Kommunarde Alceste

von Andreas Schnell

Bremen, 12. Dezember 2008. Der Blick ins Programmheft lässt nicht eben Gutes befürchten: Da wird Ulrich Enzensberger, einst Mitbewohner der Kommune I, zitiert, der die eigene Vergangenheit als erlesene Verirrung geißelt. Die armen 68er – müssen sie schon wieder dran glauben? Und in der Tat: Alice Buddebergs "Menschenfeind" muss sich mit den Marotten einer Horde grenzdebiler Psychos herumschlagen, die sich zwischen präpotentem Revoluzzertum und libertinärer Attitüde bestens amüsieren.

Molières tragikomischer Held Alceste ist ein radikaler Moralist, stets bedacht, die Wahrheit zu sagen. Dabei pfeift er auf den eigenen Vorteil, sonnt sich geradezu darin, wegen seiner Tugend von der verachteten Gesellschaft bestraft zu werden, weil er einem Dichter die Meinung über dessen jüngstes Sonett gegeigt hat.

Ächzende Analogie

Es wäre naiv anzunehmen, dass derlei nur im mittleren 17. Jahrhundert spielen könnte, als das Bürgertum sich gegen den Adel durchzusetzen begann und dessen Umgangsformen als überkommen kritisierte. Umgangsformen, denen zu gehorchen ist, kennt schließlich jede Herrschaftsform. Und so kreierte auch das Bürgertum, endlich zur herrschenden Klasse aufgestiegen, bald seinen eigenen Verhaltenskodex. Die Steilvorlage für den Bremer "Menschenfeind". Wie einst das Bürgertum gegen feudale Konventionen rebellierte, stand die Generation der 68er gegen die Übereinkünfte ihrer bürgerlichen Elterngeneration auf. Um hernach, so lehrt es dieser Abend, ihr eigenes bürgerliches Milieu zu kultivieren.

Bei näherer Betrachtung ächzt die Analogie indes beträchtlich. Das vorrevolutionäre französische Bürgertum hatte schließlich deutlich mehr auf der Agenda, als nur die Umgangsformen zu kritisieren, es wollte den gesellschaftlichen Umsturz. Zwar wird in Bremen gelegentlich von einer Studentenrevolution gesprochen, doch folgte dem Aufstand von 1968 ja keine Umwälzung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Wo Alceste als zwar Adliger, aber Rebell mit durchaus bürgerlichen Zügen gegen den Adel rebelliert, ist hier der Konflikt in das rebellische Milieu selbst verlegt. Was eine andere Deutung nahe legt – eine, die eben die Rebellion von 68 selbst als mehr oder minder pubertären Aufstand wildgewordener Bürger gegen Ihresgleichen zeigt.

Zur Schau gestellte Libertinage

Zwar fuchteln zwei Kommunarden mit Waffen herum, tragen Sonnenbrillen, coole Anzüge, dicke Hose, zwar gefällt sich Alcestes angebetete Célimène darin, erotische Libertinage zur Schau zu stellen, zwar wird ein rauschhaftes Erleben im Hier und Jetzt betont, doch ist dies der Logik des Stückes nach genau der gesellschaftliche Ort, von dem eine historisch überkommene Herrschaft ausgeht. Das wiederum würde bedeuten, dass die Rebellion der 68er der Kulminationspunkt wäre, an dem sich die Dekadenz des Bürgertums ausdrückt.

Dem Historischen Materialismus zufolge wäre Alceste dann ein Proletarier, dem es zuallererst darum ginge, mit seinen Klassengenossen die Produktionsmittel an sich zu bringen. Doch er kritisiert lediglich Heuchelei, ohne sich um deren Erklärung zu bemühen. Das ist einerseits das Zeitlose des Textes. Das ist andererseits ein Problem, will man den "Menschenfeind" als zeitgeschichtliches Stück spielen. Alcestes Freund Philinte darf ihn in Bremen als eitlen Gockel verspotten, als sympathischen, aber kleingeistigen Spielverderber. Die aber, die Alceste als Heuchler kritisiert, sehen wir im Abspann als Pop-Ikonen, als gescheiterte Existenzen, als Politiker und vor allem: als Bürger mit Familie und Eigenheim.

Dennoch durchaus unterhaltsam

Daraus die "Unmöglichkeit grundsätzlicher und somit auch heutiger Gesellschaftskritik" abzuleiten, wie es der Ankündigungstext des Hauses tut, mag nicht zwingend der Inszenierung anzulasten sein, hinterlässt aber einen schalen Geschmack, weil weder Molière noch Buddeberg sich auch nur des Versuchs einer solchen Kritik irgendwie verdächtig gemacht hätten.

Ungeachtet dessen ist dieser "Menschenfeind" eine eher harmlose, aber durchaus unterhaltsame Aufführung, die in einem reizvoll minimalistischen Bühnenbild (eigentlich nur ein Schwung Matratzen, wie man das aus Kommunen ja so kennt) zwar gelegentlich etwas klamaukig, aber durchaus mit Charme ein ganz spezielles bürgerliches Sittengemälde zeigt und darin durchaus treffende Pointen setzt. Das Ensemble hatte sichtlich Freude und agierte überwiegend souverän.

 

Der Menschenfeind
von Molière
Regie: Alice Buddeberg; Bühne und Kostüme: Sandra Rosenstiel; Musik: Stefan Paul Goetsch; Dramaturgie: Stephanie Beyer.
Mit: Daniel Fries, Sven Fricke, Guido Gallmann, Franziska Schubert, Varia Linnéa Sjöström, Eva Gosciejewicz, Tobias Beyer, Johanns Flachmeyer.

www.bremertheater.com


Mehr über die Regisseurin Alice Buddeberg? Im Dezember 2007 inszenierte sie in Jena die Uraufführung von Margareth Oberexers Flüchtlingsdrama Das Geisterschiff, im Oktober 2008 die Uraufführung von Thomas Melles Gen-und Stammzellenstück Schmutzige Schöpfung, ebenfalls in Jena. Einen anderen Menschenfeind inszenierte Altmeister Wilfried Minks im April 2008 in Hamburg.

 

 

Kritikenrundschau

In der taz Bremen (15.12.) findet Jan Zier, dass Alice Buddebergs Inszenierung des "Menschenfeinds" von Molière "zwar nicht durchweg überzeugend" sei, aber "sicherlich kein Anlass, weiteren Niedergang" am Schauspiel Bremen zu postulieren. Buddeberg versetze die Geschichte "in eine diffuse Post-68er-Umgebung", wobei der Rezensent vermutet, dass "die Analogie noch überzeugender wäre, würde sie konsequenter umgesetzt. Stattdessen verbleibt sie, ebenso wie die Geschichte selbst, ein wenig im Unklaren. Und ist deshalb, allem Charme und mitunter guten Einfällen zum Trotze, ein wenig harmlos. Am Ende bleibt der Eindruck eines Filmes, denn man nicht gesehen haben muss. Aber gut sehen kann, ohne es bereuen zu müssen."


"Na sowas, das Frollein Buddeberg traut sich was!" ruft ein(e) unter dem Kürzel su agierende(r) Journalist(in) in der Welt (15.12.) zu Beginn einer Kurzkritik aus. Die Regisseurin inszeniere den "Menschenfeind" als "respektlosen Abgesang auf die 68er-Revolution". Und der "süffige, mit Popsongs aufgemischte Persiflage-Cocktail" sei nicht nur beim jungen Publikum ausgesprochen gut angekommen. "Weniger überdrehter Aktionismus hätte allerdings nicht geschadet."

 

 

 

 

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