Als ob dort vor allem Affen leben

von Petra Kohse

Berlin, 13. Mai 2009. Ein passenderer Ort wird in Berlin kaum zu finden sein: Das Goethe Institut stellte sein europaweites Theaterprojekt "After the Fall" am Mittwoch im ehemaligen "Haus des Reisens" am Alexanderplatz vor. Genauer: Im 12. Stock des 1971 erbauten Hochhauses, in dem zu Ostzeiten das Reisebüro der DDR und Interflug residierten. Insgesamt gibt es 17 Geschosse. Aber schon im 12., aus den Räumen des Week-End-Clubs heraus, suggeriert ein einziger Blick auf Berlin mehr Urbanität, als sich unten und in Echtzeit im Laufe eines ganzen Jahres erfahren lässt. Draufsicht also, und zwar nicht nur hier, sondern vor allem anderswo.

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer hat das Goethe Institut in ganz Europa DramatikerInnen beauftragt, ein Stück über das zu schreiben, was dieser Mauerfall bei ihnen zuhause bewirkt hat. Man dürfe ihn nicht nur als deutsches und ökonomisches, sondern müsse ihn auch als "kulturelles Ereignis" begreifen und zwar grenzüberschreitend, sagt Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des Goethe-Instituts zur Begrüßung. Und dann berichtet er von der Begeisterung der Theaterleute diesem Projekt gegenüber, von deren Bereitschaft, dieses bisherige "Defizit" auszugleichen und zitiert ein Wort von sich selbst: "Die Innovation geht von der Peripherie aus."

Die Mauer ist nach außen gerückt

"After the Fall" ist ein definitiv großformatiges Projekt: 17 DramatikerInnen in 16 Ländern nehmen daran teil. Goran Markovic in Serbien, Nicoleta Esinencu in der Republik Moldau, Stacey Gregg in Irland, Christian Lollike in Dänemark, Andrzej Stasiuk in Polen... Die vollständige Liste ist auf der Website des Goethe Instituts nachzulesen.

Den deutschen Beitrag steuert Dirk Laucke bei. Unter dem Arbeitstitel "Für alle reicht es nicht" schreibt er – so ungefähr – über ein paar Typen, die auf ihren krummen Wegen einen Lastwagen voller Flüchtlinge finden und natürlich nicht wissen, was sie mit denen machen sollen. "Der Mauerfall ist ja noch nicht vorbei", sagte der 27-Jährige bei der Pressekonferenz im "Haus des Reisens". "Die Mauer steht noch. Sie ist nur nach außen gerückt."

Lauckes Stück wird Ende Oktober in Dresden uraufgeführt. Das Staatsschauspiel Dresden und das Theaterbüro Mülheim an der Ruhr sind neben der Bundeszentrale für politische Bildung die Kooperationspartner von "After the Fall" und präsentieren im November jeweils sechs Inszenierungen in einem "After the Fall"-Festival an ihren Häusern. Welche genau das sein werden, wissen Wilfried Schulz, der designierte Dresdner Intendant und Udo Balzer-Reher vom Theaterbüro Mülheim noch nicht, und vermutlich wird es auch Überschneidungen im Programm geben, was Kosten spart und den betreffenden Inszenierungen ein größeres deutsches Publikum verschafft, die Bandbreite des insgesamt Gezeigten jedoch verkleinert.

Anders aber geht es nicht. Denn obwohl die Premieren alle für dieses Jahr geplant waren, haben bisher erst vier tatsächlich stattgefunden: "Antidot" von Nicoleta Esinencu im moldauischen Chişinău, "Not Yet", ein Jugendprojekt von Sarah-Jane Dickinson in der englischen University of Hall, "Mousefuckers" von lmir Imsirevic in Sarajevo und "Die Mauer" von Theodora Herghelegiu in Bukarest. Dazu ein Autorenworkshop in Budapest, und am nächsten Sonntag, den 17. Mai, kommt in Belgrad "Der Fälscher" von Goran Markovic heraus.

Schule der Differenzen

Manche Inszenierungen also müssen nach bloßer Kenntnis des Stückes oder der MacherInnen eingeladen werden, andere werden erst 2010 Premiere haben und stehen somit gar nicht zur Debatte. "Ich verstehe die Präsentation als Produzentenfestival", erklärte Wilfried Schulz, der den Beginn seiner Amstzeit in Dresden ganz bewusst mit einem Europa-Schwerpunkt starten will, weil sich die Stadt in den letzten Jahren "hermetisch gemacht" hätte. Theater könne "uns schulen, Differenzen zu ertragen", sagt er, und dazu gehört für ihn dann eben auch die Zumutung eines ästhetisch gewissermaßen nicht endstufengeprüften Programmes.

Die Idee zum Ganzen stammt von Martin Berg, dem Leiter des Bereiches Theater und Tanz beim Goethe Institut und von Claudia Amthor-Croft vom Goethe Institut in London. Die Frage, was sich in den letzten zwanzig Jahren verändert hat, jeweils einem Dramatiker zu stellen, war für sie nicht nur eine Möglichkeit, ein Kaleidoskop von Gesellschaftsbildern zu erhalten, sondern auch konkrete Arbeit an einem europäischen Netzwerk. Denn produziert werden die Stücke ja von den Theatern vor Ort, die einerseits über die Präsentationen in Deutschland miteinander in Kontakt treten, andererseits vielleicht ein Interesse an all den anderen Stücken entwickeln, die das Goethe Institut auf deutsch übersetzen lässt und auf seiner Website zur Verfügung stellt.

Um zu erfahren, welche Stimmungen sich in den Dramatiken der europäischen Länder spiegeln, wäre es vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen, Stücke extra zu beauftragen. Sondern man hätte auch unter den bereits existierenden Dramen etwas auswählen und übersetzen können. Aber, so Martin Berg, zum einen mangele es an der profunden Kenntnis vieler dramatischer Landschaften, und andererseits sorge der gezielte Auftrag für eine formale Einheit des Ganzen.

Auflösung aller Werte

Für Nicoleta Esinencu beinhaltete die offizielle deutsche Anfrage auch keineswegs so etwas wie einen Zwang zur Repräsentativität. Sie habe zum Goethe Institut in Bukarest (das sich um die überwiegend rumänischsprachige Bevölkerung der Republik Moldau mit kümmert) ohnehin einen guten Kontakt, erzählt sie bei der Zigarettenpause nach der Pressekonferenz und habe dies einfach als Möglichkeit gesehen, endlich mal etwas zu schreiben, das dann auch im eigenen Land aufgeführt werden kann.

Denn sie, die schon seit einigen Jahren Stipendien im Ausland bekommt, in Frankreich und Deutschland, arbeitet in der Republik Moldau im luftleeren Raum. "Ich weiß nicht, was man tun muss, um dort wahrgenommen zu werden", sagt die 29-Jährige. Es gebe keine anderen Autoren, die in neuen Formen zu Gegenwärtigem Stellung nehmen wie sie, und wenn sie, wie jetzt mit ihrem Mobile European Trailer Theater, eine eigene Aufführung macht, wird in Chişinău erst gar nicht darüber geschrieben.

"Antidot" (Gegenmittel, deutsch von Marina Neacsu) ist ein schneller und schonungsloser Monolog über die vielen hässlichen Bedeutungen von Gas im moldauischen Alltag: von der Gasmaske, die sich auch Schulkinder in 0,01 Sekunden aufsetzen können müssen bis zur Gassperre durch Russland. Doch nicht nur die Journalisten schweigen über derlei, auch das Publikum der sieben Aufführungen im letzten November in einer Kunsthalle in Chişinău, zeigte sich keineswegs begeistert von der strengen und dringlichen Inszenierung, bei der vier Darsteller vor einer Videoleinwand rampenparallel ins Publikum sprechen und etwa aus einem rosa Luftballon eine Kalaschnikow formen (ein Videobeitrag auf der "After the Fall"-Website vermittelt durchaus einen Eindruck).

"Es war gar nicht so, dass sie das Stück formal abgelehnt hätten", erzählt Esinencu. "Viel schlimmer: Sie sagten, dass dies doch alles nicht aktuell sei und dass sie das Thema Gas gar nicht beträfe." In diesem Herbst wird es eine weitere Aufführungsserie in Chişinău geben.

Auch die Regisseurin und Autorin Theodora Herghelegiu aus Bukarest bestätigt, von Martin Berg bei der Pressekonferenz zum Stand der Mauerfalls in Rumänien gefragt, dass diese dort sehr wohl noch existiere, vervielfacht vielleicht in viele kleine Mauern: "In Rumänien haben sich alle Werte aufgelöst. Manchmal kommt es mir so vor, als ob dort vor allem Affen leben. Und die meisten Leute wenden sich ab und verschanzen sich in ihren Häusern."

Die Identitäten ändern sich mit der Welt

Die Stimmungsberichte der skandinavischen Teilnehmer der Pressekonferenz, Christian Lollike aus Kopenhagen und Johan Celander, der Intendant des Östgötateatern im schwedischen Norrköping, waren erwartungsgemäß fröhlicher. Aber auch dort hat sich die Welt verändert und buchstabiert sich Identität heute anders als vor zwanzig Jahren.

Nach der Pressekonferenz schwebte man aus dem 12. Stock des Hauses des Reisens wieder nach unten und blickte ebenerdig auf den Berliner Alexanderplatz, der nun viel weniger urban und eigentlich nur wie eine Baustelle aussieht. Theodora Herghelegiu steht neben dem Eingang und raucht und winkt. Sie werde morgen früh zurückfliegen, sagt sie und fragt, wann es sich denn wohl entscheiden werde, wer nach Deutschland eingeladen wird. Schön wäre es schon, auch sie in Mülheim oder Dresden noch einmal und länger zu sprechen. Im "Haus des Reisens" indessen wird man wohl nicht mehr zusammenkommen können. Das steht nicht unter Denkmalschutz und wird im Zuge der Neuplanung des Alexanderplatzes bald einem 150 Meter hohen Neubau weichen.


After the Fall. Europa nach 1989
Ein Theaterprojekt des Goethe-Instituts
Projektleitung: Claudia Amthor-Croft & Martin Berg

www.goethe.de

 

Mehr zu Nicolea Eseniencu finden Sie im nachtkritik-Archiv sowie auf dem Festival-Portal nachtkritik-spieltriebe3.de zu dem Osnabrücker Eraufführungsfestival, auf dem ihr Stück A (II) RH + präsentiert wurde.

 

 

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