Partisanenstreich in der Mainstream-Kultur

von Thomas Irmer

Bremen, 24. Juni 2009. Heiner Müllers zwischen 1956 und 1971 entstandener Bilderbogen zur deutschen Geschichte gehört zu seinen selten gespielten Stücken. Was sicher nicht allein daran liegt, dass über vierzig, zumeist kleinere Rollen zu besetzen sind. Von der Varus-Schlacht über Friedrichs Preußen, Stalingrad, Hitler und Goebbels bis zur DDR am 17. Juni 1953 spannt sich der Bogen subversiven Unbehagens an deutscher Geschichte: Mal als schwarze Groteske, mal als hart überhöhter Realismus, der dann wieder mit einem surrealen "Nachtstück" gekontert wird.

Dieses Stück im Jubiläumsjahr zu '89 anzusetzen, da an den Mauerfall oft kontextlos auf "Sonnenallee"-Niveau erinnert wird, ist schon mal ein dramaturgischer Streich für sich. Dass ihn das kleine theaterlabor bremen vorführt – und nicht etwa eines der großen Stadt- und Staatstheater –, ist geradezu ein Partisanenstreich in einer Mainstream-Kultur, die die sommerschwärmerische Austragung einer Fußball-WM als finales Gelingen deutscher Geschichte ausgibt.

Visionen von roten Fahnen

Mit einem Lied vom verregneten Sonntag zu Filmbildern aus den Weltkriegen setzt Patrick Schimanski den Auftakt und damit das wichtigste Stilmittel seiner Inszenierung, denn die vom Ensemble gesungenen Lieder, Hymnen und Schlager (von Rudi Schmücker an der Orgel begleitet) bilden die mit Ecken und Kanten versehene Grundlage des szenischen Bilderbogens, für den Trixy Royeck und Stefanie Bartel den Concordia-Saal (wo man praktisch ohne Bühnentechnik auskommen muss) mit grauen Schaumstoffmatten und einem heutigen Mikrophon-Podest ausgestattet haben. Es ist also eine beinahe leere Bühne für dreizehn Schauspielerinnen und fünf Schauspieler, von denen die meisten am theaterlabor zu einer Art Weiterbildung im Beruf zusammengekommen sind.

Schimanski nutzt die Notwendigkeit der gegenläufigen Geschlechterbesetzung geradezu ideal aus, wenn er die wenigen Frauenrollen (eigentlich nur drei Huren) auf die Männer verteilt und mit den überwiegend jungen Spielerinnen das Harte und Spröde der männlichen Figuren bricht und so auch deren Texte überraschend zu Gehör bringt. So etwa Lisa Marie Becker am Ende als "ewiger Maurer" Hilse mit seinen vom Krebstod getragenen Visionen von den "roten Fahnen über Rhein und Ruhr".

Flöten-Friedrich und die Clowns von Sansoucis

Oder Paulina Julia Plucinski in der Hitler-Groteske, deren mit dem Kontergan-Wolf schwangerer Goebbels (Markus Seibel) dann unter Beteiligung des gesamten Ensembles als kollektive Orgie niederkommt. Zuvor hatten Viola Neumann und Stefanie Lanius die wohl bekannteste Szene des Stücks mit Flöten-Friedrich und dem Müller von Potsdam als Clowns in Hosenträgern als derbe Sex-Nummer mit Schaumgummi-Pimmel regelrecht zelebriert. Der Dramatiker, der zur Zeit des Schreibens vom Theater abgekoppelt war, fordert wie zur Rache die Unmöglichkeit eines zerbrechenden Zirkuslöwen: Schimanski lässt ihn singen als "Lion in the Jungle" und die Sängergruppe dann durch die energischen Clowns zerfallen. Ein schöner Einfall, gewachsen aus der Idee fürs Ganze.

Die wichtigste Frage war jedoch, ob es auch gelingt, diese deutschen Szenen für die jüngere Vergangenheit zu öffnen. Dafür nimmt der Regisseur, der Müllers Text ansonsten beinahe ungekürzt bei sich belässt, Videoprojektionen für assoziative Kontraste. Die Nibelungen-Widergänger im Kessel von Stalingrad mit Bildern vom Mob in Rostock-Lichtenhagen zu verbinden wirkt etwas verquer.

Subversion der offiziellen Geschichtsbilder

Gelungen dagegen, zwischen Arminius und der Szene "Hommage à Stalin", in der der Mauerbau schon anklingt, 89er Fluchtbilder von der Prager Botschaft und von Schabowskis konfuser Pressekonferenz zu montieren. Hier setzt sich fort, was zusammengehört, und wird gleichzeitig konterkariert durch den Schlager "Tränen lügen nicht", der sich ganz ernsthaft auch mit individueller Freiheit beschäftigt.

Insofern hat Schimanski auch gutes Gespür für Müllers Mehrschichtigkeit aus Grusel-Kabarett und Subversion der offiziellen Geschichtsbilder bewiesen und ansprechend gegeneinander gesetzt. Am Ende, in die doch sehr mehrdeutige Szene mit dem im Sterben liegenden Maurer, der zu der toten Rosa Luxemburg spricht, sind ein paar Zeilen aus Müllers Gedicht AJAX ZUM BEISPIEL eingefügt (mit unvermeidlicher Whisky-Flasche von Elke Jochmann gespielt), in denen Müller von dem Bemühen spricht, noch eine Tragödie über Deutschland zu schreiben, sein letztes Stück "Germania 3".

So erscheint der Autor selbst rückverschlingend in seinem ersten Germania-Stück in dessen insgesamt hochintelligent ausgespielter Bremer Inszenierung.

 

Germania Tod in Berlin
von Heiner Müller
Regie: Patrick Schimanski, Bühnenbild: Trixy Royeck, Stefanie Bartel, Kostümbild: Andrea Santos-Cornelius, Video: Karl-Heinz Stenz, Dramaturgie: Sarah Steiding, Stefan Martens. Mit Sonja Bansemer, Lisa Marie Becker, Martina Becker, Kerstin Gasch, Juliane Glatz, Kazimierz Jankowski, Elke Jochmann, Doris Maria Kaiser, Stefanie Lanius, Viola Neumann, Fabian Pfeffer, Paulina Julia Plucinski, Markus Seibel, Bettina Storm, Denise Vilöhr, Jenny Sue Wilson, Felix Würgler, Umut Sinan Zor.

www.theaterlab.de


Mehr lesen? Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen inszenierte Patrick Schimanski 2009 die Uraufführung von Werner Fritschs Bring mir den Kopf von Kurt Cobain. Beim Bremer Theaterlabor setzte Schimanski im Juni 2008 Rainald Goetz' Jeff Coons in Szene.

 

Kommentare  
Heiner Müller in Bremen: Identitätskrise
Aufgrund von Identitätsfindung oder Identitätskrisen des Regisseurs musste schon so manches Publikum leiden, so war es auch bei Schimanskis Inszenierung von Heiner Müllers Germania Tod in Berlin in Bremen.
Wie kann man eine gute Vorlage derart grausam verstümmeln, es verursachte mir und meinen Begleitern schon fast körperliche Schmerzen!
Im Gegensatz zu Ihnen fanden wir auch den Einsatz des Schaumgummi-Dildos (selbst diesem fehlte es an Saft und Kraft) nur noch peinlich und überflüssig.
Heiner Müller in Bremen: grandios
P., vielleicht sollten Sie nächstes Mal doch lieber wieder Karten beim Ohnsorg-Theater bestellen...
Patrick Schimanski und das theaterlabor waren grandios!
Heiner Müller in Bremen: bemerkenswert
Herr P., die Identitätsfindung eines Regisseurs zu verfolgen, kann nicht nur leidvoll, sondern auch ausnehmend interessant sein; eingebettet in Heiner Müllers großartigen Stoff zur Identität der Deutschen selbst wird es gar erkenntnisreich und inspirierend.
Was Patrick Schimanski mit der Besetzung des Theaterlabors Bremen hier in nur sechs Wochen aus dem Boden gestampft hat, ist bemerkenswert.
Mit Kreativität und Engagement lässt diese Inszenierung auf ihrer Achterbahnfahrt von kitschig-derb bis nachdenklich-komisch keine Minute Langeweile aufkommen.
Heiner Müller in Bremen: nicht sinnlos verplempern
Sprechen Sie ruhig deutsch, diese Anglizismen sind soo
langweilig!
Ehrlich gesagt, interessiert mich die Identitätsfindung von Herrn Schimanski nicht die Bohne, ich möchte für mein Geld einen angenehmen und nicht sinnlos verplemperten Theaterabend verbringen. Und Frau Kreutner, was ist das überhaupt, Ohnsorg? Klingt wie Kummerkasten, sie Arme.
Heiner Müller in Bremen: Herr D. von Westernhagen
Also Herr P., ich muss schon sagen, Sie machen es einem nicht leicht, ernst zu bleiben! :D
Nun gut, Sie kennen weder das Ohnsorg-Theater, noch haben Sie die Oscar Wilde-Anspielung verstanden, da verwundert Ihre Reaktion auf die Aufführung dann doch nicht mehr.
Nur, warum so miesepetrig, Herr P.? Irgendwie erinnern Sie mich mehr an "Herr D." von Westernhagen - aber das kennen Sie ja sicher auch nicht.
Dann mal noch einen seichten unverplemperten Abend!
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