Imaginierte Totenlandschaften

von Otto Paul Burkhardt

Tübingen, 5. Dezember 2008. Es ist Krieg. Immer irgendwo. Vielleicht nicht direkt im Stück. Bettina Erasmys 90-Minuten-Drama "Mein Bruder Tom" wirkt eher wie ein Nachhall des Kriegs: wie eine düstere Revue traumatisierter Seelen. Versprengte Soldaten, ein flüchtendes Paar, eine Kriegsfotografin und ein leichenfleddernder Organhändler bevölkern das Stück. Derweil bereiten sich zwei junge Kandidatinnen eines bizarren TV-Trainingscamps darauf vor, in den Krieg zu ziehen, um einen Verschollenen (ihren Bruder Tom) zu finden. Die Autorin skizziert eine Art Sekundärbild, sie lotet aus, was der Krieg mit den Seelen macht.

Bettina Erasmy, von Haus aus Dramaturgin, dann auch Regisseurin, ist beim Schreiben angekommen. Sie hat "Dr. Jekyll & Mr. Hyde" für die Volksbühne bearbeitet, ein Traumspiel über Goya für die Schaubühne geschrieben, Beckett als Musikdrama adaptiert und Meyrinks "Golem"-Roman fürs Theater Basel zugeschnitten – wer will, mag darin ein gewisses Faible fürs Expressionistisch-Surreale erkennen.

Afghanistan, Ruanda, Tschetschenien

Dies schwingt auch in ihrem Text "Mein Bruder Tom" mit. Der war 2007 beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens nominiert und gewann im selben Jahr gleich den Landesbühnenpreis des Deutschen Bühnenvereins – gemeinsam mit dem Landestheater Tübingen (LTT), das nun die Uraufführung besorgt hat. Irak, Afghanistan, Ruanda, Tschetschenien – Bettina Erasmy fasst real existierende Schauplätze hier zu einem großen, synoptischen, ortlosen Kriegsphänomen zusammen und zoomt vor dieser Folie auf innere Wüstenlandschaften.

Tom ist bereits tot und redet nur noch in der dritten Person über sich, während seine Schwestern Gloria und Ellen sich per TV-Schulungscamp zu Kampfmaschinen drillen lassen. Bereits Erasmys Text spielt ständig im Niemandsland zwischen Traum, Erinnerung und Virtualität. Regisseur Thomas Krupa verschiebt bei der Uraufführung am LTT nun vollends die Akzente und präsentiert ein durchgehendes Kriegs-Traum-Spiel. Die Regieanweisungen ("Eine Art Lagerraum. Von den Wänden rieselt Wasser...") werden auf der Bühne nicht verwirklicht, sondern nur laut verlesen, wodurch das Stück, das sowieso auf Meta-Ebenen spielt, einen weiteren abstrahierenden Meta-Dreh verpasst bekommt.

Grenzen der Darstellbarkeit von Krieg

Die Bühne – ein  paar Stühle, zwei Lautsprecher, sonst nichts – ist nur eine Spielfläche vor einer weißen Großleinwand. Und überhaupt: Alles ist immer doppelt belichtet – einmal als Bühnenszene und dann als (oft abweichende) Großbildprojektion auf den Seitenwänden des Theaters. Der Zuschauer, umzingelt von Abbildern des Kriegs – zumindest in dieser Hinsicht funktioniert das Regiekonzept. Doch Thomas Krupa, der schon so oft Texte mit dem surrealen Zauberstab in Schwebe versetzt hat (etwa Arne Lygres "Mama und ich und Männer" DSE in Karlsruhe), stößt hier an Grenzen, nämlich an die Grenzen der Darstellbarkeit von Krieg.

Denn die inszenierte Verknüpfung – hier Texte über Granateneinschläge, dort Nachtsicht-Filme – wirkt im Vergleich zur täglichen Nachrichten-Bilderflut redundant und erreicht stellenweise nur eine angestrengt behauptete Intensität. Dennoch, es gibt viele starke Momente. Etwa wenn Toms Schwestern, Gloria (Veronika Avraham) und Ellen (Katja Bramm) sich im TV-Wettbewerb zu furiosen, respektive kaltblütigen Pitbulls entwickeln. Oder wenn Tom (Johannes Schön) als somnambule Leiche einen leisen Frontbericht rappt, um dann mit Sky (Christian Dräger), einem skurrilen Krieger im Feldherrnmantel, durch imaginierte Totenlandschaften zu irren.

Groteske, packende Bilder

Derweil säbelt der Zyniker Laif (Udo Rau) den Toten ein paar wertvolle Organe heraus. Nur das flüchtende Paar – Robert (Gotthard Sinn) und Sophie (Katja Gaudard) – sorgt mit Weizenfeld-Visionen für berührende Gegenbilder in zeitlos kühler Meta-Kriegs-Künstlichkeit. "Sind wir überhaupt noch auf Sendung?" fragt jemand. Klar, der Videomann mit seinem Technikpult links am Bühnenrand ist fast immer präsent. Und Helena (Ina Fritsche), die agile Kriegsreporterin, macht ständig Fotos und brüllt auch schon mal: "Geht aus dem Bild!"

Kurz, Krupas Uraufführungs-Inszenierung hinterlässt einen durchwachsenen Eindruck. Dass er Erasmys konstruierte Studie etwas lockert und vollends ins Surreal-Assoziative kippt, geht oft, aber nicht immer gut. Sein Kriegs-Traum-Spiel schwankt – zeitweise kommt es zu artifiziell daher. Dann gibt es doch wieder groteske, packende Bilder. Während Erasmy die Flüchtlinge im Kriegs-Trainingscamp enden lässt (womit alles wieder von vorne beginnen könnte), betont Krupa die märchenhaften Seiten dieses Finales: Das Flüchtlingspaar sitzt friedlich da, Helena entpuppt sich als mögliche Tochter der beiden, und Bühnenschneeflocken schweben lautlos vom Schnürboden herab.

 

Mein Bruder Tom
von Bettina Erasmy
Inszenierung und Raum: Thomas Krupa, Kostüme: Sabina Moncys.
Mit: Veronika Avraham, Katja Bramm, Christian Dräger, Ina Fritsche, Katja Gaudard, Udo Rau, Johannes Schön, Gotthard Sinn.

www.landestheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

Die vier disparaten Erzählstränge von Bettina Erasmys Stück "Mein Bruder Tom" würden von Thomas Krupa unter dem "Oberbegriff 'Krieg' mit Macht und viel Video-Aufwand zusammengeknotet", so Veit Müller im Reutlinger General-Anzeiger (8.12.). So stark der Text auch sei, in Krupas Inszenierung gehe viel davon verloren, die verschiedenen Handlungsstränge ständen "recht blutleer nebeneinander" und würden "von einer Medienflut förmlich erdrückt". Das "optische Angebot" gerate "so bombastisch, dass man kaum noch weiß, wo man hinschauen soll": "Der Text geht in der Bilderflut unter." Gegen diese "Welle an überdimensionalen optischen Eindrücken" kämpften auch die Schauspieler "mit Mühe" an, wobei es ihnen kaum gelinge, "Eckpunkte zu setzen, an denen sich der Zuschauer festhalten kann". Fazit: "etwas überambitioniert und letztlich nur sehr schwer verdaulich".

 

Imaginierte Totenlandschaften

von Otto Paul Burkhardt

Tübingen, 5. Dezember 2008. Es ist Krieg. Immer irgendwo. Vielleicht nicht direkt im Stück. Bettina Erasmys 90-Minuten-Drama "Mein Bruder Tom" wirkt eher wie ein Nachhall des Kriegs: wie eine düstere Revue traumatisierter Seelen. Versprengte Soldaten, ein flüchtendes Paar, eine Kriegsfotografin und ein leichenfleddernder Organhändler bevölkern das Stück. Derweil bereiten sich zwei junge Kandidatinnen eines bizarren TV-Trainingscamps darauf vor, in den Krieg zu ziehen, um einen Verschollenen (ihren Bruder Tom) zu finden. Die Autorin skizziert eine Art Sekundärbild, sie lotet aus, was der Krieg mit den Seelen macht.

Bettina Erasmy, von Haus aus Dramaturgin, dann auch Regisseurin, ist beim Schreiben angekommen. Sie hat "Dr. Jekyll & Mr. Hyde" für die Volksbühne bearbeitet, ein Traumspiel über Goya für die Schaubühne geschrieben, Beckett als Musikdrama adaptiert und Meyrinks "Golem"-Roman fürs Theater Basel zugeschnitten – wer will, mag darin ein gewisses Faible fürs Expressionistisch-Surreale erkennen.

Afghanistan, Ruanda, Tschetschenien

Dies schwingt auch in ihrem Text "Mein Bruder Tom" mit. Der war 2007 beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens nominiert und gewann im selben Jahr gleich den Landesbühnenpreis des Deutschen Bühnenvereins – gemeinsam mit dem Landestheater Tübingen (LTT), das nun die Uraufführung besorgt hat. Irak, Afghanistan, Ruanda, Tschetschenien – Bettina Erasmy fasst real existierende Schauplätze hier zu einem großen, synoptischen, ortlosen Kriegsphänomen zusammen und zoomt vor dieser Folie auf innere Wüstenlandschaften.

Tom ist bereits tot und redet nur noch in der dritten Person über sich, während seine Schwestern Gloria und Ellen sich per TV-Schulungscamp zu Kampfmaschinen drillen lassen. Bereits Erasmys Text spielt ständig im Niemandsland zwischen Traum, Erinnerung und Virtualität. Regisseur Thomas Krupa verschiebt bei der Uraufführung am LTT nun vollends die Akzente und präsentiert ein durchgehendes Kriegs-Traum-Spiel. Die Regieanweisungen ("Eine Art Lagerraum. Von den Wänden rieselt Wasser...") werden auf der Bühne nicht verwirklicht, sondern nur laut verlesen, wodurch das Stück, das sowieso auf Meta-Ebenen spielt, einen weiteren abstrahierenden Meta-Dreh verpasst bekommt.

Grenzen der Darstellbarkeit von Krieg

Die Bühne – ein  paar Stühle, zwei Lautsprecher, sonst nichts – ist nur eine Spielfläche vor einer weißen Großleinwand. Und überhaupt: Alles ist immer doppelt belichtet – einmal als Bühnenszene und dann als (oft abweichende) Großbildprojektion auf den Seitenwänden des Theaters. Der Zuschauer, umzingelt von Abbildern des Kriegs – zumindest in dieser Hinsicht funktioniert das Regiekonzept. Doch Thomas Krupa, der schon so oft Texte mit dem surrealen Zauberstab in Schwebe versetzt hat (etwa Arne Lygres "Mama und ich und Männer" DSE in Karlsruhe), stößt hier an Grenzen, nämlich an die Grenzen der Darstellbarkeit von Krieg.

Denn die inszenierte Verknüpfung – hier Texte über Granateneinschläge, dort Nachtsicht-Filme – wirkt im Vergleich zur täglichen Nachrichten-Bilderflut redundant und erreicht stellenweise nur eine angestrengt behauptete Intensität. Dennoch, es gibt viele starke Momente. Etwa wenn Toms Schwestern, Gloria (Veronika Avraham) und Ellen (Katja Bramm) sich im TV-Wettbewerb zu furiosen, respektive kaltblütigen Pitbulls entwickeln. Oder wenn Tom (Johannes Schön) als somnambule Leiche einen leisen Frontbericht rappt, um dann mit Sky (Christian Dräger), einem skurrilen Krieger im Feldherrnmantel, durch imaginierte Totenlandschaften zu irren.

Groteske, packende Bilder

Derweil säbelt der Zyniker Laif (Udo Rau) den Toten ein paar wertvolle Organe heraus. Nur das flüchtende Paar – Robert (Gotthard Sinn) und Sophie (Katja Gaudard) – sorgt mit Weizenfeld-Visionen für berührende Gegenbilder in zeitlos kühler Meta-Kriegs-Künstlichkeit. "Sind wir überhaupt noch auf Sendung?" fragt jemand. Klar, der Videomann mit seinem Technikpult links am Bühnenrand ist fast immer präsent. Und Helena (Ina Fritsche), die agile Kriegsreporterin, macht ständig Fotos und brüllt auch schon mal: "Geht aus dem Bild!"

Kurz, Krupas Uraufführungs-Inszenierung hinterlässt einen durchwachsenen Eindruck. Dass er Erasmys konstruierte Studie etwas lockert und vollends ins Surreal-Assoziative kippt, geht oft, aber nicht immer gut. Sein Kriegs-Traum-Spiel schwankt – zeitweise kommt es zu artifiziell daher. Dann gibt es doch wieder groteske, packende Bilder. Während Erasmy die Flüchtlinge im Kriegs-Trainingscamp enden lässt (womit alles wieder von vorne beginnen könnte), betont Krupa die märchenhaften Seiten dieses Finales: Das Flüchtlingspaar sitzt friedlich da, Helena entpuppt sich als mögliche Tochter der beiden, und Bühnenschneeflocken schweben lautlos vom Schnürboden herab.

 

Mein Bruder Tom
von Bettina Erasmy
Inszenierung und Raum: Thomas Krupa, Kostüme: Sabina Moncys.
Mit: Veronika Avraham, Katja Bramm, Christian Dräger, Ina Fritsche, Katja Gaudard, Udo Rau, Johannes Schön, Gotthard Sinn.

www.landestheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

Die vier disparaten Erzählstränge von Bettina Erasmys Stück "Mein Bruder Tom" würden von Thomas Krupa unter dem "Oberbegriff 'Krieg' mit Macht und viel Video-Aufwand zusammengeknotet", so Veit Müller im Reutlinger General-Anzeiger (8.12.). So stark der Text auch sei, in Krupas Inszenierung gehe viel davon verloren, die verschiedenen Handlungsstränge ständen "recht blutleer nebeneinander" und würden "von einer Medienflut förmlich erdrückt". Das "optische Angebot" gerate "so bombastisch, dass man kaum noch weiß, wo man hinschauen soll": "Der Text geht in der Bilderflut unter." Gegen diese "Welle an überdimensionalen optischen Eindrücken" kämpften auch die Schauspieler "mit Mühe" an, wobei es ihnen kaum gelinge, "Eckpunkte zu setzen, an denen sich der Zuschauer festhalten kann". Fazit: "etwas überambitioniert und letztlich nur sehr schwer verdaulich".

 

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