Das Gift der Entwurzelung

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 28. Juli 2009. Beim Young Directors Project der Salzburger Festspiele wolle man "Abende schaffen, die durch die Urheberschaft der Regisseure geprägt sind", sagte Theaterchef Thomas Oberender dieser Tage in einem Pressegespräch in Salzburg. Und dem von ihm eingeladenen "Dichter zu Gast" Daniel Kehlmann, der ihm mit seiner Eröffnungs-Festrede ein ideologisch gar schwefelig riechendes Ei gelegt hatte, fuhr er nachträglich recht deutlich übers spießbürgerlich-arglose Plappermaul: "Was könnte Theater heute anderes sein, als Regietheater?"

Erzähltheater zum Beispiel. Wort- und Geschichten-Rätselstoff zu einem Video, wie im Fall des amerikanischen Theatermanns Kenneth Collins, der als erster von vier Eingeladenen die Bühne im Salzburger Alternativ-Theaterspielort "republic" bezogen hat. Aber eben: regie- und nicht primär autorengeneriert.

Kreuzung zwischen Road Movie und Kammerspiel
Das will Thomas Oberender so und das wird so schon geraume Zeit praktiziert beim Young Directors Project der Festspiele: ergebnisoffen, wenn man das so sagen will, weil das Spielfeld mittlerweile weltweit geöffnet und die Auswahl zwangsläufig völlig beliebig ist. Aber das muss ja kein Nachteil sein. Doch nach der Premiere von "Welcome to Nowhere (bullet hole road)" wusste das Publikum merklich nicht so recht, wie ihm geschehen war. So verlegen und halbherzig klingt Beifall ganz selten. Etwas über eine Stunde lang waren wir Zeugen einer Kreuzung zwischen Kammerspiel und live-synchronisiertem Video.

Im Bild: ein Road Movie, mit Blick auf Straßen, die in ferne Horizonte führen, auf Menschen hinter dem Lenkrad. Auf Autos und auf Autowracks. Auf Szenen im Motel. Einmal sogar auf einen Würge-Mord am Straßenrand. Gleich zu Beginn hat einer auf die Frage seiner Partnerin "Du hast keine Leiche im Auto?" versichert: "Nein." Dürfen sich die Protagonisten im Stück "Welcome to Nowhere (bullet hole road)" deswegen in Sicherheit wiegen?

Das Video ist stark querformatig. Man hat immer den Eindruck, eigentlich zu wenig zu sehen, um wirklich ein Bild von der jeweiligern Situation zu bekommen. Der schmale Projektionsstreifen ist über einer Plexiglas-Box, die bloß zwei Meter breit und ein Meter tief ist. Mikrophone stehen da. Neonröhren und Glühbirnen geben eigenartiges Licht. Abwechselnd, in Zweiergruppen oder allein, erzählen in dieser Box, in einem völlig bewegungs- und gestenlosen "Kammerspiel", vier Darsteller Geschichten, die seltsam vage bleiben.

Unsanft geerdeter American Dream
Um mögliche Annäherung geht es, um das Ergründen des Gegenübers beim Trampen, in dem immer auch ein Nachforschen der eigenen Befindlichkeit mitschwingt: "So viel Abstand wie möglich" will einer bringen "zwischen mich und mein Fleisch". Öffnet ein solcher Abstand Durch- oder Überblick? "Am Morgen werden wir sehen, das es keinen Ausweg gibt." "Alle sind in Eile, um nirgendwo anzukommen", heißt es einmal, und: "Alles verwischt sich – Bilder, die nicht zusammenpassen."

Die Kunst des 1975 geborenen New Yorker Theatermanns Kenneth Collins ist, dass er in kurzen Dialogszenen gleichsam subkutan das Gift der Entwurzelung injiziert. Hoffnungslos, hinter das "Script" dieser Geschichte zu kommen. Aber sehr wohl teilt sich mit, dass die vier Leute in unfreiwilliger Isolation unterwegs sind, dass ihre Sehnsucht im Stehenbleiben liegt. Beziehung wünschten sie sich im besten Fall, und nicht den One-night-Stand im Motel. Vielleicht sollte man's dabei belassen als Zuschauer und einen durchgehenden Handlungsfaden gar nicht erst ergründen wollen. Das Leben folgt nicht immer einem fest gelegten Script.

"Temporary Distortion" heißt Collins' Theatertruppe, zeitweilige Verbiegung, Deformierung. Das gilt für seine Theaterfiguren in der Box ebenso wie für das Video, das William Cusick gedreht hat. Entwurzelte Yankees, die auch in ihren Kostümen (TaraFawn Marek) aussehen wie der unsanft geerdete American Dream. So rätselhaft das alles im Einzelnen ist, so hat es doch Suggestionskraft. Und man hat am Ende der siebzig Minuten nicht einmal auf die Uhr gesehen.



Welcome to Nowhere (bullet hole road)
von Kenneth Collins
Regie: Kenneth Collins, Video: William Cusick, Kostüme: TaraFawn Marek, Musik und Ton: John Sully (Musik und Ton).
Mit: Ben Beckley, Stacey Collins, Brian Greer, Lorraine Mattox, Jessica Grace Pagan, Stephanie Silver.

www.temporarydistortion.com
www.salzburgerfestspiele.at


Mehr lesen? Das Salzburger Schauspielprogramm wurde 2009 von Sebastian Nüblings Verschmelzung des Antonio-Vivaldi-Oratoriums Juditha triumphans mit Friedrich Hebbels Trauerspiel Judith eröffnet.

 

Kommentare  
Kenneth Collins in Salzburg: keine Vision
Leider ist das YDP zu einem Gastspielbetrieb abgestiegen Nichts mutiges, nichts eigenes, keine Vision. Sogar die Gastspiele sind mau, da hat das Landestheater St.Pölten noch mehr zu bieten.
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