberberg" eine "so lustvoll moribunde Stimmung, dass er fast zum Komödienhügel" werde. Nicht immer überzeugend, dass die Figuren zu "lauter verwischten Persönlichkeiten" würden, "als Prinzip aber einleuchtend": Die "Sanatoriumsgesellschaft aus "reichen Genießern und Tagedieben" löscht die Unterschiede aus". Wo der Abend indes auf "den Knalleffekt" setze - Castorps Ausflug ins Schneegebirge – verliere er sich "in erstaunliche Unbeträchtlichkeiten".

Im Neuen Deutschland (1.10.2008) schreibt Gunnar Decker: "Mit Argwohn" sehe man Stefan Bachmanns Versuch entgegen, Thomas Manns Roman auf die Bühne zu bringen. Ob dis mehr werden könne als "ein zähes Nachspielen?" Ja, könne es. Bachmann gehe nicht "in die Falle des Epischen." Er "kontert die wundervoll-ironische Beredsamkeit Manns mit lauter Schweigen." Den "hier zu Ruhe und Muße Verdammten" fehle jede "innere Befähigung zum Müßiggang, der anderes ist als bloßes Nichtstun". So sähen wir "lauter stillgestellte Tatmenschen, defekte Handlungsträger". Dramaturgisch folge Bachmann "dem Prinzip: »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Die immer gleiche Szene wiederholt sich nun unter minimalen Abweichungen." Die Kranken bildeten einen "Chor der Untoten". "Wie Bachmann hier aus großer Distanz und sehr kühl daraufblickt – das wird zum sinnreichen Versuch über einen Roman."

Kommentare  
Zauberberg: knapp und knackig mit Empörungskundgaben
Treffende Kritik! Empfehlenswerte Vorstellung mit den Wermutstropfen Schneegestöber und Geburtsszene. Bemerkenswerte Dramaturgie- und Regiearbeit, den Zauberberg derart knapp und knackig darzubringen. Leider waren auch in meiner Aufführung ein paar Versprengte, die den Beginn des Stücks (12 Minuten Ruhe - das geht nun wirklich nicht) mit ihren eigenen, uninteressanten Empörungskundgaben störten. Aber das ging vorbei. Geduld ist die Sache des Publikums heutzutage nicht ...
Bachmanns Zauberberg: schlechtes Berliner Publikum
Die ersten zwölf Minuten passiert praktisch nichts auf der Bühne. Ich bin entsetzt, dass es erwachsene Menschen nicht schaffen, einmal zwölf (!!!) Minuten die Szenerie auf sich wirken zu lassen, ohne dass etwas passiert! Da wird nach spätestens fünf Minuten geklatscht, mit dem Nachbarn getuschelt, es kommt zu Zwischenrufen... Ein Armutszeugnis für das Berliner Publikum. Großes Kompliment für Miguel Abrantes Ostrowski! Die Momente, in denen er seinen kleinen, haarigen Revolver herausholt, sind wirklich gelungen und ein netter Anblick.
Bachmanns Zauberberg: Hamburger Publikum kaum besser
Mit Pause und Stille zu Beginn hat so manches Publikum Probleme. Den Hamburgern geht es mit "Liliom" nicht anders. Da muss der grandiose Peter Kurth die Buh-Rufe und das Geschwätz erdulden. Allerdings scheint es Thalheimers Inszenierung auch ein wenig auf Protest anzulegen.
Bachmanns Zauberberg: weich, zickig, ungeduldig
nun, das was sich an Ungeduld im Zauberberg zuträgt kann einem wirklich die Lust am Theater verderben, zu wissen, da sitzen so viele, die von ihren Erwartungen schon weich und zickig geprügelt wurden - ich war so angetan von dem Abend und zugleich sauer, weil ich mich dann doch mehr mit dieser Ungeduld befassen musste als mir lieb war. Berliner, weiß nicht, schade einfach
Kommentar schreiben