Kein Land in Sicht

von Elena Philipp

Berlin, 8. November 2008. Ein schmaler Gang voll zerfetzter Bücher, eine Wand, an der ein grauhaariger Mann kauert – von fern das Grollen detonierender Granaten. Der Mann wagt nicht, sich den ersehnten Morgenkaffee aufzubrühen. Als er sich schließlich doch der Küche nähert, wirft eine Detonation ihn in den Gang zurück. Scheinwerfer leuchten ein Quadrat in eine weite, schwarze Fläche. Ein Häuserblock, ein Käfig? Der Mann, allein auf der Bühne, haut und sticht sich in einem imaginären Kampf den Weg frei, seinen Pullunder wie eine Sturmmaske über das Gesicht gezogen. Ein Schauspieler auf dem Weg zu seiner Vorstellung: "Warum kämpfe ich mich ins Theater durch, wenn das Drama draußen stattfindet?"

Zwei Monologe, zwei Erzähler. Der erste, der gerade mit der Unvereinbarkeit von Krieg und Kaffee-Aufbrühen konfrontiert ist, ist Mahmoud Darwish (François Abou Salem), ein hoch angesehener Dichter, der in Beirut im Exil lebt und dort 1982 den Libanonkrieg miterlebt. Der zweite, Taher Najib (Khalifa Natour), ist ein Schauspieler aus Ramallah, der 2002 während der zweiten Intifada nach Paris übergesiedelt ist und einige Monate später für ein Theaterengagement nach Israel zurückkehren will. Abou Salem hat mit "Ein Gedächtnis für das Vergessen" einen autobiographischen Prosatext von Mahmoud Darwish für die Bühne adaptiert, Najib verarbeitet mit "In Spuckweite" eigenes Erleben. Geschichten aus dem palästinensischen Alltag zwischen Krieg, Exil, Besatzung und Willkür.

Hauptdarsteller: die Sprache

Die beiden Gastspiele in arabischer Sprache sind Teil des 8. Festivals Internationaler Neuer Dramatik F.I.N.D. an der Schaubühne Berlin. Fokus ist das palästinensische Theater, nachdem im Vorjahr israelische Autoren und Gastspiele präsentiert worden waren. Die geladenen Inszenierungen arbeiten mit einfachen Mitteln: Jeweils ein Schauspieler, eine Bühne, einige Scheinwerfer, spärliche Requisiten, dazu Musik, Geräusche und – als Hauptdarsteller – die Sprache. Die orale Tradition lebt hier auf dem Theater fort – Gedicht- und Koranrezitation, die Erzähler auf den öffentlichen Plätzen, im Dialog mit ihrem Publikum.

Das Geschehen wird nicht mithilfe einer aufwändigen Theatermaschinerie auf der Bühne produziert, sondern rein sprachlich evoziert: Kein Bildertheater, sondern Kopfkino. Die Erinnerung an morgendlichen Kaffeeduft genügt, den Poeten Darwish innerlich in seine Heimatstadt Haifa zu entführen, wo er – und mit ihm die gebannt lauschenden Zuschauer – am Meer entlang zu seinem ehemaligen Haus schlendert. Mit seligem Lächeln balanciert er auf einem Bücherstapel, die Arme erhoben, das weiße Haar umlodert seinen Kopf: Der Dichter glaubt sich zu Hause angekommen – doch die Realität holt ihn unbarmherzig ein, er taumelt, stürzt. Denn er ist ein Heimatloser, in Beirut exiliert.

Vom Gurgeln, Nieseln, Rauschen

Draußen tobt der Krieg. Die Kunst, den perfekten Kaffee zu brühen, ist der Rest an Kultur und Zivilisation, der ihm geblieben ist. Das Meer, das der Dichter aus dem Küchenfenster in Haifa sehen könnte, überschwemmt in seiner Vorstellung sintflutartig seine Wohnung in Beirut. Auch der Bücherstapel bietet keine Rettung: "Ich sehe keine Taube", flüstert er in Anspielung auf die biblische Geschichte von der Arche Noah. Kein Land in Sicht. "Ein Gedächtnis für das Vergessen" ist ein elegischer Gesang über den Verlust der Heimat und eine Anklage an die zynische Welt, die das Schicksal der Palästinenser teilnahmslos in den Abendnachrichten abhandelt.

François Abou Salem spielt den Monolog zurückgenommen, wichtiger als körperliche Aktion ist der Blickkontakt mit dem Publikum. Er verleiht der Sprache eine eigene Körperlichkeit, wenn er etwa einen Katalog arabischer Wörter für Wasser und seine Attribute aus dem 11. Jahrhundert rezitiert. Bebrillt liest er vom Gurgeln, Nieseln und Rauschen des Elements, dreht sich wie ein Derwisch, bewegt die Laute im Mund wie Flüssigkeit. Bald haben die deutschen Untertitel in der Schaubühne vor der Flut der Wörter kapituliert – mehr als 120 Bezeichnungen für Wasser kennt das Arabische.

Nicht in Trance mündet die Eloge auf "El Äitsch-Tu-Ou", sondern in Tränen. Er sackt zusammen: "Doch wo gibt es Wasser?" Längst hat der Vermieter eine Willkürherrschaft errichtet und dreht den Bewohnern je nach Laune das Wasser ab. Wie soll er sich da seinen Morgenkaffee kochen? Schikane und Irrsinn strukturieren seinen Alltag.

Identität beweisen

Das gilt auch für den Protagonisten von Taher Najibs "In Spuckweite". Warum spucken die Palästinenser in Ramallah andauernd? "So ist eben die Besatzung!" Erklären kann das Phänomen niemand, aber die Besatzung taugt als Erklärung für alles. Vor dem Chaos flieht der Erzähler zunächst nach Paris – und später von der Traufe wieder zurück in den Regen: Oder dachte er im Ernst, als Palästinenser mit israelischem Pass ausgerechnet am 10. September 2002 problemlos nach Israel einreisen zu können? Er muss auf der Stelle seine Identität beweisen.

In der Mitte der Bühne stehend, beruhigt sich der Erzähler mit einem tiefen Atemzug und stemmt die Hände Richtung Boden. "Ich habe beschlossen, meine Nerven zu behalten, egal was heute passiert." Zwei Scheinwerfer projizieren Schatten: Links sein Israeli-Ich, rechts seine Palästinenser-Personalität. Dazwischen: er selbst. Erst am nächsten Tag darf er fliegen.

Mit komischer Verzweiflung und ausladender Gestik schildert der Schauspieler dann seine Ankunft in Tel Aviv. Hatten die französischen Sicherheitskräfte ihn – den potentiellen Terroristen! – bis ins Flugzeug begleitet, empfangen ihn auch die israelischen Beamten schon an der Flugzeugtreppe. Der Schweiß perlt auf seinem Gesicht, die Contenance ist hin, aber zumindest die Solidarität des Publikums ist ihm gewiss: So kann man doch nicht leben!

 

Ein Gedächtnis für das Vergessen
nach Mahmoud Darwish
von und mit: François Abou Salem
El-Hakawati-Company, Jerusalem

In Spuckweite
von Taher Najib
Regie: Ofira Henig. Mit: Khalifa Natour
Rukab Theatre Project/The Lab, Jerusalem

www.schaubuehne.de

 

Mehr über palästinensisches Theater? Ebenfalls als Gastspiel war in der Schaubühne Wajdi Mouawads Solostück Seuls zu sehen, das im Sommer 2008 beim Theaterfestival in Avignon uraufgeführt wurde. Der französische Regisseur Dominique Pitoiset inszenierte in der Schaubühne im Oktober 2008 Mouawads  Der Sonne und dem Tod kann man nicht in die Augen sehen. Mouawad ist auch der Autor des Stückes Verbrennungen, das in dieser Spielzeit eines der meistgespielten ausländischen Gegenwartsstücke ist.

 

Kritikenrundschau

Mit der Erinnerung, schreibt Christiane Kühl in der taz (11.11.), sei das so eine Sache. Den Ursprung des Palästina-Konflikts kennen jüngere palästinensische Theatermacher nur aus Erzählungen. Sie aber leben – in Ost-Jerusalem, in Gaza, in Israel oder im Exil – mit den Folgen, "in denen sich die Katastrophe beständig aktualisiert". Die szenisch präsentierten Stücke von Hussein Barghouti und Francois Abu Salem handeln beide vom Weggehenwollen und Nichtmehrzurückkehrenkönnen. "Eindrückliche Beispiele" für eine neue Ästhetik lieferten ihr die Gastspiele des bereits in Avignon gefeierten "Seuls" des Kanadiers Wajdi Mouawad und Taher Najibs "In Spuckweite". "Najib lässt einen Schauspieler von seinem Ekel und seiner Hassliebe zu Ramallah sprechen, von der Absurdität, dort Theater zu spielen (...) und den Demütigungen beim Versuch, als Palästinenser mit israelischem Pass zwischen den Städten zu reisen. Das geschieht ohne jede Larmoyanz in großer Klarheit, mit einer Aggressivität, die stets von Fassungslosigkeit besiegt wird. Weil es unbegreiflich und unmöglich bleibt, diese Verhältnisse als Status quo im 21. Jahrhundert zu akzeptieren."

 

 

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