Texte antworten auf Texte oder Was ist ein Dramatiker?

von Michael Börgerding

Hamburg, 26. Juni 2007.

 

"Wen kümmert's, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert's wer spricht." (Samuel Beckett)

 

1.

"Die Geburt des Zuschauers ist zu bezahlen mit dem Tod des Dramatikers." (Roland Barthes)

1969 antwortete Michel Foucault auf die Frage "Was ist ein Dramatiker":

"Dramatiker ist derjenige, durch den gewisse Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transformationen erklärt werden können, deren Deformationen, deren verschiedene Modifikationen (und dies durch die Dramatikerbiographie, die Suche nach der individuellen Sichtweise, die Analyse seiner sozialen Zugehörigkeit oder seiner Klassenlage, die Entdeckung seines Grundentwurfs).

Der Dramatiker ist ebenso das Prinzip einer gewissen Einheit des Schreibens, da alle Unterschiede mindestens durch Entwicklung, Reifung oder Einfluss reduziert werden. Mit Hilfe des Dramatikers kann man auch Widersprüche lösen, die sich in einer Reihe von Texten finden mögen: es muss da – in einer gewissen Schicht seines Denkens oder seines Wünschens, seines Bewusstseins oder seines Unterbewusstseins – einen Punkt geben, an dem sich die unvereinbaren Elemente endlich verketten lassen oder sich um einen tiefen und ursprünglichen Widerspruch gruppieren."

Foucaults Text antwortete damit auf einen anderen Text: Roland Barthes’ "Der Tod des Dramatikers". 1968 schrieb Barthes – oder wer oder was auch immer das ist, der oder das da schrieb –:

"Ein Drama ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, und dieser Ort ist nicht der Dramatiker (wie man bislang gesagt hat), sondern der Zuschauer. Der Zuschauer ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Dramas liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt – wobei dieser Zielpunkt nicht mehr länger als eine Person verstanden werden kann.

Der Zuschauer ist ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie. Er ist nur der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt. Deshalb ist es lächerlich, die neue Schreibweise [écriture] im Namen eines Humanismus verdammen zu wollen, der scheinheilig vorgibt, die Rechte des Zuschauers zu verteidigen.

Die traditionelle Kritik hat sich niemals um den Zuschauer gekümmert; sie kennt in der Dramatik keinen anderen Menschen als denjenigen, der schreibt. Inzwischen lassen wir uns nicht mehr von solchen Antiphrasen täuschen, mit denen die gute Gesellschaft anmaßend Anschuldigungen erhebt zugunsten dessen, was sie selbst gerade ausgrenzt, übersieht, erstickt oder zerstört. Wir wissen, dass der Mythos umgekehrt werden muss, um der Dramatik eine Zukunft zu geben. Die Geburt des Zuschauers ist zu bezahlen mit dem Tod des Dramatikers.“

Was meint das heute, knappe 29 Jahre später – und auf welche Texte antworten diese alten Texte? Zwei Postkarten aus der Vergangenheit in die Gegenwart – in die Nachtkritik-Debatte. Adressiert an die Mülheimer Theaterjury, an Rimini-Protokoll, an Karl-Heinz Braun, Christopher Schmidt und Oliver Bukowski.

 

2.

"a rose is a rose is a rose" (Gertrude Stein)

Sprache ist immer ambivalent, sie ist wie jeder Genuss und alle Lüste grundsätzlich unabgeschlossen und verweigert sich jeder Eindeutigkeit. Jede Schrift und jedes Sprechen ist immer mehrdeutig und offen, weil sprachliche Zeichen sich nicht in ihrer konkreten Bezeichnungsfunktion erschöpfen, sondern untereinander kommunizieren: Wörter z.B. sind – ihrer Etymologie wegen – semantisch unrein, sie beziehen aus dieser Kontamination ihr Eigenleben und bedeuten daher "mehr", mehr als ihr Sprecher damit intendiert.

Wer in den letzten Jahren – zehn, zwanzig, dreißig, je nach Biografie: bei mir sind es knappe zwanzig – ein wenig durch die poststrukturalistische Schule gegangen ist, hat zur Kenntnis genommen, dass es ebensowenig eine starre Strukturbeziehung von "signifiant" und "signifié" gibt, wie es einen unmittelbaren Bezug von Sprache und Wirklichkeit, Kunst und Realität, Abbild und Bild gibt. Zeichen wie Texte sind autonom, beziehen sie sich nicht wirklich auf Dinge bzw. Sachverhalte oder die Wirklichkeit, sie sind vor allem erst einmal eines: "selbstreferenziell",  d.h. sie stehen in einem permanenten, aber offenen Wechselverhältnis zu anderen Zeichen. Was meint: Texte antworten auf Texte – nicht auf die Wirklichkeit.

Zeichen vertreten nicht das Bezeichnete in dessen Abwesenheit (das Wort "Rose" duftet nicht, erinnert aber an den Duft!), vielmehr "verdrängen" sie es, d.h. sie schließen es aus (wo das Wort "Rose" ist, da gibt es die Blume nicht). Zeichen sind nicht "sekundär", sondern "ursprünglich": Sie beziehen sich auf sich selbst und nicht auf etwas "Seiendes", sagt und schreibt Jacques Derrida und lehrt uns, dass die Verflechtung der Zeichen – die Wörter, der Text, das "Gewebe", auch das Drama – es ist, die verhindert, dass ein "Dramatiker" volle Verfügungsgewalt über seine spezifische Zeichen-Verwendung gewinnt. Die Sprache setzt den Sprechern sozusagen "Widerstand" entgegen, weil sie mehr ist als bloßes Instrument der Bedeutungszuweisung.

Das Theater oder das Drama repräsentiert oder vertritt eben nicht die Wirklichkeit. Es bedeutet sie auch nicht. Nein, es ist, was es ist: Theater oder Drama. Wo gespielt wird, kann logisch (oder zeichentheoretisch) die Wirklichkeit nicht sein. Das wussten schon die alten Griechen: die Darstellung des Ritus ist Theater – kein Ritus mehr. Die Vorstellung einer Wirklichkeit auf der Bühne ist nicht das Vorgestellte, auch nicht als Konstruktion – ganz sicher auch nicht als Produkt eines allmächtigen Weltenschöpfers.

Der Dramatiker ist nicht der Vater, die Dramatikerin ist nicht die Mutter (es gibt keinen Ursprung!) seines / ihres Dramas, da das Drama vielmehr ein Eigenleben führt (Roland Barthes schreibt dann gerne statt vom Dramatiker vom bloßen "Aufschreiber"/"scripteur"). Das war einmal state of theory: Kein (dramatischer) Text ist originell, da er sich immer aus heterogenem Material zusammensetzt; daher hat auch kein Drama keinen "einzigen Sinn":

„Heute wissen wir, dass ein Drama nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ‚Botschaft’ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen, von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen." (Roland Barthes)

Die "Dekonstruktion" des Poststrukturalismus fragt nach den Widersprüchen zwischen dem "Gemeinten" und dem "Gesagten", nach der "différance". Indem Derrida différence mit "a" schreibt, macht er nicht nur die Differenz von Schrift und Sprache deutlich (différence und différance sind phonetisch gleich, d.h. der orthografische Unterschied ist nicht zu hören), er nutzt auch die lexikalische Doppeldeutigkeit des französischen Verbs "différer": "verzögern" / "abweichen". Es gilt also nicht oder nicht nur die temporale Differenz: erst die Sache, danach das Zeichen (erst die Wirklichkeit, dann der Text), es gilt auch die "Verschiebung": Zeichen verschieben den Sinn vom bezeichneten Objekt weg auf sich selbst bzw. auf andere Zeichen hin.

Weiter lesend, kommentierend, zärtlich einlassend und affirmativ kritisierend führt die Dekonstruktion jeweils den Nachweis, dass logisch konstruierte Hierarchien – der Dramatiker als Herr seines Drama, Herr einer Aufführungspraxis und Herr der Rezeption des Lesers / Zuschauers – aufgrund der Zeichen-Autonomie nicht funktionieren können. Es geht also bei der kleinen Frage nach dem Dramatiker gleich ums Große und Ganze, es geht tatsächlich um eine Kritik am Logozentrismus – mit Jelinek und Pollesch zu sprechen auch am Phallozentrismus – der abendländischen Metaphysik! Man kann es aber auch kleiner haben: im Theater wird geredet, weil immer etwas abwesend ist. Was aber da ist, ist das Begehren nach dem, was fehlt: Sinn, Bedeutung. Hunger nach Sinn, Sinngebung, Sinngeber: womit wir wieder beim Dramatiker wären.

Roland Barthes hat es schöner gesagt: "Die vielfältige Schrift kann nämlich nur entwirrt, nicht entziffert werden."

 

3.

"draw a distinction!"

Man kann das Verhältnis Theater und Wirklichkeit auch als eine elementare systemtheoretische Differenz beschreiben zwischen System und Umwelt. Oder die Frage stellen: welches Problem erzeugt das System Theater? Und wenn "System" systemtheoretisch das ist, was eine "Umwelt" hat oder auf ein Problem antwortet, und das bedeutet, sich als System von seiner Umwelt abgrenzt bzw. das Problem in binäre Codes verwandelt, weiter fragen: was ist Problemlösung und was Offenhalten des Problems? Und je länger ich ein Problem offen halten kann, desto mehr Antworten produziere ich.

Das Theater antwortet als Untersystem Kunst (es könnte auch antworten als Untersystem Betrieb oder Untersystem Erziehung) auf das Umweltproblem von Doppel-, Mehr oder Vieldeutigkeiten – von Zeichen, Wörtern, Texten, Dramen – eben nicht mit gerecht / ungerecht (das tut das System Recht), gut / böse (System Moral) oder mit wahr / falsch (System Wissenschaft), sondern mit schön / hässlich bzw. mit in sich stimmig / nicht-stimmig.

Die Unterscheidung mutet ein bisschen armselig an, und man könnte daran erinnern, dass das Theater – das Drama wie die Vorstellung – viel zu komplex ist, um mit so einfachen binären Codes erfasst zu werden, und man hat damit immer "Recht". Man könnte aber auch die Funktionalität einer solchen Reduktion von Komplexität anerkennen – im Bewusstsein, dass wir an der Komplexität des Zusammenhangs von Kunst, Moral, Ökonomie, Recht und Gesellschaft immer scheitern. Man tritt keinem Dramatiker zu nahe, wenn man die bedauert, die für alles zuständig sein wollen oder eben sollen. "Denn", so Jochen Hörisch, "ab einem gewissen und ziemlich schnell erreichten Komplexitätsgrad der Weltprobleme muss jede noch so fähige, begnadete, autoritäre, tradierte, charismatische und beratungsoffene Instanz erfahren, dass sie systematisch überfordert ist, wenn sie universale Zuständigkeit für sich reklamiert."

Die Basis-Operation von Systemen ist die Beobachtung, seine Abgrenzung gegen die Umwelt ermöglicht eine "Beobachtung zweiter Ordnung": ein System beobachtet sich selbst beim Beobachten. In diesem Fall: auf das Problem, ob Rimini-Protokoll den Mülheimer Dramatikerpreis bekommen darf oder soll, oder grundsätzlich, was ein Dramatiker sei, entsteht und antwortet das System Feuilleton-Debatte mit der Entwicklung und Durchsetzung von binären Codes wie "nachspielbar" / "nicht nachspielbar" oder "weißes Blatt Papier / beschriebenes Blatt Papier" ("Handy“ / „Kirchenglocken" sollte auch erwähnt werden).

Alle Systeme differenzieren sich weiter aus, sie bilden sich "autopoietisch", das heißt, sie brauchen nicht wirklich die Umwelt oder das Ausgangsproblem. Christopher Schmidt antwortet auf Karl-Heinz Braun, der auf sein ureigenes und ganz sicher codevermischtes – will heißen, es geht nicht nur um Kunst – Problem als Verleger geantwortet hat, Peter Iden antwortet auf Schmidt, Bukowski folgt und auch dieser Text antwortet jetzt – ohne den Ausgang, eben „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“, den von Rimini-Protokoll als Dramatiker- und Regieinstanz zu verantworteten Text bzw. seine Inszenierung gelesen oder gesehen zu haben.

Weil sich das ausdifferenzierte System "Kunst"/"Dramatik" als autopoietisches System selbst durch Kunst/Dramatik produziert, lassen sich die Einmischungsversuche anderer Systeme begriffstheoretisch zurückweisen (Moral, Recht, Wirtschaft, Politik besitzen keine Zugangsberechtigung, weil sie anhand anderer Codes/Leitdifferenzen funktionieren!). Das hat ein paar Vorteile: es macht enttäuschungsresistent, der Künstler kann sich auf das konzentrieren, was er kann, nämlich Kunst produzieren, der Dramatiker auf das, was sein Beruf ist, nämlich Texte für das Theater schreiben – möglicherweise sogar Dramen –, die bestenfalls "in sich stimmen", und er muss nicht gleich die ganze Welt erklären. Und Kritiker müssen sich keine Gedanken machen, ob es ihn gibt: den Dramatiker oder die Dramatikerin.

Einen Preis muss man allerdings zahlen dafür: Umweltereignisse sind für soziale Systeme in der Regel nichts als irritierendes Rauschen. Menschen stören, sie sind für Systemtheoretiker erst einmal psychische Bewusstseinssysteme und das Bewusstsein ist: nicht zugänglich! Nie kann ich wissen, was der andere denkt, geschweige, was ich denke (bevor ich es sage, also kommuniziere). Bewusstsein und Kommunikation sind strikt getrennte Operationen. Das Reizvolle und Schöne – das so Schöne wie Gefährliche – in der Kunst wie am Theater ist, dass es so tut und es sich auch oft selber glaubt, als könne es Bewusstseinsakte kommunizieren.

 

4.

"Beim Sampling gibt es eine Gleichzeitigkeit verschiedener Elemente. Mehrere Schichten sind möglich. Unter Montage stelle ich mir mehr eine Art analoges Nacheinander vor. Bei dem, was ich jetzt Sampling nenne, kannst du – etwas übertrieben – nur eine Silbe lang auf eine andere Ebene gehen, darunter liegt aber noch die Syntax von etwas anderem." (Thomas Meinecke)

Einer meiner merkwürdigen Lieblingssätze meiner merkwürdigen Lieblingsdramatikerin – sehr alte Schule! – Dea Loher ist aus ihrer Rede zur Verleihung des Gerrit-Engelke-Preises:

"Mein Interesse gründet sich auch darauf, dass die Malerei sich spätestens seit der Erfindung der Fotografie auf ähnliche Weise wie die Dramatik, die ihrerseits – das ist jetzt alles sehr verkürzt gesagt – mit Beginn des Industriezeitalters, der daraus resultierenden Verkomplizierung von Eigentums- und Machtverhältnissen, der Zerschlagung des Subjektbegriffs usw., immer wieder in Legitimationskrisen geriet – wie unberechtigt diese auch sein mögen –, dass die Malerei sich also auf analoge Weise mit dem Problem der Darstellbarkeit herumschlagen muss: kann ´die Welt’, kann Wirklichkeit überhaupt noch adäquat erfasst werden, mit dem Anspruch auf Repräsentativität, auf Analyse ihrer Zustände, und wenn ja, wie; – oder hat sie sich damit zufrieden zu geben, die Nichtmehrerfassbarkeit von Wirklichkeit auf rein formale Weise zu analysieren und zu dokumentieren, sprich, sich auf einen Kommentar über den Zustand der Kunst selbst zu beschränken."

Das ist auch ein Sound, der "groovt" (sicher nicht für jeden) und ist nicht nur thematischer Ausdruck dessen, wovon dieser Text über den Umweg Dramatiker auch spricht: Wirklichkeit und Ästhetik, Politik und Kunst; ein Sound, der spielt mit Vorbildern – von Brecht über Kluge, Diederichsen bis Goetz – , der gestisch operiert, zeigend, das kann ich auch, da komm ich theoretisch her; ein Sound, der weiß, dass diese Sprechakte und Schreibweisen mitgehört werden und den meisten – zumindest unbewusst – präsent sind, der einen Gedanken als komplex darstellt und im Satzbau nachstellt und der schließlich nicht verheimlicht, dass eine solche Konstruktion auch Spaß macht, Musik produziert im Sinn von Thomas Meinecke: "Ich habe es gern, wenn es groovt. Leser merken das oft gar nicht so, weil sie bei meinen komisch-hypertaktischen Texten dauernd hängenbleiben. Aber für mich groovt es."

Das "usw." nach Dea Lohers "mit Beginn des Industriezeitalters, der daraus resultierenden Verkomplizierung von Eigentums- und Machtverhältnissen, der Zerschlagung des Subjektbegriffs" ist der musikalische Break, der Sprung auf eine andere Ebene, dieser Break ermöglicht ein "und", das nichts ausschließt, also den formulierten und gemeinten Gedanken ernst nimmt und gleichzeitig den Kommentar – du weißt, was ich meine – mit einschließt: spielerische Ironisierung und ernsthafte Rettung des Gesagten und Gedachten zugleich. (One plus One hat Godard es genannt.)

"Form ist Genauigkeitkeit, sonst nichts. (Der Rest ist Schwanzgerede.) Und Genauigkeit entsteht aus genauem Blick auf die Person und durch sie hindurch, aus Vermischung von Wahrnehmung und Vorstellung.“ – eine Postkarte von Klaus Theweleit an alle Wirklichkeit vorstellen wollenden Dramatiker. Es geht nicht um das – individuelle oder kollektive – Schreiben über Realität, sondern um eine Realität oder Materialität des Schreibens.

"Heute aber ist der Satzbau das Primäre", hat Gottfried Benn einmal geschrieben, der das als Politiker und Faschist allerdings nicht immer wusste. Robert Musil hingegen wusste, "Stil ist Formulieren auf der Höhe des Gedankens." Um auf der Höhe zu sein, muss man auf vieles hören, und nicht nur auf die eine Realität. Dass "etwas" hier nicht stimmt, merkt nur, wer vieles durch sich durchfließen lässt. Das "Viele" ist auch das Rauschen auf allen Kanälen, das Fließen, das nicht Festzumachende, das Nicht-Identische, ist der Nil, das Nihil, das Nichts. Die Codevermischung. Für "Identitätsklöße" allerdings ist das Nichts nur schwer aushaltbar, sie brauchen das "etwas", den Begriff – in unserem Fall die Berufsbezeichnung: Dramatiker –, an den sie sich andocken können.

Die produktiven Vielheiten unserer Umwelt zu erzählen, erfahrbar und mitteilbar zumachen, eben: Bewusstseine also Realitäten mit Kommunikationen zu verunreinigen – das ist die Aufgabe und die Möglichkeit zeitgenössischen Theaters. Dass ist möglicherweise mit Schere und Uhu, mit copy and paste, fremd und selbst zitierend, fragmentarisch, kollektiv, dokumentarisch, sich wiederholend, alleine oder mit Freunde/n bastelnd oder wie auch immer im Augenblick weiterführender und aufregender zu haben als das Modell Dramatiker. Den Tod des Dramatikers oder gar den Untergang des Abendlandes muss es ja nicht gleich bedeuten.

Radfahren kann man ja auch weiter, und ich muss nicht in jeden Flieger steigen.

 

5.

"Die Argumentation scheint nicht lückenlos zu sein, aber ich war jung und ziemlich begabt darin, eigene Bezugssysteme zu schaffen und notfalls flink von einem ins andere zu wechseln. Die richtig konsequenten Leute sind sowieso alle draufgegangen."–  Andreas Mand, Jg. 59, in seinem wunderlichen Schelmenroman "Kleinstadthelden".

Dass die richtigen konsequenten Leute sowieso alle drauf gegangen sind, ist natürlich Unfug. Es hat ein wenig gedauert, dies zu erkennen. Dieser Text schuldet sich einem Seminar an der Theaterakademie Hamburg im letzten Jahr: Theorie-Apotheke für Regisseurinnen und Regisseure (einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen).

 

Michael Börgerding, Jg. 60, ist seit Oktober 2005 Professor und Direktor der Theaterakademie Hamburg. Davor war er Dramaturg und Regisseur am Jungen Theater Göttingen, Dramaturg am Schauspiel Hannover und Chefdramaturg am Thalia Theater Hamburg. Gemeinsam mit Ulrich Khuon war er verantwortlich für die Autorentheatertage in Hannover und Hamburg. 1999 wählte er als Jury-Mitglied in Mülheim Oliver Bukowski zum Dramatiker des Jahres.

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Kommentare  
zu Börgerding
Ich möchte darum bitten, dass jeder, der diesen Text auch nur im Ansatz verstanden hat, sich hier namentlich dazu bekennt!
Gern würde ich verstehen, worum es dem scripteur eigentlich geht - kann das jemand in fünfzehn Zeilen zusammenfassen? Ohne Zitate bitte und ohne Anführungszeichen... danke.
zu Börgerding 2
Hilfe, was ist denn das? Ein wildes, ziemlich belangloses Durcheinander von Theorien und Theoriechen. Bitte, Herr Börgerding!, Systematik, genaue Argumente und nicht irgendwo Barthes reinschütten und hoffen, es kommt, was Gescheites raus. Das ist ja genau das voraufklärerische Als-Ob-Denken, wie es in jedem zweiten Programmbuch steht. Das schafft keine Klarheit, sondern wirft alles Mögliche durcheinander.
Dennoch herzliche Grüße, S.Wagner
zu Börgerding 3
Liebe Frau Wagner,
das klingt so, als kennten Sie sich mit dem, was der Herr Börgerding schreibt aus. Welches sind die Theorien und Theoriechen? Was wird durcheinander geworfen? Bitte, geben Sie Aufschluss, Madame! Es wäre uns eine Hilfe.
Herzlich
Buteiro
zu Börgerding 4
Der Herr Börgerding liefert einen Belesenheitsnachweis.
Welch ein Glück, dass seine Lesetätigkeit offenbar nach dem Studium abrupt abgebrochen ist (bzw. sich auf Dea Loher konzentrierte), denn sonst wären hier ausser Barthes, Foucault, Derrida, Godard, Benn sicher auch noch der Heiner Müller, Lyotard, Baudrillard, Dirk Baecker, Niklas Luhmann... zitiert worden.

Giorgio Agamben! Herr Börgerding! Giorgio Agamben ist m.E. derzeit der hippeste Autor!
zu Börgerding 5
Es fällt doch auf, dass alle diese vermeintliche Kritik am Text von Michael Börgerding sich auf Zwischenrufe beschränkt. Keiner der Kritisierenden hält es für nötig, ein Argument zu äußern. Dabei sollte dies, wenn ich das Programm von nachtkritik.de richtig verstehe, doch die Seite auszeichnen: Diskussion, Argumente, Austausch.
Stattdessen allgemeines Herumstehen auf der Meta-Ebene, anti-intellektuelle Affekte, aber keinerlei Gründe. Das finde ich schade.
Mit Grüßen
Martin Hameister
zu Börgerding 6 (Argumente)
Argumente werden gefordert. Das sei hier versucht.
Sprache, schreibt Börgerding, verweigere sich jeder Eindeutigkeit. Das ist zum einen trivial, zum anderen falsch. Trivial ist es, weil diese Nicht-Eindeutigkeit das Grundmerkmal der Sprache überhaupt ist: Jedes Benennen ist ein Selektionsprozess (entweder wir nennen etwas Tisch oder Stuhl); und jedes Benennen produziert damit genau diese Nicht-Eindeutigkeit (es gibt Tische, die wie Stühle aussehen), die auf der anderen Seite Kommunikation und Sprechen erst ermöglicht (ist es ein Tisch? Ein Stuhl?) – gäbe es sprachliche Eindeutigkeit, bräuchte es kein Gespräch. Wenn Börgerding nun aber von semantischer Unreinheit spricht, dann setzt er als Prämisse eine Reinheit, die von der Sprache nicht nur nicht erreicht werden kann, sondern auch gar nicht will – das wäre das Ende der Sprache. Nun mag es zwar sein, dass jedem Sprechen diese Sehnsucht innewohnt, das aber anzunehmen, bedeutet, ein außer-sprachliches Reinheits-Ideal anzunehmen, ein Ideal, das von der Sprache nie erreicht werden kann und will – es sei denn, sie schafft sich selbst ab. Das ist metaphysisch gedacht – und muss deshalb nicht kritisiert werden. Allerdings hat solches Denken Folgen. So drückt sich in diesem Ideal einerseits ein Denken aus, das auf Reinheit, Einheit etc. gerichtet ist (und gegen das nicht zuletzt Barthes heftig angegangen ist), und zweitens benutzt Börgerding damit ein Argument, das die Sprache als Medium eines Scheiterns erscheinen lässt – eines Scheiterns an einem Ideal. Dieses Ideal ist aber eben gerade kein außer-sprachliches, sondern von der Sprache selbst erzeugt: Das Nicht-Nennbare ist ein Effekt des Nennbare. Dass Sprache also ein „Eigenleben“ hat, bedeutet nicht, dass sie an diesem Ideal scheitert, sondern nur: dass man es eben mit Sprache zu tun hat. Das Scheitern an diesem Ideal der Sprache als Mangel vorzuhalten, macht Börgerdings Argument falsch, falsch, weil selbstwidersprüchlich: Es vermengt ein metaphysisches Denken mit ein poststrukturalistisches Argument.
Börderding schließt dann von seinen sprachtheoretischen Erörterungen (Verhältnis Text – Wirklichkeit) kurzerhand auf das Verhältnis Drama/Theater – Wirklichkeit. Beide Verhältnisse betreffen aber radikal verschiedene Bereiche: Erkenntnistheorie und Ästhetiktheorie. Es ist ja gerade der Witz, dass die ästhetische Erfahrung eigenen Regeln unterliegt, es diese, von Börderding behauptete Parallele, also so nicht gibt: Etwas ist Kunst oder nicht; ist es Kunst, folgt es anderen Regeln. Diese Grenze zu überspringen, verkennt das Problem. Nicht das sprachliche und auch nicht das Welt- oder Wirklichkeits-Verhältnis macht die Frage nach dem Drama schwierig, sondern die Frage danach, wodurch etwas zum ästhetischen Gegenstand wird oder nicht. Und ästhetische Gegenstände „verunreinigen“ nicht Bewusstseine durch Kommunikation (das kann jede Kommunikation leisten), sondern sie setzen die Bewusstseine anderen Regeln aus – die Formen (Montage etc.) sind dabei nur die Außenseite. Ein ästhetischer Gegenstand (ein Text, eine Inszenierung etc.) ist aber „im Inneren“ anders strukturiert als nicht-ästhetische Gegenstände. Jedes nicht-ästhetische Welt-Verhältnis will und muss eine Ordnung herstellen, die nur im außer-ästhetischen Bereich gilt (und hier auch notwendig ist), von der Kunst (der ästhetischen Erfahrung) aber notwendigerweise unterlaufen wird, und zwar deshalb, weil dies ästhetische Erfahrungen immer tun: Das macht ihren Reiz, ihre Gefahr, ihre Lust aus. Der Rest ist allenfalls ein Streit über die Grenzen von Gattungen – die per Definition für ästhetische Regeln ohnehin nicht gelten. Ob etwas ein Drama ist, entscheidet sich m.E. deshalb im konkreten Prozess einer ästhetischen Erfahrung und nirgends sonst – etwas ist nur dann ein Drama, wenn es einer spezifisch ästhetischen (Theater-)Erfahrung stattgibt. Der Text, die Form, die Sprache ist dafür allenfalls ein Hinweis. Mehr nicht.
Herzlich, S. Wagner.
zu Börgerding 7
Ho ho ho, Frau Wagner, recht vielen Dank. damit habe ich erstmal zu tun jetzt.
Ohne schon die ganze Tragweite und die Implikationen Ihres Arguments zu ermessen - eins möchte ich doch gleich fragen: welcher Art und welchen Inhaltes ist denn dann die ästhetische Erfahrung, an der allein sich entscheidet, Ihnen zufolge, "ob etwas ein Drama ist"?
Mit vielen Grüßen
Daniel Buteiro
zu Börgerding 8 (mehr Argumente)
Lieber Herr Buteiro,
das lässt sich nicht so fix in so einem Kommentar klären (wenn überhaupt), was man denn unter ästhetischer Erfahrung zu verstehen hat. Nur soviel: Wenn man die ästhetische Erfahrung "entscheiden" lässt, ob etwas Kunst oder nicht Kunst ist (und davon abgeleitet, ob etwas ein Drama oder kein Drama ist), heißt dies: Das Handwerk, also die äußeren Merkmale wie Dialogstruktur etc., sind dafür nicht das entscheidende Kriterium, sondern allenfalls ein Indiz. Diese "Entscheidung" fällt mit dem Machen einer ästhetischen Erfahrung, und dazu gehört sowohl ein "geeigneter" Gegenstand (ein Text, eine Inszenierung) als auch ein "offener" Rezipient. Was aber ein "geeigneter" Gegenstand bzw. ein "offener" Rezipient ist, lässt sich nicht festlegen, ist also nicht standardisierbar. Weder vom Gegenstand noch irgendwie "im" Rezipienten ist damit ablesbar, ob sie eine ästhetische Erfahrung erlauben. Und woher weiß man dann, ob man eine ästhetische Erfahrung (und in diesem Fall eine spezifische Theater-Erfahrung) macht? Durch die Erfahrung selbst. Ungefähr so, wie man auch weiß, dass man Angst hat oder sich freut, ohne dass man konkret sagen könnte, immer dann, wenn X oder Y auftritt, habe ich Angst oder freue mich. Aber WENN, dann weiß man es - ohne Zweifel. WARUM lässt sich erst DANACH analysieren. Ich glaube, deshalb sind ästhetische Erfahrungen nicht planbar, nicht herstellbar, es können nur "günstige" Bedingungen geschaffen werden. So in etwa. Aber wie gesagt: da kommen ziemlich viele Probleme, Fragen zusammen.
Herzlich, S. Wagner
zu Börgerding 9 - Metaphysik
Liebe Frau Wagner,
Der Titel lautet "Texte antworten auf Texte..."
Vielleicht müsste man nicht "Es vermengt ein metaphysisches Denken mit ein[em] poststrukturalistisches[n] Argument." an dem Argument (Text) kritisieren. Vielleicht könnte man es als Metaphysik des poststrukturalistischen Denkens begreifen. Das ein essayistisch formulierter, exzerpierter Text nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit vertritt, ist m.E. klar.
Viele Grüße, F.
zu Börgerding 10 - Anspruch auf genaue Argumente
Hallo F.,
klar, das könnte man sagen: dass das poststrukturalistische Denken selbst metaphysisch ist. Aber zum einen hätte dies Börgerding benennen können und zum anderen, wichtiger noch: Dass ein Essay keine Wissenschaft ist, ist so klar nicht (wenn man bedenkt, dass zum Beispiel der Herr Barthes nicht wenige Essays geschrieben hat - woran erkennt man schon die Wissenschaft? An den Fußnoten? Glaub ich nicht.), dennoch ist die Form des Essays keine Entschuldigung dafür, wenn die Argumente wacklig sind, oder? Das wär' jedenfalls ziemlich arg. Ich habe jedenfalls nicht den Anspruch an den Text von Börgerding, dass er einen wissenschaftlichen Text schreibt (was immer das sein mag), aber auf den Anspruch genauer, plausibler Argumente möchte ich dennoch nicht verzichten. Sonst wär's ja nur Klappern mit dem Theoriebeutel - und das ist ein bisschen wenig.
Es grüßt, S. Wagner
zu Börgerding 11
Einige unserer jungen Theaterprofessoren haben sich die Franzosenkrankheit geholt. Sie schreiben nicht, was sie denken, sondern wie sie das, was sie denken wollen, ins Deutsche übersetzen können,so als wäre ihr Text von Derrida oder Foucault geschrieben worden.

Das klingt dann wie folgt: „Man kann das Verhältnis Theater und Wirklichkeit auch als eine elementare systemtheoretische Differenz beschreiben zwischen System und Umwelt. Oder die Frage stellen: welches Problem erzeugt das System Theater?“ und /oder usw.

„Das ist auch ein Sound, der "groovt" (sicher nicht für jeden) und ist nicht nur thematischer Ausdruck dessen, wovon dieser Text über den Umweg Dramatiker auch spricht: Wirklichkeit und Ästhetik, Politik und Kunst; ein Sound, der spielt mit Vorbildern – von Brecht über Kluge, Diederichsen bis Goetz – , der gestisch operiert, zeigend, das kann ich auch, da komm ich theoretisch her; ein Sound, der weiß,..“

Schwafel, schwafel-
Eine Seminararbeit, die zeigen soll, dass der Student etwas von Poststrukturalismus und Systemtheorie begriffen hat,könnte man ja hingehen lassen noch in diesem Stil, aber ein Professor, der so schreibt?? Dazu in einem Medium der Öffentlichkeit und als Theaterkritik? Das kann so wohl nicht ernst gemeint sein. Oder?(Vgl.www. Ulmer-tagebuch.blog,de)
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