Einbruch ins Leben

von Simone Kaempf

Berlin, 8. Januar 2007. Zwei bullige Typen mit Nylonstrümpfen über dem Gesicht haben sich Einlass verschafft. Sie tragen karierte Plastiktaschen über den Schultern und beginnen routiniert die Wohnung zu durchsuchen, öffnen Schubladen, durchwühlen den Wäscheschrank. Doch dann ist es um sie geschehen.

Einer blättert plötzlich in den Fotoalben, der andere nascht Marmelade, das Grammophon wird angeworfen. Nicht die Einbrecher schnappen die Beute, sondern die Dinge scheinen von ihnen Besitz zu nehmen. Bizarr ist das schon. Ein kurzes Ringen mit dem hellblauen Damenkleid, dann ist es übergezogen, Schleife binden, Rouge auflegen, und während sich der eine Einbrecher, staunend über sich selbst, in eine Bewohnerin Leningrads der 30er Jahre verwandelt, beginnt der zweite Einbrecher ihre, Sonjas, Geschichte zu erzählen.

Grammophone und Apfelschlitze

Und auch diese Geschichte ist eine der Verwandlung. Sie basiert auf der Kurzgeschichte "Sonja" der russischen Schriftstellerin Tatjana Tolstaja, in der eine Clique der einsamen und beschränkten Sonja einen fiktiven Liebesbrief schickt. Sonja verliebt sich. Entflammt schreibt sie zurück. Der Briefwechsel dauert über Jahre. Sonja ist jetzt der glücklichste Mensch der Welt, die Spaßvögel schreiben längst nur noch aus wütender Pflicht – Schicksal, so können sich die Dinge wenden.

Wenn auf der Bühne die letzte Wendung erzählt ist, dann erwachen die beiden Einbrecher wie aus einem zauberhaften Traum, packen ihr Diebesgut zusammen und machen sich davon. Auch als Zuschauer ist man jetzt wieder in der russischen Gegenwart angekommen: X-beliebige Diebe waren das, ja. Aber nach dem Matroschka-Puppen-Prinzip stecken noch andere Einbrecher-Figuren in ihnen, zumindest auf der symbolischen Ebene. Auch die des Regisseurs selbst, der in eine Geschichte wie Tolstajas "Sonja" einbricht, sich umsichtig umschaut und reiche Beute macht.

Mehr noch als andere Inszenierungen des erfolgreichen lettischen Regisseurs Alvis Hermanis ist "Sonja" ein Abend über das Geschichten-erzählen selbst, über die Kraft der Fiktion, und birgt auch diesmal wieder einen verdichteten Zugriff auf Realität, wie man es von Hermanis kennt. Vier Gastspiele waren bisher am HAU von ihm zu sehen. In "Long Life" zum Beispiel verwandelten sich die jungen Schauspieler des Jaunais Rigas Teatris in die Bewohner einer Alten-WG, die schlafen, aufstehen, essen, sich waschen. Für "Lettische Geschichten" begleiteten die Schauspieler jeweils einen Monat lang Kindergärtnerinnen, Soldaten, Computerfachleute, um deren Leben zu studieren. Und in "Sonja" schlüpft mit dem Schauspieler Gundars Abolins ein Mann in die Rolle der Sonja. Sich zu schminken, ein Huhn mit Apfelschlitzen zu füllen oder die Puppensammlung zu ordnen – solche immer noch typisch weiblichen Handgriffe erledigt er, ohne jede aggressive Tuntigkeit, mit einer ganz eigenen Präzision. Vielleicht, weil sie einem Mann sonst so fremd sind.

Blick ins Private

Großartig dafür: das Bühnenbild von Kristine Jurjane, eine Wohnung, auf russischen Flohmärkten zusammengesucht. Bauernschrank, eine alter Holzherd und Küchenschränke aus Großmutters Zeiten, dazu Emaillekrüge, Keramikdöschen, alte Stickdecken. Solche privaten Räume spielen für Alvis Hermanis' Theater eine wichtige Rolle. "Das, was man wirkliches Leben nennen könnte, spielt sich zuhause in Privaträumen ab. Dort wird ein Teil des Menschen sichtbar, der außerhalb immer verborgen bleibt. Der Blick ins Private ist aber auch immer ein Einbruch in ein Leben." Doch Hermanis macht daraus keinen gewaltsamen Akt. Schaut in die alte Wohnung wie in ein Märchenreich. Findet die richtige Schwebe zwischen dem Bericht über einen Menschen und der gestischen Verkörperung seiner Existenz und erzählt stellvertretend etwas über die Veränderung von Zeit.

Sonja
nach einer Erzählung von Tatjana Tolstaja
Inszenierung: Alvis Hermanis, Bühne: Kristine Jurjane.
Mit: Gundars Abolins.

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www.hebbel-am-ufer.de

 

 

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