Cunniliguliere mich!

von Charles Linsmayer

Zürich 24.Oktober 2008. Wenn die acht Protagonisten sich nackt vor dem Publikum in eine Reihe stellen und zu Kalauern und spaßigen Bemerkungen langsam die Kleider anziehen, die Kostümbildnerin Su Bühler für sie bereitgelegt hat, könnte man noch annehmen, dass da nun wirklich etwas von dem ins Haus steht, was Justine del Corte mit dem Titel ihres Stücks evoziert. Aber wer die fünf Projektionsflächen und die Ansammlung von Kameras, Projektoren und sonstigen Gerätschaften ins Auge fasst, ahnt bereits, dass Matthias Hartmann die neun Kapitel des postmodernen Liebesreigens nicht eins zu eins, sondern technisch hochgradig verfremdet und eher virtuell denn realistisch in Szene setzen wird.

Und zwar wird den einzelnen Paaren nicht nur der Körperkontakt, sondern auch das individuelle Sprechen weggenommen und ins Vielfältig-Beliebige überführt. Das mit Mikroports ausgerüstete Ensemble trägt die Dialoge mit wechselnden Stimmen vor, während die jeweiligen Probanden sich nach anfänglichem Blickkontakt jeder und jede für sich vor einer Kamera einsam räkeln oder ausziehen, während die virtuellen Abbilder auf einer der Projektionsflächen zusammenkommen und dort so tun, als ob sie sich die Abgebildeten tatsächlich liebten bzw. als ob sie jene Bewegungen und Tätigkeiten ausführten, die als Liebe oder Erotik oder auch nur Sex misszuverstehen man allerdings nicht einen Augenblick lang in Versuchung kommt.

Eine Art Übungsritual

Es funktioniert nicht immer gleich, denn der elektronischen Möglichkeiten sind viele, und jene eine Szene, bei der sich zwei Protagonisten die ganze Zeit wirklich in die Augen sehen, ist zugleich auch die peinlichste von allen. "Cunniliguliere mich", sagt die 45jährige zum 21jährigen und bekommt Sätze zu hören wie "Ich will abspritzen" und "Ihre Votze schmeckt vermodert!" Da merkt man dann unvermittelt, wie sinnvoll es ist, dass die andern Begegnungen bloß virtuell stattfinden und immer gleich der Eindruck vermittelt wird, hier werde bloß eine Art Übungsritual abgehalten, das mit der Wirklichkeit nur sehr wenig zu tun hat.

So, in dieser spielerisch-unernsten Umsetzung, stört man sich denn auch nicht an Sätzen wie "Wenn er mich jetzt küsst, fall ich in Ohnmacht" oder "Hör auf, musste gerade an den Tod denken, Du warst schon verwest, ein Skelett, das mich fickt" oder "Du hast Dich unglaublich fruchtbar angefühlt!" All das ist ja gar nicht ernst zu nehmen, sondern ein Spass, den sich ein paar junge Leute erlauben, weil sie sich durch die virtuelle Filtriermaschine vor der Wirklichkeit und der Lächerlichkeit geschützt fühlen.

Spassig das junge Liebespaar, das durch den (von einer Sprühflasche gelieferten) Regen zu seinem studentischen Liebesnest geht, um da die große Ernüchterung zu erleben. Witzig das Ehepaar um die dreißig, das seine Zeugungsbemühungen in einer Puppenstube mit Gelenkpüppchen simuliert und sich nach schließlich vollzogener Zeugung einen Champagner gönnt. Köstlich die Parodie auf die mythische Schwanenliebe, die eine der jungen Schauspielerinnen vor einem Aquarium voll Seifenschaum zum Besten gibt.

Ganz locker und leicht

Bis es dann zu jener Szene mit dem unfreiwilligen Gigolo kommt und das Ganze am Ende doch noch zum Bierernst einer psychoanalytischen Bekenntnissuada mutiert: Sie hat Angst vor dem Nichts, das man mit Sex füllen muss, die alternde Frau, die die Männer vertreibt, weil sie es elfmal am Tag treiben will. "Der einzige Moment, wo mich die Angst verlässt, ist beim Sex. Ich fühle, dass man niemals alt ist, wenn man noch Sex haben kann. Der Tod ist nicht der größte Verlust, er ist nur der letzte."

Sie bekommt Justine del Cortes Text gut, die Virtualisierung, die Matthias Hartmann ihm angedeihen lässt, in diesem Unbestimmt-Spielerischen, Surreal-Unwirklichen verliert er viel von dem, was man leicht als geschmäcklerisch und abgeschmackt empfinden könnte. Sehr wichtig ist auch die Rolle von David Langhard und seiner Musik, die immer wieder ins Leichte, Rhythmisch-Getragene erhebt, was platt oder bemühend wirken könnte.

Und vor allem gebührt dem aus Katharina von Bock, Elena Nyffeler, Annelore Sarbach, Yohanna Schwertfeger, Simon Harlan, Christian Heller, Peter Holliger und Jörg Pohl bestehenden Ensemble ein großes Lob. Ganz locker und leicht, ohne jede Ziererei und Zurückhaltung, ganz offenbar mit Lust und Freude an den ungewöhnlichen Auftritten, ist dieses Team das eigentliche tragende Element des Abends, dem das Publikum auch in die verquersten Situationen und lächerlichsten Momente willig folgt und das am Ende ganz offensichtlich den Hauptteil des nicht gerade opulenten Premierenapplauses entgegennehmen konnte.


Sex
von Justine del Corte
Inszenierung: Matthias Hartmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Su Bühler, Musik: David Langhard, Video: Andi A. Müller, Stephan Komitsch. Mit: Katharina von Bock, Elena Nyffeler, Annelore Sarbach, Yohanna Schwertfeger, Simon Harlan, Christian Heller, Peter Holliger und Jörg Pohl.

www.schauspielhaus.ch


Mehr über Justine del Corte, die 1966 in Mexiko (als Tochter einer "republikflüchtigen" Hallenserin und eines mexikanischen Landwirts, der als Statist beim Film gelandet war) geborene Schauspielerin und Dramatikerin? Ebenfalls in Zürich inszenierte Roland Schimmelpfennig im Januar 2008 die Uraufführung ihres Stücks Die Ratte. Elmar Goerden brachte 2007 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen die Uraufführung ihres Bühnenerstlings Der Alptraum vom Glück heraus. Sex wurde im Rahmen der Hamburger Autorentage 2007 von Felicitas Brucker schon einmal als szenische Lesung präsentiert.

 

Kritikenrundschau

Ausgesprochen beeindruckt bespricht Marion Ammicht diesen Abend in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (26.10.). Fand sie Justine del Cortes "erotische Variationsfolge" beim Lesen zwar handwerklich perfekt, aber doch etwas spröde, hat ihr dann die Inszenierung die Augen für die Möglichkeiten des Stücks eröffnet. Nicht nur Matthias Hartmanns verführerische Inszenierung mit ihren "orgiastischen Vereinigungsszenarien und sehnsuchtsstrotzenden Bildern der Einsamkeit" – (die der Beschreibung Ammichts zufolge freilich manchmal erst in der Vorstellungskraft der Zuschauer erzeugt werden) –, sondern auch acht phänomenale Schauspieler, die Hartmanns Glückssucher spielen und alles geben würden. Aber auch der luzide Umgang mit Medien, Kamera und Projektionen tragen zum Eindruck der Virtuositöt im Umgang mit der Illusionsmaschine Theater bei. Es entstehe "Sex im Kopf" schreibt die Rezensentin. "Form und Inhalt küssen sich. Leidenschaftlich. Kein Trick der Natur. Aber ein verdammt guter Theater-Trick".

"Sex sells", weiß Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (27.10.), zweifelt aber stark daran, dass "der Umstand, dass ein Theater Geld verdienen will und muss, die Produktion dieses Gymnasiasten-Kamasutra" rechtfertige, das lediglich die Erkenntnis plakatiere, "Sexualität beschäftige die Menschheit nach wie vor". Wieso del Cortes "vergeblich nach Worten ringender Text den Weg auf die Bühne fand", sei ein Geheimnis, über das die Kritikerin nicht rätseln möchte. Hartmann lasse es jedenfalls "diskret verschwinden unter einer virtuos-opulenten Bilderflut, die von raffinierten Klangwellen umspült wird" – "Ein Schaumbad, immerhin!, der ästhetischen Sinne." Live-Musik und Videokunst verhülfen Hartmanns "Lust am multimedialen Experimentieren zum Gelingen eines effektvollen Gesamtkunstwerks", so dass "Sex" nicht nur "witzig, ironisch, manchmal betörend oder gar anrührend" sei, sondern gar "richtig sexy" wirke. "Herrlich schmollmundig", "stets reizend bis aufreizend zickig" sei Yohanna Schwertfeger, "großartig" auch Katharina von Bock, die als Psycho-Patientin in ihrem "Gesicht, offen, verletzlich, hilflos", "alles, was an Gefühlen möglich ist, in einem unbeschreiblichen Lächeln" versammle.

Zwar habe Hartmann "durchaus schon subtiler inszeniert", aber Subtilität sei schließlich auch nicht das Mittel del Cortes, schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (27.10.). Stark seien ihre Frauenfiguren, die "mit dem kleinen Tod – dem Sex – dem großen Tod die Stirn zu bieten" suchen. Das Ganze sei "Thesen-Theater, in Anekdoten verpackt", aber immerhin hätten Hartmann und seine Spieler "ein Händchen für die Verpackung", die aus "live produzierten Filmbildern", "ironisch-gefälligen Livesounds und -songs" sowie einem "gewaltigen Berg Spielfreude und Bewegungslust" bestehe. Jeder bekomme hier "einmal die Hauptrolle", die Schwertfeger und Pohl ob der "Leichtfüßigkeit", mit der sie "noch aus jeder Peinlichkeit eine Pointe heraustanzen", "ganz besonders verdienen". Der Regisseur arrangiere die Szenen "als Stimmen-Drama, Körper-Karaoke und Bildersimulation, nicht als Peepshow". Echt seien bloß die nackten Körper der Akteure. So brettere Hartmann "sozusagen ohne Helm und ohne Zurückhaltung durch die (post)dramatische Frage 'Wie behauptet die Bühne Welt?'" und habe mit "Sex" das "fleischlichste, welthaltigste Sujet (wenn auch nicht das beste Stück) dafür gewählt".

Achtmal gehe es "nur um das Eine", in diesem "modernen 'Reigen'", so Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (28.10.). Das Jubeln der Frauen auf dem Höhepunkt werde dabei zum "Stoßseufzer pantheistischer Lebensbejahung, ein Tantra-Mantra gegen Einsamkeit und Depression". Allerdings sei del Corte "kein Schnitzler, auch kein moderner": Wenn die i-Pod-Generation ständig "ficken" sage "oder gar aus ihrer geheimsten Tagebuchlyrik" zitiere, werde es "nur peinlich". Hartmann halte sich die "Schulmädchenromantik" mittels Distanzierung und Verwandlung per Videokunst vom Leib: "Sex im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" als "multimediales Schattenboxen". Wo del Corte nach "individuellen Geschichten" suche, lasse Hartmann "gut postdramatisch acht Schauspieler im Kollektiv" agieren, "in der dritten Person von ihren Phantasien" reden und sich virtuell verfehlen. "So wird die verlorene Unschuld und Unmittelbarkeit wenn nicht der Sexualität, so doch des Theaters videotechnisch rekonstruiert." Dies rette das Stück zwar "vor Kitsch und Peinlichkeit", aber aus Menschen würden dabei "kalte Sexmaschinen, die weder sich noch uns berühren".

Simone Meier schreibt in der Süddeutschen Zeitung (29.10.): "Zu acht steht das Ensemble splitterfasernackt in einer Reihe in der Schiffbauhalle – und klar freut man sich, denn den einen oder die andere hätte man echt schon lange gern mal nackt gesehen, und ja, da ist alles am rechten Platz, das Problem ist bloß, dass einen Nacktheit auf der Bühne auch so rasend schnell langweilt." Das Stück, sei allerdings "fern von einem Meisterwerk". Denn "es gibt da fein säuberlich assortierte, auf den Akt der Zwischenkörperlichkeit fokussierte Paarsituationen, (...) aber die Lebensweisheiten, die dazu mitgeliefert werden, sind manchmal eher den Drehbuchautoren der Angelika Kallwass würdig als einer Dramatikerin, die sich selbst ernst nimmt." Hartmann lasse sich davon allerdings nicht stören, er habe anderes im Sinn, "nämlich die Technik". Und die funktioniere "glänzend". "Da wird ein Blendwerk über ein mitteldünnes Stück ausgeschüttet, und siehe da: Plötzlich macht das Sinn! Plötzlich entstehen Emotionen!" Die Schauspieler posieren dabei "manchmal etwas schief, aber für die Kameras immer im perfekten Winkel". Meier hat aber auch eine starke Szene mit Schwertfeger und Pohl gesehen, in der "viel Gutes" zusammenkommt. "Der Rest ist Theater im Zeitalter seiner totalen technischen Produzierbarkeit."

 

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