Wir sind alle individuell

von Stefan Bläske

Wien, 16. März 2009. "Wo ist denn unser Regisseur?", tönt die weibliche Schauspielerstimme inmitten der Anarchie, als für sie der Abend aus dem Ruder zu laufen scheint. Stemann verteilt da gerade – adrett mit Jelinek-Perücke – falsche Geldscheine unter den Zuschauern. Zwei Tiermaskenträger spielen im Zuschauerraum Fangen und auf der vollgerümpelten Bühne stellt der Engel der Gerechtigkeit fest, dass noch nie jemand sein Hirn habe arbeiten sehen, wobei er von einem Prärieläufer umrundet und einem wandernden Stein aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Wo ist der Regisseur? Braucht man ihn für eine Lesung? Nicolas Stemann kehrt zurück auf die Bühne, in seine Rolle als Dirigent und Chorleiter, Koordinator und Conferencier, gibt wieder Einsätze, macht Ansagen.

Aber mit Ansagen ist das an diesem Abend so eine Sache. Elfriede Jelinek wünschte sich, dass ihr neues Stück über die Finanzkrise – ausgehend von österreichischen Wirtschaftsskandalen der vergangenen Jahre – außerhalb Österreichs Premiere haben solle. Nun gibt es am Wiener Akademietheater eine ungestrichene "Ur-Lesung" statt einer Uraufführung. Ein Alptraum für einen Regisseur: Die Schauspieler haben den Text teilweise erst am Lesungstag bekommen und es ist nicht abzusehen, wie sich die Produktion entwickeln würde. Im Performancebereich Normalität, wirkt dies im Repräsentationstheaterhaus einschüchternd. "Halten Sie durch", lautet die Ansage von Burgtheaterdramaturg Joachim Lux, aus pragmatischen Gründen habe man sich Mitternacht als ultimative Grenze gesetzt.

Waffe, Mantra oder Gebet?

Zur Orientierung des Publikums wird per digitaler Ansage die Seitenzahl angezeigt, der Countdown zählt rückwärts. 93 Seiten und maximal viereinhalb Stunden haben das Ensemble aus Wien und den beiden Uraufführungstheatern Köln und Thalia Hamburg Zeit, herauszufinden, ob Jelineks Text – wie Stemann formuliert – eine "Klage, eine Waffe, ein Dauerfeuer, ein Mantra oder ein Gebet" sei. Auch die nächste Ansage, eine Regieanweisung von Jelinek, die sich drei oder vier Männer vorstellt, den Text möglichst laut schreiend, bleibt eine Ankündigung, es wird mehr urgesungen und chorisch urgesprochen als urgeschrien, und das ist gut so, der Text schreit schon genug.

Jelinek gibt den Zola, klagt an und lamentiert. Über die Heuschrecken, Grillen und Schrecken. Die Schon-Jobs und die Schein-Jobs. Zweckgesellschaften, die keinen Zweck haben. Vorstände, die nichts vorfinden. Unternehmen, gegen die man nichts unternehmen kann. Erlöser, die nur auf Erlöse warten. Es geht um Wirtschaft, um Geld und Gott. Stemann setzt das visuell oft eins zu eins um, Videoprojektionen auf der Betonrückwand zeigen Cover von österreichischen Zeitungen und Zeitschriften, Geldscheine, die verbrannt oder an kleine Holzkreuze genagelt werden. Alles dreht sich ums Geld. Denn Geld ist zwar nicht alles, aber es ist alle. Vielleicht lässt sich das Alle-Sein als Jelineks Leitmotiv herausdestillieren: Dass es uns alle betrifft, ums Kollektiv geht und zugleich um die Individualität. So lässt uns Stemann im Chor mitsprechen: "Wir sind alle – individuell."

Uraufführung mit Improvisationen und Textbuch

Im Allesein des Geldes zeigt sich die zunächst scheinbar chaotische Dramaturgie des Abends als konsequent teleologisch auf die Null zulaufend. Der Countdown der Textseiten zählt runter, und irgendwie (in der letzten halben Stunde springt die Zahl unberechenbar hin und her) kommt es zur Punktlandung. Die dicke große rote Null leuchtet exakt um Mitternacht auf, um 0:00 Uhr wird der letzte Satz von Stemann gesprochen: "Dann gehört Ihnen gar nichts mehr. Nichts."

Stemann aber gehört der Abend. Sein starkes Ensemble gibt sich als Rampensau, wartet im Hintergrund und dreht vor allem in chorischen Momenten auf. Dirigent Stemann lenkt und leitet, spielt virtuos auf der Klaviatur des Textes, setzt ihn rhythmisch in Szene. So entsteht weit mehr als eine Lesung, es ist eine Uraufführung mit Improvisationen und Textbuch. Berauschend etwa die Szene, in der Stemann Falcos "Jeanny" singt, mit verzweifelter Stimme "life is not what it seems" auf den "contract of the salesman" überträgt und damit den Jelinek-Text übertönt, der als Radiostimme über die Finanzkrise berichtet.

Spiegel der Börsenkurse

Auffällig oft verdichten sich die Szenen am Ende. Beim Chor der Kleinanleger, dem Chor der Greise, beim Gerechtigkeitsengel – immer führt eine musikalische Einlage die Darsteller schließlich kraftvoll zusammen, um die Spannung dann in ein kurzes Loch, eine Phase der Neuorientierung abfallen zu lassen. Man mag das als eine Dramaturgie der Nummernrevue kritisieren, man kann darin aber auch den Spiegel der Börsenkurse entdecken, eine ständige Kurve des Anstiegs bis zum plötzlichen Abfall, zum Anfall, zur Null, zum Nichts.

Nichtig und wichtig liegen nicht weit auseinander, und so darf man fragen, was Jelinek mit ihrem Text zu bewirken glaubt, der den Nerv der Zeit genauso trifft wie er in voller Länge auf die Nerven geht. Die Finanzkrise verstehen wir nicht besser, die Verhältnisse werden nicht ins Groteske überhöht, sondern geraten auch in dieser raffinierten Revue zum müden Amüsement über harmlose Wortspiele und Anspielungen. Der tatsächlichen Uraufführung in Köln und Hamburg sei daher vor allem dies geraten: Ent- und aneignen. Weniger kann mehr sein. Es muss ja nicht nichts sein. Bei Null anfangen ist jedenfalls nicht mehr möglich.

 

Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie
von Elfriede Jelinek (Ur-Lesung im Akademietheater)
Leitung: Nicolas Stemann, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel. Mit: Franziska Hartmann, Philipp Hauß, Rudolf Melichar, Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph, Barbara Petrithsc, Maria Schrader, Myriam Schröder, Patrycia Ziolkowsky.

www.burgtheater.at

 

Mehr über die Verbindung von Elfriede Jelineks Texten und Nicolas Stemanns Regie lesen Sie etwa in der Kritik zur deutschen Erstaufführung von Über Tiere im Mai 2007 am Deutschen Theater Berlin. Oder in der zum Gastspiel der Hamburger Ulrike Maria Stuart beim Berliner Theatertreffen 2007. Die Uraufführung von Die Kontrakte des Kaufmanns ist unter Stemanns Regie als Koproduktion von Thalia Thater Hamburg und Schauspiel Köln für den 16. April in Köln geplant.

 

Kritikenrundschau

Das war, schreibt Robert Misik in der taz (18.3.2009) eine "seltsame Uraufführung", Als "Urlesung" war dieser Abend angekündigt, tatsächlich aber hat Nicolas Stemann Jelineks neues Drama "als poppiges Schaustück inszeniert, mit Drums, Klavier und Gitarre und Videobildern". Jelineks Skript sei "das Stück zur Wirtschaftskrise". Nichts sei aber schwerer zu dramatisieren als das Börsengeschehen. "Umso fulminanter geriet diese Show. Der komplexe, zeitgenössische Kapitalismus ist weder irrational, noch ist er jenes rationale Geschehen, als das ihn die Anhänger der "Rational-Markets-Hypothese" darstellen. Eher: eine absurde Rationalität." Am Ende münde Jelineks Kapitalismusanalyse in ein "hübsches, blutiges Massaker. Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Amoklauf schweigen". Und diesen Text habe Stemann mit seiner "großartigen Truppe" in einen "viereinhalbstündigen Bühnenzauber" verwandelt.



Kommentare  
Jelinek-Ur-Lesung: tolldreiste Variation eines Themas
Die offene, unverbindliche Probenatmosphäre hat dieser Jelinek-Text-Präsentation sehr gut getan. Was von vielen Besuchern von Repertoire-Vorstellungen sonst eher als literarische Bildungsbürger-Pflichtübung wahrgenommen wird, ging diesmal viel näher an Herz und Hirn. Eine tolldreiste Variation rund um ein Thema. Ähnlich wie das Getolle und Getobe in einem Schwimmbecken, und es bekommen alle lachend oder sich schüttelnd ihre Spritzer ab.
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