Die Halbwertzeit der Utopie

Von Hans-Christoph Zimmermann

Essen, 18. Mai 2007. "Es ist gar nicht laut hier", sagt die achtjährige Ranja. Sie steht in der Küche einer leeren Wohnung in Essen-Holsterhausen und gibt Heringssalat mit Kartoffeln an die Besucher aus. Ranja wohnt mit ihren Eltern ein Stockwerk darüber und wenn sie aus dem Fenster sieht, fällt ihr Blick direkt auf die Fahrbahnen der A 40, die zentrale Verkehrsader des Ruhrgebiets.

Und genau zwischen den beiden Autobahnspuren liegt die U-Bahnlinie 18, ein großes utopisches Projekt des Ruhrgebiets. Was heute städtebaulich, umwelt- und mobilitätstechnisch eine Katastrophe ist, war einmal ein visionäres Projekt. Um dieses Spannungsverhältnis geht es in dem Projekt "U(topie) 18/ Duismülsen", das die Gruppe raumlaborberlin als Koproduktion des Schauspiel Essen, des Mülheimer Ringlokschuppens und den Duisburger Akzenten realisiert hat.

Stadterkundungsprojekte im Schauspiel Essen

Seit Anselm Weber im Grillobau die Intendanz übernommen hat, gehören Stadterkundungsprojekte selbstverständlich zum Essener Spielplan. Unter dem Titel "Glaube Liebe Hoffnung" hat man in diesem Jahr zunächst die Subversionsaktionisten Hofmann & Lindholm eingeladen; danach spürten die Altenclub und Migrantenjugendliche dem Thema Liebe nach; und jetzt suchen die Stadtplaner, Architekten und Künstler von raumlabor nach der Utopie in der U 18, die als Verbindungsstrecke von Essen, Mülheim und Duisburg – deshalb der Titel "Duismülsen" – am 28. Mai 1977 eingeweiht wurde. Entlang der U 18 wird der Zuschauer auf eine Reise geschickt, auf der er die extrem kurze Halbwertzeit der Utopie erfährt.

Zunächst muss man sich aber zum Start der U 18 am Berliner Platz in Essen durchschlagen. Ausgestattet mit einem Zettel samt Wegbeschreibung stolpert man vorbei an gesichtslosen Neubauten, irrt durch die identitätslose Einkaufsmeile Limbecker Straße und landet dann auf dem Berliner Platz, auf dem gerade die größte innerstädtische Shoppingmall Deutschlands gebaut wird. Im Untergrund warten Mitglieder des verkehrshistorischen Vereins und vor allem Hans Ahl­brecht von den Essener Verkehrsbetrieben, der an der Planung der U 18 maßgeblich beteiligt war. Wenn er an einem Städtebaumodell die vier Ebenen des Essener Bahnhofs erläutert, ist er plötzlich da: der utopische Elan, die Begeisterung, die damals die Konstrukteure erfasst haben muss.

Utopie der polyzentrischen Ruhrstadt

Was die U 18 als begeisterndes Projekt erscheinen ließ, war die geplante Nahverkehrverbindung der Städte Essen, Mülheim und Duisburg. Zechensterben und Strukturwandel waren Auslöser der Idee. Wenn Arbeiten, Wohnen, Konsumieren und Erholen nicht mehr an einem Ort stattfinden konnte, Industrie- in Dienstleistungsgesellschaft sich verwandeln sollte, musste die Infrastruktur dazu geschaffen werden. Zugleich schwang darin die Idee einer gigantischen, polizentrischen Ruhrstadt mit. Und die U 18 sollte als ÖNVP-Achse die Mobilität gewährleisten.

Bereits an der ersten Haltestelle Savignyplatz zeigt sich den Besuchern gebaute Utopie: Rampen, Schallschutzwände, Übergänge. Eine Gruppe Breakdancer führte lärmumtost ihre Kunststücke vor; ist man eine Straße weiter ins adrette Viertel Holsterhausen vorgedrungen und kommt zu Ranjas Haus, herrscht absolute Ruhe. Nur ein leises Grundrauschen bleibt. Urbanität und Idylle grenzen hart aneinander. Nach der Bewirtung fährt man weiter zum Rhein-Ruhr-Zentrum, ein terrassenförmiges Einkaufszentrum aus den siebziger Jahren, erbaut vom Architekten Walter Bruhne nach dem Vorbild amerikanischer Shopping-Malls – in Waschbeton gegossene Dienstleistungsgesellschaft.

Sieben Meter lange, klemmende Wurst

Mit Hilfe von freundlichen Guides geht es nun auf Schleichpfaden mitten hinein ins Positivklischee des Ruhrgebiets: der Pott als grüne Lunge der Region. Verschlungene Pfade, Wald- und Wiesenstücke, Schrebergärten, die nach englischem Gartenstadt-Vorbild konzipierte Siedlung Mülheim-Hei­mat­er­de aus den 1920er Jahren -  Naturidylle pur. Bis dahin ähnelt "U(topie) 18" eher einer sehr guten Stadtführung. Die Rolle von raumlaborberlin bleibt fraglich. Immerhin ist das Thema der Gruppe um Jan Liesegang und Matthias Rick die Dynamisierung der Stadt. Gerade an öffentlichen Plätzen versuchen sie durch vorübergehende bauliche oder installative Veränderungen den Blick zu schärfen für die Eigenheiten des Ortes. Ob sie nun im Berliner Volkspalast einen begehbaren Berg errichteten oder ihr aufblasbares Gebäude "Küchenmonument" durch die Republik schickten.

Ein solches Küchenmonument in Form einer halbdurchsichtigen etwa sieben Meter langen Wurst klemmt nun auch am U-Bahnhof "Eichbaum", einem städteplanerischen Supergau. In der Hülle proben Musiker unter Ableitung des Improjazzers Christoph Dell. Danach geht es weiter zum Bahnhof in Mülheim und von dort mit Shuttlebus nach Duisburg. Vieles erschließt sich auf der dreistündigen Tour nur andeutungsweise; hier hätte man sich mehr Kommentare der damaligen Stadtplaner als Kontrastfolie gewünscht. Angeblich bietet der die Recherche dokumentierende Film mehr Anschauungsmaterial; er gehört aber nicht zum Tourprogramm. So bleibt am Ende die Utopie der 1970er Jahre zu wenig durch ihre Macher beglaubigt, die des Jahres 2007 dagegen zu sehr auf die Recherche fixiert.

 

U(topie) 18 / Duismülsen
von raumlabor Berlin
Konzept & Regie: Jan Liesegang, Matthias Rick.
Mit: Florian Riegel, Irene Bittner, Christina Liesegang, Katja Szymczak, Christoph Dell

www.schauspiel-essen.de
http://www.raumlabor.net

 

Kommentare  
U 18 Duismülsen
So ist es im Ruhrgebiet. Schwierig. Viele Menschen - wenig Geld. Im Rahmen des Länderstrukturausgleichs des vergangenen Jahrhunderts ist sehr viel Geld aus dem Ruhrgebiet in Richtung der armen Länder im Süden der Republik geflossen. Nur zu verständlich, dass die Utopien keinen Weg in die Jetztzeit gefunden haben. Das war ein kultureller Ausverkauf und Sie haben das Ergebnis sehen dürfen.
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