Welche Darstellung braucht die Macht?

von Sandra Nuy

13. November 2008. "Wir wissen eigentlich nicht, was Politik ist, aber wir sehen, dass sie sich ereignet", schrieb einmal der britische Politologe William J.M. MacKenzie. Was wir dabei zu sehen bekommen, wenn Politik sich ereignet, folgt Darstellungsmustern, die sich als Inszenierung beschreiben lassen. Dies ist nun keineswegs ein neues Phänomen, sondern tritt ein, wann immer es eine Öffentlichkeit gibt, die es zu überzeugen gilt.

Schon die Redner auf der griechischen Agora bedienten sich performativer Strategien, um ihr Publikum für sich oder ihre Sache zu gewinnen. Wenn nun, wie es scheint, die Inszenierung zur Grundausstattung des Politischen gehört, so stellt sich die Frage nach Echtheit in der Politik. Um es gleich zu sagen: Hier ist Echtheit nur als inszenierte Echtheit möglich. Bereits Shakespeares bekannte Replik "Die ganze Welt ist eine Bühne" nutzt das Theater als Modell zur Erklärung von Gesellschaft. Die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften stehen dem nicht nach und sind sich – bei allen Unterschieden im Detail – darüber einig, dass Kommunikation immer auch eine Inszenierungsleistung enthält. Der Mensch spielt, im Leben und auf der Bühne.

Übergriff des Mediensystems auf die Politik

Übertragen auf politisches Handeln bedeutet dies: Wer politische Macht ausübt, benötigt zur Legitimation seines Handelns neben einer inhaltlichen, sachlichen oder normativen Orientierung ebenso eine Darstellungskomponente. Macht braucht Darstellung – zur Durchsetzung von Themen und Deutungen, zum Erhalt von Zustimmung und vor allem zur Erzeugung von Aufmerksamkeit. Wer in einer pluralistischen Gesellschaft wahrgenommen werden und seine Interessen durchsetzen will, benötigt die Aufmerksamkeit der Medien. In der Mediengesellschaft diktieren sie die Regeln, welche die politische Kommunikation nachhaltig beeinflussen.

Es sind medienspezifische Relevanzgesichtspunkte und Präsentationslogiken, nach denen das politische Geschehen geordnet, interpretiert und bewertet wird. Personalisierung, Entsachlichung, Dramatisierung und Emotionalisierung – in einem Wort: Inszenierung – gehören zum medialen Alltagsgeschäft der Politikvermittlung. Die Logiken des Mediensystems greifen, so der Politikwissenschaftler Thomas Meyer, auf das politische Geschehen selbst über. Die Politik passt sich an, inhaltlich, formal und ästhetisch. Politik wird nicht nur inszeniert: Politik inszeniert sich selbst.

Rückwirkung auf die Darstellung von Politik im Theater

Akzeptiert man diese These, so stellt sich die Frage, was das Theater seinerseits auf die Indienstnahme entgegnet. Wie wirkt die Inszenierung von Politik zurück auf die Darstellung von Politik im (Freien) Theater? Wie reagieren die Künstlerinnen und Künstler, die sich im Freien Theater mit Politik auseinandersetzen, auf die Ästhetisierung von politischer Öffentlichkeit? Und: Welche Rolle spielen dabei die Zuschauer?

Es ist auffällig, dass der medialen Konstruktion von politischer Wirklichkeit die künstlerische Dekonstruktion von Inszenierungsprozessen gegenüber steht. Je intensiver die Politik mit medialen Inszenierungs- und Darstellungsstrategien flirtet, desto stärker drängt es das Freie Theater zu dokumentarischen Formen, in denen die soziale Wirklichkeit protokolliert und möglichst authentisch festgehalten wird.

Die Grenzen zwischen Kunst und Leben werden dabei neu justiert: nicht nur, dass die Vierte Wand aufgehoben ist; gesucht werden Aufführungsorte außerhalb fester Häuser, inszeniert wird auf einen bestimmten – öffentlichen oder privaten – Raum hin. Die Entgrenzung der Theaterhäuser geht einher mit fließenden Übergängen zwischen sozialer Interaktion und theatralem Spiel. Entsprechend steht immer häufiger nicht mehr der professionell ausgebildete Schauspieler im Mittelpunkt der Performance, sondern diejenigen, die unmittelbar von sich selbst berichten.

Der Wahrheitsspieler als Gegentypus

Die Dialektik von Spielen und Zuschauen, in der sich Theater entfaltet, schlägt dadurch spannungsreiche Volten und die alte Theaterfrage nach Sein und Schein, nach Person und Rolle, Fiktion und Realität verdoppelt sich. Während in einer medialisierten Öffentlichkeit der Typus des Schauspielerpolitikers überhand nimmt, besinnt sich das Theater auf die Aura der Authentizität und arbeitet mit "Wahrspielern" (Handke). Die Performance auf der Bühne wird dabei zum Spiegelkabinett des Rollenhandelns. Auch der Zuschauer kann sich seiner Rolle nicht mehr sicher sein: mal ist er freiwillig-unfreiwilliger Mitspieler in einem theatralen Readymade, mal wird er unversehens zum Voyeur. Oft wird er in Bewegung versetzt, muss selbst den Raum – sei er nun innen oder außen – erkunden.

Das Publikum wird aus der schaulustigen Passivität im Dunkel des Guckkastens entlassen, gefordert sind stattdessen aktive Theatergänger, die offen sind für neue Seh-Erfahrungen und theatrale Erlebniswelten. Wahrnehmung wird durch die experimentellen, zeitgenössischen Theaterformen neu strukturiert. Auch diese Neuordnung von Sichtweisen enthält ein politisches Moment, verhindert es doch ein bequemes Sich-in-den-Umständen-einrichten.

Theatrales Verständigungshandeln

Politisches Theater ist dabei immer auch Verständigungshandeln. Wie unter einem Brennglas erforscht das Theater die Konfliktlinien einer Gesellschaft. Gegenwärtig stehen die Bedingungen für das Zusammenleben von Generationen, Nationen und Religionen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Migration, Integration und demografischer Wandel sind nicht nur Themen der politischen Debatte, sondern reichen weit in den Alltag und das Zwischenmenschliche hinein. Dieses Politische im Alltag greift das Freie Theater auf, oftmals mit Formen, die das traditionelle Theater lustvoll unterlaufen.

Eher diskursive, realistisch-dokumentarische Produktionen stehen dabei neben grotesk-verfremdenden Arbeiten und/oder solchen mit visueller Eindrücklichkeit. Die Spielarten des Politischen im Freien Theater lassen auch noch hinsichtlich des Themas und der Intention unterscheiden, wobei diese Elemente in veränderlichen Anteilen kombiniert werden können. Theater kann von Politik handeln, ohne zu politischem Handeln zu motivieren und Theater kann politisches Engagement nahe legen, auch wenn Politik in der Geschichte gar nicht vorkommt.

Maßstäbe liefern, die Politik interpretieren und bewerten

Theatrale Vexierbilder aus Echtheit und Inszenierung sowie die Magie des authentischen Ortes haben eines gemeinsam: Der Theatervorgang in seiner herkömmlichen Anordnung wird hinterfragt und zugleich in einer dialektischen Wendung bestätigt. Unabhängig davon, wo es sich befindet, dem Publikum ist immer bewusst, dass es einer Inszenierung beiwohnt und dass für die Dauer der Aufführung bestimmte Vereinbarungen über den Realitätsstatus des Dargestellten getroffen werden.

Dies unterscheidet das Theater auf der Bühne so maßgeblich vom Theater im Leben. Ersteres ist immer gerahmt und dies recht profan: Das Publikum bezahlt ein Entgeld, um sich Geschichten über das Leben erzählen zu lassen. Die Diagnose einer Politisierung des Theaters als Reaktion auf die Theatralisierung von Politik zieht die abschließende Frage nach sich, welche gesamtgesellschaftliche Rolle das Theater einnehmen kann. Das experimentell arbeitende Theater sieht sich in der Rolle eines Mediums, welches Maßstäbe liefert, nach denen Politik wahrgenommen, interpretiert und bewertet werden kann. Die pluralistische Unübersichtlichkeit der globalisierten Welt mag so buchstäblich ein Stück weit handhabbarer werden.

In seinem Essay "Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet", schrieb Schiller, dass "vielleicht Molières Harpagon noch keinen Wucherer besserte", dass aber die Gesellschaft sich mit Hilfe des Theaters über sich selbst zu verständigen vermag. Der Schaubühne gebührt bei Schiller die "Aufklärung des Verstandes". Etwas moderner formuliert: Wenn Politik im Theater verhandelt wird, ermöglicht dies Anschlusskommunikation. Das Gespräch über Vorstellungen, die man gesehen hat, ist elementarer Bestandteil einer politischen Öffentlichkeit, die auf diskursiven Maßstäben beruht.

Dokumentarische Formate decken Zusammenhänge auf

Das Theater als Kunstform, die stärker als jede andere das Zustandekommen von Öffentlichkeit zum Gegenstand hat, reflektiert die Standards für (politische) Normalität. Da diese immer stärker von performativen Strategien geprägt wird, eignet sich das Theater wie kein anderes Medium dafür, diese Inszenierungsmomente erkennbar zu machen. Das Verhältnis von Echt und Unecht, Tatsächlichem und So-tun-als-ob, kurz: das Verhältnis von Spiel und Ernst ist grundlegend für Theater.

Dokumentarisch arbeitende Formate verdecken diesen Zusammenhang nicht, sondern zeigen ihn auf. Daher eignen sie sich so gut, um die politische Welt in ihrer ästhetischen Überformung begreifbar zu machen. Denn um die Inhaltsebenen hinter dem Politspektakel zu erkennen, muss man lernen, das Reglement einer Inszenierung durchschauen. Das Theater ist in diesem Falle eine Instanz, die uns zu sehen lehrt, dass und wenn sich Politik ereignet.

 

Sandra Nuy ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen im Fach Politikwissenschaft und arbeitet als freiberufliche Theaterkritikerin in Köln.

 

 

 

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