Das große Fressen

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 16. Januar 2009. Ein Kuss. Eine Berührung. Ein unendlich zärtliches Schauen. Eine schweigende Liebe. Eine Zeit, die steht, nicht vergeht, ein Sehnsuchtsraum ohne Grenzen, nur zwei Menschen, die füreinander geschaffen scheinen.

Und noch ein Kuss. – Das schöne Paar am Nebentisch der Kneipe ist kaum auszuhalten. Der Anzug und das Kleine Schwarze. Das gestylte Glück. Zweisamkeit, die schmerzt, provoziert, allen anderen in dieser Vorstadthölle Löcher in die kümmerlichen Seelen reißt. Dem fetten Kinderficker Schweindi und seiner vertrockneten Hasi, die ihre sexuellen Neurosen mit Simultanstricken unterjochen. Dem Herrn Jürgen, einem linkslinkischen Langhaarpädagogen, der über die Vereinigung der Menschen schwadroniert und bei der abgehalfterten Wirtin keinen hoch kriegt. Der Ausdruckstänzerin Fotzi, die jedem für eine Münze das schmuddlige Geschlecht ins Gesicht hält. Dem Karli, diesem dauererregten Adilettendjango, dem das Hirn aus der versifften Trainingshose tropft, während er seinem Opfertier Herta sekündlich ins Gesicht schlägt. Und dann, mittendrin in diesem herrlichen Bestiarium, wo die Illusionen und Träume in den Obstlern ertrinken, knutscht das namenlose schöne Paar.

Künstlich-kunstvoll versaut

Karli fragt, ob "die da drüben" überhaupt echte Menschen sind. "Wo die doch so fein und glatt sind, innen und außen, wie ein Eidotter." Die Antwort gibt er sich selbst. "Aber geben muss es ihr Leben irgendwie, weil unsere Augen diese Feinheitsmenschen anschauen müssen, also müsste man die da drüben auch niedersterben können." Die Orgie kann beginnen. Das Aufkratzen des Eidotters. Das Töten der Schönheit.

Bei den Radikalkomödien Werner Schwabs kann man normalerweise die Augen schließen. Man verliert nur wenig. Es sind ja vor allem auch: Hör-Stücke, die den einzelnen Schauspieler im günstigsten Fall in eine virtuose Sprechblase verwandelt. Das "Schwabisch" war und ist bis heute ein sprachgewaltiger Affront im Theater der dialogischen Konventionen. Schwabs Figuren sind linguistische Ungeheuer, nie authentisch, künstlich-kunstvoll versaut. Und auch wenn man weiß, dass der Österreicher sein halbes Leben in grässlichen Gaststätten verbracht hat, reicht das als Erklärung für diese einzigartige Sprachartistik nicht aus: Für das musikalische Monologisieren, für das mäandernde Sprechen als Ausdruck einer egomanischen Selbstinszenierung, für diesen derbpoetischen Nominalstil, für die schizoiden Subjekt-Objekt-Vertauschungen.

Jauseln in der Fruststätte

Bei "Übergewicht, unwichtig: Unform" wird das Sehen allerdings zum dramaturgischen Antrieb. Hier ist es gerade das Schweigen, der wortlose Glückszustand, der die gaffende Meute zum Exzess treibt – und dies makabre Volksstück, ein wilder Horvath'scher Enkel, in eine amüsante Volksvernichtung münden lässt. Mit anderen Worten: Es wird herrlich eklig und blasphemisch.

Im zweiten Akt rülpsen sie aus ihren Ecken, blutverschmiert, schmatzend, voll gefressen. Man hat sich das schöne Paar, also den Leib Christi, einverleibt. Karli, gespielt von Sebastian Schwab, leckt einen Rippenbogen sauber, Anja Brünglinghaus' sehr eindrückliche, weil unsentimentale Fotzi streichelt noch einen Schädel. Aus den Eingeweiden meldet sich das Gewissen, auch wenn der Karli sagt: "Wir haben nur gejauselt". Zeit für eine Andacht, für ein wenig Religion. Zeit für eine Marienverehrung à la Schwab. Aus Claudia Renners gedemütigter Schlampine Herta wird nun eine auftrumpfende, beseelte Jungfrau, die sich auf der Theke beinspreizend die Zehen lutschen lässt, im lustvollen Takt zu Roland Kaisers kitzliger "Santa Maria"-Schmachterei. Man erfährt eher beiläufig, dass solche Verköstigungen in dieser schmierigen, holzigen, dunkel-dumpfen Gast- und Fruststätte (Bühne: Robert Schweer) häufiger vorkommen.

Übertrieben Ditsche

Der Regisseur Stephan Rottkamp hat fast alles richtig gemacht, das Ensemble diszipliniert und der Sprache Schwabs die Klarheit verschafft, die sie braucht, um ihre narkotisierende Wirkung zu entfalten. Manchmal scheint es, als würde hier riesige, süße, blutig-rohe Textbrocken an das Publikum verfüttert, auf dass es sich den Kannibalen auf der Bühne anverwandelt.

Die Kürzungen am Text (Dramaturgie: Kekke Schmidt) geraten schlüssig, und haben den einzigen Zweck, die textuelle Nullstelle, eben das besagte schöne Paar, in den Vordergrund zu rücken. Und wie. Benjamin Grüter und Lisa Wildmann beäugen sich inmitten der Sprachkaskaden minutenlang, küssen sich, lieben sich, elegant, völlig in sich gekehrt, weltabgewandt. Eine wundersam irdische Epiphanie, eine sehr heutige zudem, weil die Liebe zweier Menschen in unserer Welt einem unerhörten Gottesbeweis gleicht. Im dritten Akt werden die Schönen schließlich wieder auftreten und die Doofen in der Kneipe verhöhnen, wie der bürgerliche Theatergucker, der sich regelmäßig am ausgestellten Elend in so genannten Sozialdramen ergötzt.

Fast alles ist gelungen. Doch in die Komödienfalle ist Rottkamp mit seiner Inszenierung trotzdem getapst. Die zu lächerliche Kostümierung, der übertriebene Ditsche-Style, das will nicht passen und nimmt den clownesken Figuren von Beginn an die Härte, das Bedrohliche, das allzu Gewöhnliche. Karli und Schweindi sind uns nämlich ähnlicher als es der Klamottenfundus erlaubt. Das schöne Paar weiß das. "Man muss die Dinge an die Wand stellen, damit man wissen kann, woran man ist vor den Dingen", sagt Hasi einmal. Recht hat sie.

 

Übergewicht, unwichtig: Unform. Ein europäisches Abendmahl
von Werner Schwab
Regie: Stephan Rottkamp, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Kirsten Dephoff, Musik: Cornelius Borgolte, Dramaturgie: Kekke Schmidt.
Mit: Florian von Manteuffel, Martin Leutgeb, Marietta Meguid, Sebastian Schwab, Claudia Renner, Anja Brünglinghaus, Susana Fernandes-Genebra, Benjamin Grüter, Lisa Wildmann.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr Werner Schwab? Seine Präsidentinnen sahen wir am Deutschen Theater Berlin.

Kritikenrundschau

In den Stuttgarter Nachrichten (19.1.2009) schreibt Nicole Golombek: Stephan Rottkamp und seine Dramaturgin Kekke Schmidt hielten sich bei ihrer Inszenierung sehr weit gehend an die Anweisungen des Autors Schwab. Rottkamp verzichte "auf plumpes Vorführen der Kannibalenszene", doch hätten der "Radikalkomödie" zügigere Umbauten, "mehr Radikalität" und etwas weniger skurrile Kostüme gut getan. Lisa Wildmann und Benjamin Grüter als "das schöne Paar" machten "die Inszenierung zum Ereignis. Dreißig Minuten lang sitzen sich die beiden Schauspieler gegenüber, sie sprechen kein Wort. Tiefe Blicke, blitzende Augen, sanfte Berührungen, zarte Küsse." Das sei die Liebe, die naturgemäß die anderen den "Depp", die "Heilige Jungfrau", die "Spießer", die "bauernschlaiue Sadistin" und die "arme Irre", aufregen, die so ein Glück nicht haben. Nachdem die Bagage diese beiden, die sich selbst genug sind, in Stücke gerissen hat, kehrt das Paar im dritten Akt wieder. "Diesmal erlebt man ein kühl dekadentes Duo, das sich zur Belustigung in eine Unterschichtkneipe setzt."

In der Stuttgarter Zeitung (19.1.2009) schaudert es Adrienne Braun vor Schwabs Radikalkomödie: Sein "Übergewicht, unwichtig: Unform" besitze "nach wie vor schaurige Wucht". "Gewalt, Geilheit, Gier schießen pausenlos aus den Figuren heraus - wie Blut aus einer frischen Wunde". Schwab zeige nicht einfach nur "die Doppelmoral der Gesellschaft auf, sondern stülpt das Tierische im Menschen nach außen." Bühnenbildner Robert Schweer, Kostümbildnerin Kirsten Dephoff und der Regisseur scheuten vor keiner Übertreibung zurück, wodurch die Figuren "gefährlich nah ans Parodistische" gerückt würden. Doch Schwabs Text halte "auch dieser extremen Veräußerlichung stand, weil seine Sprache so stark und fast lyrisch zugespitzt ist, dass sie jenseits allen blutrünstigen Spektakels stets auch die Vielschichtigkeit des Seins ahnen" lasse. Das "Schwabisch" lebe "vom Hinein und Heraus". Menschen werden "in die Welt gevögelt", es wird "hineingedacht" und "aus dem Körper herausgesprochen" und "herausformuliert", und dieses eigenwillige In-Richtungen-Denken mache die Bezüge zwischen Innen- und Außenwelt deutlich. Die Schauspieler gäben "sich inbrünstig diesen Schreckensgestalten hin".

 

Kommentare  
Werner Schwab in Stuttgart: überaus sehenswert
In allen Punkten absolut zutreffende Kritik und eine auf jeden Fall überaus sehenswerte Theaterproduktion.
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