Grenzlandschaft mit Schaum

von Thomas Irmer

Krakau, 19. Juni 2009. Das Schengen-Abkommen zum nahezu unkontrollierten Grenzverkehr hat nicht nur viele Grenzbeamte überflüssig gemacht, sondern auch einen wenig beachteten Berufsstand endgültig in die Krise gebracht: die Schmuggler. Im konkreten Fall von Andrzej Stasiuks am Stary Teatr uraufgeführtem Stück geht es um die polnisch-slowakische Grenze im hintersten Winkel beider Länder, wo vor 1989 tschechoslowakische Kofala-Cola, polnischer Wodka und DDR-Gummibärchen als nichtdeklarierte Handelsware bewegt wurden.

Der Grenzbeamte Edek ist nun Rentner und trifft auf seine alten Gegner am schon zerlegten Schlagbaum. Dort hält der junge Patryk Wache im Auftrag von irgendwelchen geheimnisvollen Türken, die angeblich das Gelände gekauft haben, während die bodenständige Marika den einstigen Hundezwinger der slowakischen Grenzer als Getränkekiosk betreibt. Die Runde repräsentiert das für Stasiuk so typische Milieu der kleinen Wendeverlierer mit komischem Potential, wenn diese zwischen der Sehnsucht nach alter Ordnung und neuen Verheißungen hin- und herschwanken. Von England wissen sie etwa, dass dort die Schwulen gerne Frauen kaufen. Dass nun aber auch noch der Türke seine Hand im Spiel hat, diese Verunsicherung verbindet die früher so verschiedenen Männer vom Rande Europas.

Themenpark zur osteuropäischen Grenzkultur

Stasiuk schrieb das Stück im Auftrag des Goethe-Instituts für dessen Projekt "After the Fall", das sich mit neuen Theatertexten den Folgen des Mauerfalls in ganz Europa von Großbritannien bis Moldawien widmet. Die Idee mag er direkt vor der eigenen Haustür gefunden haben, denn der vor allem für seine erzählende Prosa und als Essayist gerühmte Autor wohnt in einem entlegenen Winkel der Beskiden nahe der slowakischen Grenze, wo der Blick auf Europa wahrscheinlich doch ein sehr anderer ist als von Brüssel oder Berlin aus. Stasiuk nutzt jedenfalls diese geographische wie auch soziale Randperspektive, um das Verschwinden von Grenzen mit einem grotesken Einfall zu thematisieren.

Denn der mit Bangen erwartete Türke entpuppt sich als Geschäftsfrau, die einen Themenpark zur osteuropäischen Grenzkultur anlegen will. Das historische Personal ist Frau Salamina willkommen: Edek könnte sich als Grenzerdarsteller etwas zur Rente dazuverdienen, die Schmuggler mit ihren besonderen Kompetenzen werden außerdem als Fachberater angefragt. Und der einst so bedeutende Schlagbaum ist ja auch noch da. Die zentrale Idee der Komödie ist also, dass diese verzagten Gestalten in ihre alten Rollen schlüpfen könnten, wenn sie sich das im Auftrag einer türkischen Frau erlauben würden.

Am Ende der europäischen Träume

Leider ist Stasiuk kein überzeugendes Ende für diese Idee eingefallen: Aus einem nicht erkennbaren Grund wird Patryk, der mit seiner London-Erfahrung an die vielen jungen polnischen Teilzeitmigranten im Westen erinnert, erschossen und das ganze Projekt "Grenzübergang im alten Osteuropa" fällt ziemlich unkomisch und dramaturgisch unkonzentriert auseinander. Das Schlussbild schreibt zudem ein wohl ironisch gemeintes Muttergottes-Bild vor, wenn Frau Salamina den Kopf des toten Patryk im Schoß wiegt: zwei Hoffnungsträger am Ende ihrer europäischen Träume als Pietá.

Mikolaj Grabowski, der Intendant des Stary und schon der UA-Regisseur von Stasiuks erstem Stück "Nacht" (2005), hat diesen Einakter geradezu opulent entfaltet und manche Schwäche des Textes mit überzeugenden Mitteln überspielen können. Aus dem Schmuggler-Chor macht er ein immer wieder schräg anstimmendes Sänger-Trio, das die Inszenierung gleich von Anfang an vom platten Realismus der Vorlage entfernt und dabei elegant musikalisiert.

Altes Denken, neues Sein

Der Grenzrentner Edek wurde mit dem Theatersuperstar Jan Peszek besetzt, der dann tatsächlich den Riss zwischen altem Denken und neuem Sein auch gleich noch als Spiegel der anderen Figuren vorführt. Schließlich taucht die Bühnenbildnerin Magdalena Musial ihre anfangs wie aus dem Fernsehtheater wirkende Szenerie mit Schlagbaum, Kiosk und im Hintergrund vielen Tannenbäumchen in ein mächtig quellendes Schaumbad, das dem am Ende ins Schlingern geratenden Stück zu einer gewissen metaphorischen Höhe verhilft: als grotesker Ausdruck dessen, was Stasiuk mit dieser Transformationskomödie wohl im Sinn hatte.

Wer nur wartet, den erwischt – anders als bei "Godot" – die unerwartete Auflösung. Um sie dann missmutig abzulehnen. Politisch korrekt ist hier naturgemäß wenig. Die vielfach beargwöhnte Türkin, von Katarzyna Maciag zu einer grazilen Businessfrau aus dem Morgenland stilisiert, erkennt nicht einmal, dass Patryk tot ist. Denn wie die Klischees im allgemeinen so stehen, hält sie den aufgebahrten jungen Mann für einen – typisch – betrunkenen Slawen. Schaum drüber!

 

Czekając na Turka – Warten auf den Türken (UA)
von Andrzej Stasiuk
Regie: Mikolaj Grabowski, Bühne und Kostüme: Magdalena Musial, Musik: Mikolaj Trzaska.
Mit: Iwona Bielska, Katarzyna Maciag, Paulina Puslednik, Piotr Glowacki, Zbigniew W. Kaleta, Wiktor Loga-Skarczewski, Jan Peszek, Jacek Romanowski, Krzysztof Wieszcze.

www.goethe.de/kue/the
www.stary-teatr.krakow.pl

 

Mehr lesen? Im Mai 2009 stellte das Goethe-Institut in Berlin das Projekt After the Fall – Europa nach 1989 in Gänze der Öffentlichkeit vor, und hat nun den Korrespondenten auch zum Besuch der Stasiuk-Uraufführung nach Krakau eingeladen.

 

Kritikenrundschau

Auch Katrin Bettina Müller war auf Einladung des Goethe-Institus in Krakau und schreibt in der taz (25.6.), dass Stasiuks Blick in Polen eine Ausnahme sei. Man scheine nicht wie in Deutschland versessen darauf zu sein, die letzten zwanzig Jahre zu feiern und Rückschau zu halten, "zu viele der anfänglichen Hoffnungen blieben auf der Strecke". Mikolaj Grabowski, der Stasiuks Stück inszeniert, lässt in keinem Moment daran zweifeln, "dass die Sehnsucht nach alten Ordnungsmustern auf vielen Momenten des Selbstbetrugs und der Verdrängung beruht - doch ebenso kommt das Schwärmen für die neuerworbenen Freiheiten nicht ohne leicht durchschaubare, rhetorische Krücken voran." Wie tief die mentale Verankerung in alten Hierarchien die polnische Gesellschaft der Gegenwart noch prägt, gehört für Grabowski nach wie vor zu ihren Tabus, und deshalb sei ihm Stasiuk wichtig "als einer, 'der in diesem Ameisenhaufen rührt'". Das Stück und seine Inszenierung haben einige Schwächen, es sei zu sehr Schwank und zu vorhersehbar. Die Folgen der Globalisierung an diesem Mikrokosmos durchgespielt, tun niemandem weh. "Tritt man aus dem schönen alten Theater wieder hinaus auf die Straßen der Altstadt Krakaus, die abends von trinklustigen Touristenbanden geradezu überschwemmt wird, hat das Stück auch etwas von Rückzug an einen Ort, dem als Zukunft noch bevorsteht, was die Stadt Krakau schon längst erlebt hat. Aber vielleicht braucht es die Beschränkung, um das schon alltäglich Gewordene wieder sichtbar zu machen."