Arbeit, Arbeit über alles

von Ute Grundmann

Chemnitz, 2. Mai 2009. Max würde wahrscheinlich auch seine Seele verkaufen, wenn er dafür einen Job oder wenigstens Geld kriegen würde. Um zu (über-)leben, verkauft er erst Gespräche an Einsame, dann echte Identitäten an solche, die keine haben. Solche "prekären Geschäfte" macht er zusammen mit seinem Kumpel Alex, bis der ihm abhanden kommt – durch einen Job und durch die Liebe.

Macht der Beruf den Menschen aus? Wieviel ist er bereit, dafür zu tun? Kann man sich Gefühle in Zeiten von Arbeitslosigkeit und Globalisierung noch leisten? Das sind die Fragen, die die 1981 in Heilbronn geborene Autorin Anne Habermehl in ihrem Stück "Küss mich hinter Kaufhof" stellt, ganz ernsthaft, doch mit Leichtigkeit. Und die Uraufführung ihres ersten abendfüllenden Stückes auf der Kleinen Bühne des Theaters Chemnitz wurde jetzt zu einem erstaunlichen, starken und doppelten Debüt. Denn mit ihr präsentierte sich die 1980 geborene Alexandra Wilcke, seit der Spielzeit 2008/2009 Regieassistentin am Haus, als Nachwuchsregisseurin.

Ohne Job ist man nix
Die Bühne (Norbert Richter) ist kalt und grau: Werbung für Fernseher und Satellitenschüsseln an der Rückwand, eine Kühltruhe, graue Stufen. Auf ihnen drängeln sich zu Beginn, zwischendurch optimistische Parolen singend, die fünf Personen des Abends. Sie biegen und winden sich in Bewerbungs-, eher Anbiederungsversuchen: Lia (Bettina Schmidt) ist "gaaanz kommunikativ", die Chefin (Elvira Grecki) wollte nie was anderes, als einen Supermarkt leiten. Aber Max (Nikolaus Barton) und Alex (Bernhard Conrad) gehen beim verzweifelten "Ich tue alles"-Gerangel leer aus, wissen, dass sie ohne Job nicht existent sind.

Schon dieser Auftakt ist so komisch wie schmerzhaft und so wird es die gesamten 90 Minuten bleiben. Denn Anne Habermehl stellt in kurzen, genauen Szenen ihre Fragen und Befunde an eine Welt, in der Arbeit alles und Gefühle scheinbar nichts sind. Sie hat dafür eine klare, präzise Sprache, die ganz ohne "coolen" Jugendsprech auskommt. Und Regisseurin Alexandra Wilcke findet mit ihren starken Darstellern immer wieder zu prägnanten Szenen.

Und ohne Liebe auch nicht
Da schüttelt es Alex aus Angst vor der Unsicherheit ohne Job am ganzen Körper – doch den Kloß im Hals kann man nicht sehen. Er will ein echtes Leben, keines aus Plastik – und findet erstmal Lia. Sie verlieben sich im Supermarkt, wo sie an der Kasse sitzt und sich mit Alex kichernd und küssend über den Boden rollt. Derweil klaut Max aus der Kühltruhe Wasserflaschen und zieht sie später vor Alex triumphierend aus Taschen, Jackenärmeln, Hosenbeinen.

Zuvor aber hatte er, den Tränen nahe, am Bühnenrand gehockt: Ausgeschlossen, abgeschnitten von seinem Kumpel, der scheinbar beides hat: einen Job und die Liebe. Zwischen diese anrührenden, aber unsentimentalen Szenen streuen Stück und Regie die Ursachen und Wirkungen des Drucks, unter dem die Menschen stehen: Fast als Kabarettszene wird vom Ensemble der Wert eines Herzens, einer Niere veranschlagt – auch die lassen sich zu Geld machen.

Auf der Kühltruhe liegend, singen Alex und Lia bekannte Werbeschlager, aber wegsegeln funktioniert in dieser Welt nicht. Das Geld übrigens, hinter dem hier alle so verzweifelt her sind, besteht in Alexandra Wilckes Inszenierung aus Eisstückchen, die, kaum in der Tasche, schmelzen. Und während Alex sich im Supermarkt-Kittel scheinbar arrangiert und sich scheinbar etabliert, glaubt Max sich weiter in und durch so tragikomische wie bizarre "Geschäfte" über Wasser halten zu können. Schließlich verkauft er sich als "Miet-Sohn" an einen "Vater" (Tilo Krügel) und meint damit auch, gekaufte Gefühle seien resistenter. Doch dann wird dem Vater das Gehalt gekürzt, er kann sich den "Sohn" nicht mehr leisten: Menschen, sagt er, seien zu kompliziert, Gefühle eine Fehlinvestition. Genau dagegen machen sich Stück und Aufführung stark.



Küss mich hinter Kaufhof (UA)
von Anne Habermehl
Regie: Alexandra Wilke. Bühne: Norbert Richter. Dramaturgie: Esther Holland-Merten.
Mit: Nikolaus Barton, Bernhard Conrad, Bettina Schmidt, Tilo Krügel, Elvira Grecki.

www.theater-chemnitz.de

Zuletzt war nachtkritik.de in Chemnitz, als Bruno Cathomas Shakespeares Macbeth inszenierte.

 

Kritikenrundschau

Für Reinhold Lindner von der Freien Presse (4.5.2009) erweist sich Anne Habermehls "Küss mich hinter Kaufhof" als ein "gutes, aussagestarkes und flottes Theaterstück". Dass die Uraufführung beim Publikum gut angekommen sei, habe zwei Gründe: Zum einen sei der Text "deftig-kraftvoll und bilderreich poetisch", zum anderen entwickele die Inszenierung von Alexandra Wilke ein "aktionsreiches Spiel". Die Schauspielerleistung beschreibt Lindner folgendermaßen: "Bettina Schmidt, Elvira Grecki, Nikolaus Barton, Bernhard Conrad und Tilo Krügel formen die Charaktere ihrer Figuren – und wenn Charaktere auf der Bühne erspielt werden, ist in der Regel des Theaters auch der Zuschauer bei der Sache." Barton und Conrad führten "mit höchster Intensität den Zerfall menschlicher Substanz vor". Die Frau zwischen den beiden Männdern sei "eine sehr berührende Rolle" und werde von Schmidt "hervorragend gespielt". Das schlimm ausgehende Stück hinterlasse "nur Wertlosigkeit und keinen Funken Hoffnung".

 

Kommentare  
Küss mich hinter Kaufhof: keine Habermehl unterschlagen!
Warum weisen Sie unter "Zuletzt" nur auf das Theater Chemnitz hin, nicht aber auf das andere Stück von Anne Habermehl, LETZTES TERRITORIUM, über dessen Uraufführung im Hamburger Thalia-Theater Sie am 18. November ausführlich berichteten?
Kommentar schreiben