Wärme kann der Mensch nicht sehen

von Petra Hallmayer

München, 23. Januar 2009. Es ist klirrend kalt in Bulbus. Die Menschen können einander nicht berühren. Wie in Eisblöcke sind sie in weiß beschlagene Telefonzellen gesperrt, die von Holzscheiten bedeckt sind. Anja Hillings "Bulbus" entführt in ein der Zeit entrücktes Dorf, in dem Badeöfen und Kaffeemühlen darauf warten, repariert zu werden.

Regisseurin Christiane Pohle mochte keinen Krämerladen, keinen Hühnerstall und keine Eisstockbahn einrichten. Stattdessen hat sie sechs Glaskästen auf die Bühne gestellt, und die Kommunikation findet im Werkraum der Münchner Kammerspiele ausschließlich per Telefon statt. Die Bewohner von Bulbus sind Gestrandete, Flüchtlinge, die von ihrer Vergangenheit einholt werden.

25 Jahre Eiszeit
Was damals im Jahr 1983 geschah, schält sich aus einem Knäuel von Geschichten heraus, die Manuel der stumm in ihrer Zelle kauernden Amalthea erzählt. Wir erfahren von einer linken Terrorgruppe namens Glaukom, dem Mord an einem Richter, den Eltern eines Jungen, die, um nicht als Kronzeugen aussagen zu müssen, Suizid begingen, einer Polizistin, die sich in den ihrer Obhut anvertrauten Mörder verliebte und seither auf einen Kuss hofft, und einer Mutter, die einst ihre kleine Tochter bei IKEA zurückließ.

25 Jahre später ist die nun erwachsene Amalthea (Lena Lauzemis) einem Traum folgend nach Bulbus gereist, zeitgleich mit Manuel (Edmund Telgenkämper), dem Journalisten und Sohn des Selbstmörderpaares. Beide sind gezeichnet, da sie als Kinder vom Blitz getroffen wurden.

Von Blutgefäßen und Verweisen durchzogen
Die Wahlberlinerin Anja Hilling gehört zweifellos zu den begabtesten Theaterautorinnen ihrer Generation. Allein: Mit "Bulbus" hat sie sich zu viel zugemutet. Die Verweise auf den deutschen Terrorismus führen ins Ungefähre und damit in die Leere. Dennoch ist das 2006 in Wien uraufgeführte Stück nicht ohne Spannung und Zauber – und von Metaphern rund um das Sehen durchzogen: Das lateinische Wort Bulbus steht für die Zwiebel und das zwiebelartige Organ Auge. Glaukom ist ein anderes Wort für die Sehnerverkrankung "Grüner Star", die im Extremfall zu Erblindung führt.

Lückenlos aufklären lässt sich Hillings verrätselter Dorfkrimi nicht, der um ausgeblendete Schuld und Wahrnehmungsverweigerungen kreist und ein Geflecht aus Erzählsträngen entfaltet, dessen rauer Stoff von Sehnsuchtsfäden durchwoben ist. Mit ihren Texten, die Ironie und große Gefühle, surreale Verfremdungen, Alltagsprosa und Poesie verbinden, dabei lakonisch gebrochen den fliehenden Paradiesvogel Liebe in Zeiten passagerer Begegnungen und ruppig herzschützender Abschottung beschwören, hat die 33-Jährige die Bühnen im Sturm erobert.

Bedrohliche Seite der Natur
Die Natur ist bei Hilling kein freundliches grünes Idyll, sondern ein Illustrationspool für die Bedrohungen und Versehrungen der Menschen. In "Monsun" geht ein Dauerregen nieder, in "Schwarzes Tier Traurigkeit" bricht ein verheerender Waldbrand aus, in "Nostalgie 2175" tragen die Protagonisten Schutzanzüge gegen die unerbittliche Sonne.

Diesmal regiert der Frost, sind es die inneren Erfrierungen, die die Figuren voneinander trennen. Amalthea erleidet unter der Dusche einen Kälteschock. Nur Haut kann Haut wirklich wärmen, meint ihre Mutter Jutta, die selbst nicht den Mut hat auf die Tochter zuzugehen. Doch die stachlig verstörte Amalthea wehrt alle Annäherungen ab.

Pohles Inszenierung, die stellenweise schönen trockenen Witz entwickelt, glückt mit ihren eisigen Isolationskäfigen ein starkes Bild, das jedoch auch Beschränkung ist, das Gewicht zwischen den Dorfszenen und der skurrilen Märchenhaftigkeit zu einseitig verschiebt und nur wenig Spielmöglichkeiten erlaubt.

Am Ende Erwachen aus dem Dornröschenschlaf
Annette Paulmann als Polizistin Rosa drückt ihr Gesicht an der Scheibe zu grotesken Grimassen platt. Gundi Ellert als Jutta nestelt in Kittelschürze und moosgrüner Wollweste an ihrem Taschentuch herum, nutzt ihre Rolle zu einer fabelhaften Muttchen-Karikatur, derweil Jean-Pierre Cornu als Markidis per Telefon süffisant lächelnd in ihre Wunden sticht. Heilen können sie an diesem Abend, der keine Versöhnung bringt, nicht

Während der Richtermörder Albert (Jochen Noch) umkommt, erwacht Amalthea aus ihrem Dornröschenschlaf, durchbricht ihren Panzer aus Stummheit und Abwehr. "Halt mich fest", sagt sie zu Manuel und: "Hör doch auf Geschichten zu erzählen." Ob das eine Befreiung von den Gespenstern der Vergangenheit ist oder der Beginn eines neuen Schweigens, bleibt offen. Aus seiner Zelle findet im Werkraum jedenfalls keiner heraus.


Bulbus
von Anja Hilling
Regie: Christiane Pohle, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Diana Ammann.
Mit: Lena Lauzemis, Edmund Telgenkämper, Gundi Ellert, Jean-Pierre Cornu, Jochen Noch, Annette Paulmann. 

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr über Christiane Pohle: im Mai 2008 hat sie Freier Fall von Gert Jonke am Burgtheater Wien zur Uraufführung gebracht. Im April 2008 inszenierte sie an den Münchner Kammerspielen Horváths Zur schönen Aussicht. Im November 2007 entwickelte sie in Basel zusammen mit Robert Lehninger, Miriam Ehlers und Malte Ubenauf den Abend Zones of my exclusions.

 

Kritikenrundschau

Joseph von Westphalen findet das Stück in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (25.1.2009) zwar etwas bedeutungsüberfrachtet, reichlich künstlich, gelegentlich auch etwas zu himbeerenfarben poetisch und angestrengt rätselhaft. Die Rolle der Amalthea betrachtet er gar als Unverschämtheit der Schauspieletrin gegenüber. Trotzdem findet er den Abend insgesamt gar nicht so schlecht, denn die Sprache der Figuren "ist frisch und macht die meisten der siebzig Theaterminuten unterhaltsam". Auch das Telefonzellenbühnenbild lobt er als "geradezu erwärmende nostalgische Installation". Im Übrigen ruft er den Nörgeler in sich zur Ordnung: "Auf dem Nachwuchs trampelt man nicht herum, die hübschen und fragilen Pflänzchen muss man schonen, auch wenn die Mischung aus Scheu und selbstherrlicher Verschlossenheit nicht ganz leicht zu ertragen ist." Doch daß man bei einem deutschsprachigen Stück im deutschsprachigen Raum Uraufführung und deutsche Erstaufführung trennt, findet von Westphalen ein bißchen übertrieben.

"Das Stück könnte auch ein Filmskript oder ein Hörspiel sein - es wäre nicht der erste vom Rundfunk adaptierte Hilling-Text", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (26.1.2009). "Bulbus" sei aber direkt am Theater entstanden im Rahmen der Werkstatt-Tage des Wiener Burgtheaters. Die Münchner Kammerspiele vertrauen die deutsche Erstaufführung der Regisseurin Christiane Pohle an, "die ein Händchen hat für die in Hilling-Texten stets zu entdeckenden subtilen Witzeleien, drucken dazu im Programmheft ein Gespräch zwischen Hilling und Andreas Beck ab, in dem erklärt wird, wie es zu dem Stück kam, und bestücken diese gut einstündige Petitesse mit tollen, aber weitgehend zur Untätigkeit verdammten Schauspielern." Das Ergebnis sei ein "sprachlich hochwertiges, szenisch aufbereitetes Hörspiel" um ein junges Paar, das sich durch eine "verzwirbelte, aber letztlich überschaubare Krimihandlung forscht".

 

 

Kommentare  
Pohles Bulbus: zweifelhafter Umgang mit Hillings Texten
Ich war bei der besagten Premiere anwesend. Und bin verstört gegangen: Wieder einmal hat eine Regie einem Text von Frau Hilling nicht vertraut. Wieder entstehen daraus: Illustrationen und Mätzchen auf der Bühne - die Welt hinter den Worten bleibt leer.

Meinen ersten Hilling-Kontakt hatte ich in Frankfurt bei einem Gastspiel des Thalia-Theaters aus Hamburg, serviert wurde "Nostalgie 2175", angerichtet hatte Herr Sanchez. Jenes Theatererlebnis war der Grund für meine Reise nach München: "Nostalgie" als Liebeserklärung an die Gattung Mensch und den Kern ihres Menschlichen, aber auch als sprachliche Entäußerung, durch die sich ein Sehnen zieht, das an den Nerven zerrt...

Fragen, die mich damals beschäftigten waren: warum werden die Vorgänge, die im Stück stattfinden nicht ernst genommen? Warum wird eine grausame, harte Welt von Sachez und seinem Bühnenzauberer mit Aufpust-Plastehäuschen bebildert - während im Text von in Fetzen hängender Haut die Rede ist. Warum findet der Körper in der Inszenierung nicht statt, wenn es im Text nur so vor Begehren und Sehnsucht brodelt. Warum stellt sich die Inszenierung nicht dem Inhalt und der Form des Textes.

Warum schreib ich das hier? Weil sich mir ähnliche Fragen in München wieder stellen. Frau Pohle setzt ihre Protagonisten in Telefonzellen. So weit so gut. Kann man machen - wenn man den so entstehenden Raum dann auch konsequent nutzt. Passiert aber nicht: ein bissl an der Scheibe kratzen ist alles, was den Damen und Herren in den Telefonzellen einfällt. Vielleicht noch ein bischen Holz umstapeln. Und: liegen. Aber auf keinen Fall: schwitzen. Denn es ist ja kalt in Bulbus.

Wie auch immer: der Raum wird nicht konsequent genutzt. Vorgänge, die der Text anbietet abgeschnitten. Darüber hinaus verweisende Eigen-einfälle sind nicht zu sehen.

Der Gipfel der Frechheit ist dann erreicht, wenn zum Zeichen, dass das kleine Mädchen (in der Kühlbox ganz rechts) wirklich jenes ist, das im IKEA - Bällchenbad gewartet hat, parallel zur Verlautbarung des Faktums durch den Erzähler einen passenden Ball an der Scheibe ihrer Kabine hochrollt. Spätestens dann ist es klar: die Regie hält das Publikum für unzurechnungsfähig. Und glaubt noch dazu, das das Publikum das nicht merkt. Tja: Pech gehabt.

Aber auch andere Dinge sind so nicht hinnehmbar: wenn platte Äußerlichkeiten, illustrierendes Spiel, angeschobene Sprache und Schnuten-Quetscherei an Scheiben (übrigens auch in der Sanchez-Inszenierung zu bewundern) mit Figurenzeichnung verwechselt werden und unverfroren geschmiert und getönt wird, dass es eine Art hat, ist das eigentlich nicht seriös einem Text gegenüber, der wirklich etwas will.

Was ist denn eigentlich so schwer an diesen Hilling-Texten? Das Vorgänge beschrieben werden? Das Wortkaskaden aus Leuten herausbrechen (bei Pohle und dem erzählenden Forscher in der Kühlbox ganz links: mit scheinpsychologischen Kunstpausen zerstückelt herauströpfeln)?

Meine These: Man scheitert mit dieser Art von Texten nur dann, wenn man ihnen nicht vertraut. Sie versucht auszubremsen. Und der Phantasie in ihnen nichts entgegenzusetzen hat.

Denn das ist in der Pohle-Inszenierung der Fall. Eigentlich wird auf den Text gesetzt, aber der wird dann so unsäglich serviert und mit Mätzchen illustriert und erklärt, das klar wird: ohne diese Beigaben hätten sie sichs nicht getraut. Schade. Und ärgerlich.

Immer noch gefrustet: 75
Pohles/Hillings Bulbus: sentimentaler Textschwulst
warum traut man ihnen nicht? weil die texte leider immer theateruntauglich, bedeutungsübergeschwängert und verkitscht sind. frau hillings sentimentalen schwulst durch szenische vorgänge auch noch zu doppeln hat aus gutem grund noch niemand versucht.
Pohles/Hillings Bulbus: Text gibt Empfinden Raum
was ja nun kein Argument ist, denn offensichtlich werden die Texte ja nicht aus reinem Desinteresse inszeniert, sondern weil in ihnen etwas eingeschrieben ist, was darzustellen für wichtig erachtet wird. Ich denke auch, das mit dem Etikett sentimental und Schwulst, diese Texte falsch beschrieben sind. Das macht ja gerade die Qualität ihrer Arbeit aus, das sie Empfinden Raum gibt, welches ich keinesfalls als falsch und gefühlig betrachte, und mir nicht einleuchtet weshalb dieses Schreiben so leichtfertig abgetan werden muss. Welches Gefühl ist denn da beschrieben, das dazu Anlass gibt ihm minderen Wert zuzuschreiben?
Bulbus, München: Was ist das?
Also ich wollte fragen was ein Bulbus ist ?
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