Die Stehpulte des Stemanns

von Katrin Ullmann

Hamburg, 3. Oktober 2009. Groß und Gelb wie der Mond ist er. Gleitet langsam vom Schnürboden hinab und verharrt mittig und zentral: Der Lautsprecher, das ist schnell klar, spielt die Hauptrolle an diesem Abend. Gegeben wird Lessings "Nathan der Weise" – am Hamburgischen Thalia Theater. Den Grund dafür gibt Intendant Joachim Lux: Er will Gotthold Ephraim Lessing, seine Stücke, seine "Hamburgische Dramaturgie" – kurz: seinen Einfluss – stärker ins Bewusstsein heben. Denn: "Lessing ist der Aufreger, der Stachel (nicht nur) in unserer Stadt."

Doch von stacheliger Aufregung fehlt an diesem Abend jede Spur. Nicolas Stemann hat sich für die Regie von "Nathan der Weise" gemeldet – bereits nach den ersten Minuten allerdings fragt man sich, warum.

Das Toleranzdiskutierstück im Synchronstudio

Vor einer dunklen, weitgehend leeren Fläche, auf der Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt nicht mehr als ein Klavier, ein Mischpult, Mikrofone und weiße Kerzen duldet, hängt ein altmodischer Lautsprecher, der die ersten Szenen des Dramas wiedergibt. Später kommen die Darsteller hinzu, zumindest deren Stimmen. Das heißt: Die Schauspieler befinden sich im schummrigen Bühnenhintergrund und lesen an Stehpulten aus ihren Textbüchern. Sicherlich tun sie dies mit einer gewissen Professionalität, aber sie tun dies fast den ganzen Abend lang.

Was zunächst als charmante 50er-Jahre-Tonstudioästhetik durchgehen und den Zuschauer zu einem nachsichtigen "Da hat jemand Lessings Toleranzdiskutierstück ganz trocken und direkt auf den Punkt gebracht" hinreißen mag, setzt sich im Laufe des Abends als recht ideendünner und fürchterlich statischer Abend unerbittlich fort. Fast die gesamten zweieinhalb Stunden lang klebt Stemann seine Schauspieler an ihre Stehpulte und lässt sie Text lesen. Das ist weder cool noch schick.

Denn diese – stark nach Probebühne riechende – Grundsituation ist so statisch, dass die Atmosphäre in einem Synchronsprecherstudio einer Kriegenburg'schen Inszenierungsüberdosis gleichen muss. Ja, liest man später im Programmheft, Stemann möchte Lessings Text vor allem "hörbar machen" und ihn "zum Klingen bringen." Das Stück soll erst einmal "von sich selbst erzählen können" ohne Inhalt, Interpretation oder Aktualisierung.

Goldbarrenballett und Mikrophonsex

Doch in dieser, nennen wir es wohlwollend: radikalen Reduktion wird Lessings Stück um Toleranz und Menschlichkeit, dieses handlungsarme, aber umso thesenlastigere Debattierstück zum überaus inhaltsleeren Hörstück im Halbdunkel. Dass die Lesepulte im Laufe des Abends in Richtung Bühnenrampe gerückt werden, dass Videos eingespielt und ein harmloses Goldbarrenballett gegeben wird, dass Maja Schöne – vorübergehend in der Rolle der Recha – eigentlich ihren Retter, den Tempelherrn, aber tatsächlich ihr Mikrofon fiebrig anseufzt und ansext, und Sebastian Rudolph als Nathan die Ringparabel überzeugend zögerlich erzählt, hilft leider wenig.

Stattdessen wird man den ganzen Abend lang das Gefühl nicht los, dass den Schauspielern der Text mehr aus Versehen passiert. Auch die Sprachbrocken, die aus Elfriede Jelineks Sekundärdrama Abraumhalde offenbar unbedingt mit einfließen mussten, verweisen eher plump auf eine scheinbar zeitgemäße Sinn- und Gottsuche, auf gelebte Intoleranz, islamistische Paradiesvorstellungen und grob geratene Schmerzensmadonnen, als dass sie dem Lessing'schen Drama eine weitere Dimension verliehen.

Im Ergebnis hat Nicolas Stemann – Aus Protest? Aus Mangel an Ideen? Aus tiefer Liebe zur Lessing'schen Sprache? Aus innerer Not? – ein "Nathan"-Hörspiel auf die Bühne gebracht. Ein schrecklich langatmiges noch dazu. Eine Kritik desselben sei gerne den Kollegen aus der Hörspielredaktion anvertraut.


Nathan der Weise
von Gotthold Ephraim Lessing
mit dem Sekundärdrama "Abraumhalde" von Elfriede Jelinek
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüm: Marysol del Castillo, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Video: Claudia Lehmann, Licht: Paulus Vogt. Mit: Christoph Bantzer, Philipp Hochmair, Felix Knopp, Katharina Matz, Sebastian Rudolph, Birte Shnölnk, Maja Schöne, Patrycia Ziolkowska.

www.thalia-theater.de


Mehr lesen über Nicolas Stemann? Am Schauspiel Köln kam im April 2009 seine Uraufführung von Elfriede Jelineks Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns heraus, die jetzt vom Thalia Theater übernommen wurde. Mit Schillers Räubern befasste sich Stemann 2008 auf den Salzburger Festspielen. Friedrich Schiller lieferte auch die Basis für Elfriede Jelineks RAF-Stück Ulrike Maria Stuart, das 2007 zum Theatertreffen eingeladen war.

 

Kritikenrundschau

In seiner "Nathan"-Inszenierung konfrontiere Nicolas Stemann Lessings dramatisches Gedicht "mit geldgierigen Kriegstreibern im Namen ihres Gottes: eine höhnische Satire auf das Scheitern der Utopie von der Menschlichkeit", so Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (5.10.). Stemann lasse Jelineks "Abraumhalde" und Lessings Text stark gekürzt in einer "Collage aus Stimmenkonzert, Performance, Kaspertheater und Live-Video aufeinanderknallen". Das Theater sei ihm dabei Mittel, zu zeigen, "wie die Dinge laufen, und nicht, wie sein sollten. Schon deshalb ist Stemann das Illusionstheater in Kostüm und Maske ein Gräuel. Es taugt ihm bestenfalls als ironisches Zitat". So nehme er sich zunächst das Lessing-Stück "als 'Lesestoff' wie für ein Hörspiel vor". Er markiere einen "Krieg um das Gold – den eigentlichen Gott". Die Schauspieler probierten "Figuren-Haltungen" aus, stellten den Text infrage und wechselten die Rollen. Der Regisseur und seine Spieler "klittern nicht die Kluft zwischen Lessings Wunschthematik und unserer Wirklichkeit", sondern verschärften die Widersprüche noch.

Auch Heiko Kammerhoff von der Hamburger Morgenpost (5.10.) sieht "die hehre Lessingsche Botschaft der Toleranz zwischen Christentum, Judentum und Islam (...) hart auf den Prüfstein gestellt: Ist sie denn – siehe Nahost – von der Wirklichkeit nicht schon längst abgemurkst worden?" Jelinek bringe in ihrem Kommentar eine "zweifelnde, desillusionierte Stimme wie ein Störfeuer" ein. "Miteinander verwoben ergeben die beiden Ebenen eine clevere, wenngleich etwas statische und kopflastige Inszenierung, die ihre Grundlage – den 'Nathan' – selbst hinterfragt." Stemanns Theater sei, "wenn's auch nicht jedem schmeckt", "Theater total – experimentell und facettenreich".

In der Süddeutschen Zeitung (6.10.) charakterisiert Christine Dössel Jelineks "Abraumhalde" als "zynischen, die Versöhnungsutopie des Stückes zornig aushebelnden Kommentar". Dem "märchenhaften Harmonieschluss des 'Nathan'" setze Jelinek "einen assoziativen Sprachspuk aus dem Menschheitsfamiliengrab entgegen". Jelinek hätte sich gewünscht, ihren Text als Hintergrund einer Aktionskunst der Art Paul McCarthys inszeniert zu sehen. Diesem Wunsch komme Stemann erst am Ende des Abends entgegen, wenn "die Schauspieler auf einer Riesen-Thorarolle Jelineks Textfetzenmittels Live-Video und Pappmasken als ekstatisches Glaubenskampf-Tohuwabohu in der 'Nathan'-Stück einbrechen lassen." Bis dahin "horcht" er den Lessingschen Text auf offener Bühne bloß aus, indem er ihn hörspielartig sprechen lasse. Das sei "ein bisschen spröde", aber vielleicht könne man "Lessings vernunftsoptimistisches Verbrüderungsmärchen mit dem Wissen des 21. Jahrhunderts" wirklich nicht mehr "'spielen'". In jedem Fall leuchte er in dieser Sprech-Fassung "sämtliche Widersprüche" des Textes glasklar aus.

Für Ulrich Weinzierl in der Welt (6.10.) "gerieten die pausenlosen 120 Minuten hinreißend". Nicolas Stemann "gab dem Abend Struktur, Melodie und Rhythmus". "Ungemein differenziert" hätten die Schauspieler "an Stehpulten ihre Rollensätze ins Mikrofon" gesprochen, auf Holzhammer-Zeichen wie den "üblichen Nazi-Judenstern" sei verzichtet, und Jelineks Text, der "auf den Optimismus des späten 18. Jahrhunderts mit Radikalpessimismus" aus dem 21. Jahrhundert antworte, genau in den Kontext eingepasst worden. Gerade diejenigen, die Jelinek sprächen, "schlüpften" in historische Kostüme. Dazu die "Riesenköpfe aus Papiermaschee". "Ist das nicht alles plump und peinlich? Im Gegenteil: Der Hexensabbat, der die Realität des Terrors auf die uneingelösten Hoffnungen der Vergangenheit hetzt, wirkt beklemmend und beschwingt zugleich."

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (6.10.) hat Irene Bazinger nach Hamburg geschickt. Diese fand, dass Nicolas Stemann, der gern als "intellektuell-politischer" Regisseur auftrete, von seiner Aufgabe, im Bewusstsein der fortgesetzt "unfriedlichen Koexistenz der unterschiedlichen Konfessionen" von Lessings Utopie zu erzählen, "überrascht bis überfordert" gewirkt habe. Weit davon, das Stück "erst einmal sich selber erzählen" zu lassen, wie er behauptet hatte, teile er "vor allem mit, wie er selbst 'Nathan den Weisen' mit bemüht bedeutsamen Gesten nicht erzählt". Als "routinierter Jelinek-Uraufführer" werfe er dabei "wieder seinen eitlen Assoziationsgenerator" an und lasse mit Masken und Maschinenpistolen herumfuchteln. Ansonsten werde nicht gespielt, sondern zwischen schwarzen Wänden immerzu nur gesprochen oder posiert – "belanglos, uninteressant und ziellos". Das Ensemble zeige "seinen fatalen Abstand zu einem Werk, an das es nicht herankommt, und die traurige Ratlosigkeit einer Inszenierung, die bereits an dessen verbaler Oberfläche scheitert – von den Tiefenschichten ganz zu schweigen".

Ein bisschen gerettet hat Stemann den Start von Lux, schreibt Anke Dürr in der Frankfurter Rundschau (8.10.). Denn der Regisseur bescherte dem Thalia zwei Erfolge an einem Wochenende, erst "Die Kontrakte des Kaufmanns" aus Köln, am Tag darauf den "Nathan", "gepimpt mit einem Einschub von - eben Jelinek." Es beginne denkbar schlicht. Unter der Decke leuchten ein paar flauschige Engelsflügel, "ansonsten ist die leere Bühne dominiert von einem hängenden Lautsprecher." Lange bleiben die Schauspieler hinter den Mikros, "es geht um Inhalte, die Basis der Verständigung: Hört doch erstmal zu." Kaum hat Sebastian Rudolph angesetzt, um die berühmte Ringparabel vorzutragen, bricht die zweite Ebene ins Drama ein. "Eine zweite Recha und eine zweite Daja in historisierenden Kostümen treten auf und unterbrechen die Rede mit Jelineks 'Abraumhalde'. Es geht u.a. um die vielen Jungfrauen, die den Dschihad-Kämpfern versprochen werden." Und "bald gewinnt das Irrationale auch auf der Bildebene: Jelineks Text wird zur Hintergrundmusik."

 

Kommentare  
Stemanns Nathan: beeindruckend, zutiefst verstörend
Erstaunlich - das, was Frau Ullmann hier beschreibt, hat nichts aber auch gar nichts mit dem zu tun, was bei der Premiere zu erleben war: Nicht nur fehlen ihr offensichtlich jedwede künstlerische und musikalische Sensibilität für die Genauigkeit und Musikalität, mit der diese minimalistische "Hörspiel"-Setzung daherkommt. Auch unterschlägt sie ungefähr die Hälfte der Inszenierung, und so entgeht ihr und dem Leser ihrer Kritik die grundlegende inhaltliche Pointe dieses Theaterabends.
Wir haben den Verdacht, dass sie nach der Hälfte einfach gegangen ist und den ganzen Schluss überhaupt nicht mitbekommen hat. Sollte sie da noch im Raum gewesen sein: um so schlimmer! Wie kann ein Kritiker so was unterschlagen?
Die reduzierte Hörspiel-Setzung wird nämlich irgendwann abgelöst von einem wilden messe-artigen Happening mit Jelinek-Texten, um dann wieder ins Stück zurückzukippen. Es gibt offensichtlich zwei verschiedene Figuren-Ebenen (Sprecher in modernen Kostümen und klassische "Nathan"-Figuren). Letztere stören zu Beginn das Hörspiel mit zutiefst verunsichernden Jelinek-Texten, um am Schluss wieder den Bogen zum "Nathan" schließen. Dazwischen ertönt die Ringparabel aus einem KZ-Lautsprecher, während die klassischen Figuren wie Untote in einem Flammenmeer verbrennen. Die klassische Recha wendet sich schließlich verzweifelt an die Zuschauer und erzählt davon, dass es keine Wahrheit gibt, da der Mensch immer der falsche ist. oder Nathan stirbt schließlich, während er vom Tod seiner Familie erzählt und von seiner Angst, Recha zu verlieren - eine Überforderung des Anspruchs auf Vergebung und Güte? Und die Hörspiel-Schauspieler erzählen zum Bild des sterbenden Nathan das Happy-End des Stückes zu Ende. Was all dies im Einzelnen zu bedeuten hat, haben wir auch noch nicht bis ins Letzte durchdrungen - aber es war in seiner Theatralität höchst beeindruckend und zutiefst verstörend. Es ist vollkommen unverständlich und eigentlich eine Unverschämtheit von all dem in der Kritik von Frau Ullmann überhaupt nichts zu lesen!
(…)

Dr. A. + H. Rüdiger, Kiel
Stemanns Nathan: ein Fall fürs Theatertreffen
Selten so radikal inhaltliches Theater gesehen, ein Theater, das so dicht am Autor bleibt und doch ganz und gar heutig ist. Selten einen Text so neu gehört. Selten eine solche ästhetische und inhaltliche Konsequenz. Unmodisch und eigenwillig. Ohne opportunistische Rücksichten auf einen vermeintlichen Publikumsgeschmack. Analytisch messerscharf. Keine bunten Bilder. Ein Fall fürs Berliner Theatertreffen, und nicht für die Nachtkritik-Kritikerin.
Stemanns Nathan: echt 'ne Frechheit?
Oh Mann - habe den Abend nicht gesehen - leider,aber getsern voller Entsetzen eure Kritik gelesen und echt gedacht;Scheiße dem Stemann is der Lessing um die Ohren geflogen ,und es hat nur noch für'ne kleinlaute Reduktion gereicht - was ja passieren kann - aber wenn das stimmt ,und ihr nur den halben Abend rezensiert habt is es echt ne' Frechheit,also ,ich mein,dafür seid ihr inzwischen, im punkto Meinungsbildung ,wirklich zu wichtig geworden - und das war ja wahrscheinlich auch das Ziel und das ist auch in Ordnung ,aber solche Patzer sind dann echt Scheiße... Schönen Gruß von nem' eigentlichen Fan von Euch

(Klarstellung der Redaktion: Katrin Ullmann hat natürlich nicht den halben, sondern den ganzen Abend rezensiert.)
Stemanns Nathan: Rauschen in den Hirnen
Dieser verquaste, unsinnlich-unsinnige, und zu allem Überfluß noch zynisch-überhebliche Abend, diese Lessing-Jelinek-Verwurstung ein Fall fürs Theatertreffen? Doch wohl eher nicht. Da wollte der Herr Stemann überschlau sein und der Deutschen liebstes Toleranzdrama, in das sie so gerne auch noch sämtliche philosemitischen Verkrampfungen packen, mal so richtig vorführen, und den Rauschebartnathan auch. Dabei hat er sich dann aber bloß als besserwisserischer Oberlehrer gezeigt, dessen ganzes pseudointellektuelle Getue eher Rauschen in den Hirnen als Einsichten erzeugt. Ich fand das von der Kritik recht kurz und schmerzlos erfasst.
Stemanns Nathan: wenn es war, wie Rüdiger es sah
@rüdiger: naja, wenn der zweite teil tatsächlich so war, wie sie ihn schildern ("wildes messe-artiges Happening mit Jelinek-Texten", "Ringparabel aus einem KZ-Lautsprecher", "es gibt keine Wahrheit, da der Mensch immer der falsche ist" etc.), dann hätte frau ullmann gut daran getan, ihn tatsächlich zu verpassen.
Stemanns Nathan: die Wahrheit über surprister?
Wenn schon jemand einleitet mit "habe den Abend nicht gesehen" und sich dann über eine schlechte Kritik aufregt, dann ist es entweder einer vom betroffenen Theater - oder (Flag-Richter-mäßig) der Regisseur selbst! Nicolas Stemann, Sie sind "surprister"! Gruß, der falsche Falk
Stemmans Nathan: die Warheit über surprister II
Nee, aber so gar nicht - nicht verwandt verschwägert verliebt oder verlobt, bin nicht mal Symphatisant - Aber man wird schnell paranoid hier im Forum - wohl wahr ! und vielleicht muß man sich inzwischen wirklich gut überlegen ob man etwas verteidigt oder ob man es damit für die betreffende Baustelle nur noch schlimmer macht...
Stemanns Nathan: geht rein!
Lasst doch das Genörgel sein!
Geht in die Theater rein!
Stemanns Nathan: Goldbarren und Papp-Osamas
...das dieser Abend aus Unlust am Stück entstanden ist, war ja wohl nicht zu übersehen. Da müssen wir garnicht reininterpretieren, wie messerscharf und intelligent das alles gemeint war. Oder trauen sie das einem Regiesseur, der die Religionsthematik mit papp-osamas und holz-goldbarren angeht zu? Noch einen Schritt mehr: trauen sie das einem Abend, der vor den Lessing-text eine Lessing-Pappmaske stellt zu? Und letztendlich: trauen sie das jemandem zu, der so Plattitüdenhaft Fritzl-masken verwendet und somit die ganze (Aufrags- !) arbeit von Frau Jelinek relativiert?
Alles was an diesem Abend grausam verstörend wirkt, ist die Art tolle Schauspieler so feindlich zu behandeln...
Stemanns Nathan: wie man Lego spielt
...nun,nicht nur die Schauspieler waren feindlich behandelt, auch als Zuschauer schien man nicht sehr willkommen zu sein. die Schauspieler schienen überhaupt nicht zu wissen was Herr Stemann da eigentlich erzählen wollte.Gerade die Verknüpfung von Jelinek und Lessing erschien dermassen erzwungen und dabei so unscharf, man hatte den Eindruck Herr Stemann genügt sich selbst und schiebt willkürlichTextflächen mit dranhängenden Schauspielern hin und her, so wie man Lego spielt, aber eigentlich lieber alleine.Das ist nicht sehr spannend zu sehen.Frau Ullmann hat den Abend treffend beschrieben.
Stemanns Nathan: endlich
Schauspiel Frankfurt wird Theater des Jahres! Endlich! Allle sind für uns! Stemann schafft es nicht, nicht mit diesem Nathan. Thalheimer ist unschlagbar!
Stemanns Nathan: Mach lieber Sport
vergiss Theater, such dir einen Sportverein. Von mir aus Fußball - aber vergiss Theater.
Stemanns Nathan: wie eine Operninszenierung
Ich habe selbst nur die Voraufführung am 01.10. gesehen, die noch den leichten Charme von Probe in sich trug. Da ich bis dato noch nicht das Vergnügen hatte Lessings Nathan zu erleben, war ich so zu sagen völlig unvorbelastet. Mein Resüme: Lessings Text wurde von den Schauspielern wirklich eindrücklich und einfühlsam gebracht. Es war aber leider manchmal etwas sehr statisch und man merkte es insbesondere dem Hörspielensemble an, wie gerne sie mehr gegeben hätten. Das war schon in etwa so wie eine Operninszenierung von Robert Wilson. Das Ende dann eher ein Finale Furioso, wobei ich der Meinung bin, das es der Jelinekdramatik und Wortheftigkeit nicht gebraucht hätte, Lessings Ideen sprechen halt doch für sich.
Stemanns Nathan: ästhetisch beispiellos
Unlängst Stemanns Nathan gesehen: Ästhetisch beispiellos, seit Jahren nicht sowas gesehen, keine vorherrschende Regiemode, sondern beispiellos, ein Solitär, schlichter: "bemerkenswert". Und inhaltlich der Hammer: voll auf der Linie dessen, was uns umtreibt, mehr als jedes Gegenwartstück. Auf der einen Seite brennende Häuser, auf der anderen der (zweifelhafte) Friedensnobelpreis an Obama! Zwischen Utopie und Realität schwebend, und weder das eine noch das andere denunzierend - was will man mehr?
Stemanns Nathan: kompetente Lobpreisungen
katrin ullmann muss inzwischen rote ohren bekommen haben, nachdem sie nach ihrer oberflächlich vordergründigen, nichts verstanden habenden kritik all die kompetenten Lobpreissungen ihrer sensibleren und kompetenten Kollegen gelesen haben wird (Pilz, Laages, Dössel, Ricklefs, Dürr, Weinzierl etc.) vielleicht sollte die nachtkritik in zukunft weniger verschlafen premieren besuchen.
Stemanns Nathan: Eitelkeit des ewigen Pennälers
das kann ja nicht wahr sein! So ein Einwand geht gar nicht. Schreib hin was dich beeindruckt, was dir wichtig ist und nörgle nicht - die anderen haben aber gesagt…, geht's noch? Der Abend ist brechend eitel und getuich, der ewig Pennäler meldet sich, da wird notwendig einiges müde, zu allererst das Auge, dann das Ohr und dann,… kannst du dir ja denken
Stemanns Nathan: dramaturgischer Bär
senor roberto, wer rote ohren bekommen sollte, das sind sie, sie besserwisser. sensiblere kollegen.. was soll das denn bedeuten? sind wir hier bei doktor sommer weiland in der bravo? das ist ja grauenhaft. bloß weil man (in diesem falle frau) sich nicht jeden dramaturgischen bären aufbinden lassen will?
Stemanns Nathan: Urteil klar und nachvollziehbar
Katrin Ullmann ist eine sensible Beobachterin, mit einer Klarheit des Ausdrucks, die ich überaus wohltuend finde. Auch ihr Urteil über diesen Abend ist alles andere als aus der Luft gegriffen. Mehr als Nachvollziehbarkeit kann ich von einer Kritik nicht erwarten.
Dass Ullmann diesem "Nathan" nichts abgewinnen konnte, darf ihr zugestanden sein. Ich selbst schätze Stemanns Ästhetik sehr. Aber - wie heißt es - er "polarisiert". Und das ist auch gut so.
Stemanns Nathan: Keinrotohrhase
Steman mache immer gleiche Theater. Finde langweilig. Brauche keine rote Ohr. Kritik gut!
Stemanns Nathan: sensible Beschreibung des Prätentiösen
Ja denke, die Kritik hat es genau, sensibel und fein beschrieben, was sich da so prätentiös abgespielt hat.
Stemanns Nathan: Wie weiland Schleefs Salome
Kann mich nicht erinnern, seit Schleefs Düsseldorfer Salome, wo nach einer halben Stunde tableaux vivants der Vorhang zur Pause runterging, ohne daß irgendetwas geschehen wäre, je wieder so klug und radikal zu ende gedachtes Theater gesehen zu haben.
Deswegen muß man aber weder auf der Kritikerin herumhacken noch sie verteidigen. Sie fand, was sie fand und es wäre nicht der erste Justizirrtum in der Geschichte. Hamburg jedenfalls ist mehrheitlich begeistert. Schön, aber auch kein Beweis für oder gegen irgendetwas.
Wichtiger ist die Sache selbst: seit mindestens 20 Jahren sagen alle, daß dieser Text tot ist und nicht mehr geht und jetzt zeigt einer, daß das Unsinn ist, daß er sogar sexy ist. Gewissermaßen ein Urahn der Hybridkultur von heute. Was will man mehr?
Stemanns Nathan: Es wird in Portiönchen schockiert
Verblüfft zu sein, das ist schon was, aber der Weckruf heute ist nicht der Weckruf von einst. Heute ist die verspielte Aufmüpfigkeit, wie auch bei Ostermeier, so auch bei Stemann in einer so blassen Kondition, da wird so naseweis mit dem Klassiker sortiert und in Portiönchen schockiert, da ist ja ein Bärtiger wie Castorf in seinem Schlingern noch eine wahre Künstlergestalt, die sich immerhin vom Deutschunterricht emanzipiert hat.
Stemanns Nathan: Schleef-Vergleich zu hoch gegriffen
hört, hört! schleefs salome ist ein sehr hoch gegriffener vergleich. bei schleef hatte man nie hörspielassoziationen, weil er immer auch den raum in eine irrsinnige spannung versetzte. die kraft schleefs bringt auch stemann nicht auf die bühne, obwohl er ein wirklich schätzenswerter regisseur ist.
übrigens ist es eine legende, dass das erste bild bei schleef eine halbe stunde stand. es war bei der premiere etwa 10 minuten lang, beim theatertreffen wurde es auf etwa 20 minuten ausgedehnt. die kritiker neigten schon damals zur übertreibung, mich wundert es, dass niemand schrieb, das erste bild habe einen tag lang gedauert.
Stemanns Nathan: psychopathisches Unternehmen
Kleine Trouvaille aus dem Zeit-Feuilleton heute:
"Das Theater ist gegenwärtig ein psychopathisches Unternehmen, das maßgeblich von Illiteraten bestimmt wird, die überhaupt gar nichts lesen, nicht einmal das Stück, das sie gerade inszenieren." Botho Strauss (2000)
Stemanns Nathan: existenzbedrohende Zuversicht
Liebe Zeit-Leserin, ist Krisenangst s e l l s nicht auch nur ein Politik-Marketingphänomen? Nur LeserIn zu sein, das reicht für mich nicht. Es kommt drauf an, das Gelesene auch kritisch hinterfragen zu können bzw. sich nicht zum Informationskonsumenten von politischen Weltbildsetzungen herabwürdigen zu lassen. Und das gilt sowohl für den LeserIn als auch für den TheaterzuschauerIn. Machen Sie sich locker, dann passts schon. Zitat Bob Hope: "Untergangspropheten, die vom Pessimismus leben - und gar nicht schlecht -, empfinden jede Art von Zuversicht zwangsläufig als Existenzbedrohung."
Stemanns Nathan: der Botho hat nichts produziert
Ja, für den Botho gehört Lesen und Inszenieren eben zusammen. Für die Zeit-Leserin auch. Das kommt von den vielen Harry Potter-Verfilmungen, die die sich reingezogen haben. Erst Lesen, dann inszenieren. Könnte die Anklage nicht lauten: der Botho, der hat überhaupt nichts produziert, nicht einmal den Tisch, an dem er gerade schreibt. Vielleicht kommt dieser Lesefetisch auch von den Gebrauchsanweisungen, die die coolen Typen eben gleich wegwerfen, während die Zeitleserin sie aufmerksam studiert und dann das Gerät, das eben bedient werden muß, in die Tonne tritt, damit kann sie dann nichts anfangen.
Stemanns Nathan: lasst ihn unken
der botho ist/war ein in ansätzen (...) völlig veralteter, aus der zeit gefallener, untergegangener autor aus der vergangenheit. der hat mit der heutigen zeit, die sehr sehr schnell sich in eine andere richtung entwickelt hat, nichts mehr gemein...lasst den doch aus der tonne unken. zitate aus genau dieser "müll"-tonne sind so leer wie becketts floskeln...nur eine neuinszenierung und ein auffrischen dieser gedanken durch kritische köpfe aus der jetztzeit könnte ihn schützen...nicht reines zitieren in einer zeit-ungssparte, in der sowieso (fast) keiner mehr liest...forget it....
Stemanns Nathan: altes Denken
ja, die alten! die denken, das hier hätte alles noch mit ihnen zu tun. ich gebe dir so recht, boa.
Stemanns Nathan: verquaste Überaufgeklärtheit
@boas: wer könnte moderner und konsequenter sein als beckett? also so einen quatsch hier zu lesen, sind nicht stemann und jelinek in ihrer verquasten überaufgeklärtheit völlig von gestern ? sind nicht sie die übriggebliebenen alt 68er, die mit ihrer medialen empörung nur den job des medial-kapitalistischen establishments verrichten, noch mehr dem humanistischen terror verpflichtet als sogar der bigotte lessing ? so kritisch wie ein zeit leitartikel oder ein spiegel titel ? ist das nicht das sich ganz kritisch gebende cdu theater, dass in wirklichkeit einer reaktionären welt das wort redet, ist stemann keine stütze der brav konsumierenden gesellschaft ? vielleicht wäre lesen nicht immer so falsch, vielleicht gibt es auch ein theater jenseits der billigen medienaktualität. und da scheint mir ein strauß eigentlich weniger suspekt als eine jelinek oder ein stemann.
Stemanns Nathan: Angeberei
boa du kennst dich einfach nicht aus, du bist so ein Nichtleser und Nichtdenker, dem die Attitüde langt vom angeblichen Heute zu sein, vergiss es, diese Überlegenheitsgegockel ist völlig lächerlich und beweist allein präpotente Angeberei die einem auch in Stemanns Theater den Nerv tötet -
Stemanns Nathan: ich bin jünger
ach, ja wahrscheinlich, bin ich noch um einiges jünger als du, und dennoch lese ich lieber Texte in denen wirkliche Gedanken bewegt werden, als dieses anbiedernde jung Getue von Leuten die demnächst nur noch auf ihre Gehaltsabrechnung schauen um festzustellen ob sie schon oben angekommen sind.
Stemanns Nathan: die an kein Heute mehr rankommen
Liebe Avantgarde! Was von gestern ist, ist von gestern. Punkt Schluß und Aus. Beckett kennt und liest niemand mehr. Das tut dir zwar weh, liebe Avantgarde, aber das ist nunmal so. Lieber Merk! Vom "angeblichen Heute" reden nur die, die an kein Heute mehr rankommen. Daß die Konservativen sich immer so uncool finden! Und immer das coole "Heute" diffamieren müssen.
Stemanns Nathan: das fairste Publikum der Welt
Unsere Hoffnung gründet sich auf das Sportpublikum. Unser Auge schielt, verbergen wir es nicht, nach diesen ungeheuren Zementtöpfen, gefüllt mit 15000 Menschen aller Klassen und Gesichtsschnitte, dem klügsten und fairsten Publikum der Welt.
Stemanns Nathan: noch kein Ausweis für Gegenwärtigkeit
käthe, das ist eine fromme hoffnung das so zu glauben, aber mehr nicht. du musst nichts lesen, gar nichts, du kannst so heutig sein wie das geliebte netz in seiner lichten augenbllicklichkeit, das ist doch nicht das problem, das problem besteht, darin, dass gerade die heutigen coolen gegenwartsfanatiker dieses leere heutegelalle, dass sich als inhalt geriert, für hohl und dämlich halten - ob du dazu etwas oder doch nicht gelesen hast spielt keine rolle. Schon allein der umstand, es für prahlenswert zu halten, nicht zu lesen, nicht zur kenntnis zu nehmen ist doch kein ausweis für gegenwärtigkeit , für's brennende heute. das ist nur armselig und bestätigt die kritik derer, die ein heute haben wollen, das mehr sein will als bloß ignorant. dabei halte ich gerade dieses getue für eine alterserscheinung. wirklich junge leute sind ja neugierig und bissig, nicht bräsig und altklug.
Stemanns Nathan: Goldfäden der Vergangenheit
Ach Merk, dein Heute muß immer durchwirkt sein mit den Goldfäden der gelesenen Vergangenheit, dir ist nicht zu helfen!
Urfaust in Chemnitz!
großartiger urfaust in chemnitz!!! gestern abend jubel in kalle-malle: sind extra aus dresden angereist, weil sz vor begeisterung schäumte: eine stunde urfaust (okay: eher urgretchen) im emotionalen schleudergang... . tolle bühne. geiler beat. genial!
Stemanns Nathan: ich bin mehr heute
ich bin mehr heute als du, da kannst du dich so lange anstrengen mit lesen wie du willst, wenn es dir spass macht, aber ich finde eben stemann geiler, was willst du da machen he?
Stemanns Nathan: wirklich gut
@36. SZ ist hier aber wohl eher die Sächsische Zeitung als die Süddeutsche, nicht wahr? Aber Gretchen macht ihre Sache wirklich gut.
Stemanns Nathan: das Original
@käthe reichel: beckett von gestern ? darum klaut stemann von ihm die ideen (mund- gesichtsprojektionen zB), darum ist er bei der documenta, darum ist er bei architekten, filmemachern, bildenden künstlern, musikern absolut aktuell. darum ist dieser interdisziplinäre beckett vielleicht meilenweit moderner als der gutbürgerliche stemann und sein mediales bildungstheater je sein werden. liebe käthe, probieren sie es doch mal mit dem antiquierten lesen, ist auch gar nicht schwierig, dann können Sie vielleicht das original vom epigonen, das radikal moderne vom modernistisch aufgebrezelten unterscheiden.
Stemanns Nathan: anders gemeint
hier liegt ein miußverständnis vor: ich schrieb: becketts floskeln sind nur leer, wenn sie NICHT neu interpretiert werden...d.h. wenn sie von jemandem (sei es in der kunst, theater, im film ) NEU und FRISCH gedacht und interpretiert werden, dann sind sie NEU und nicht leer..!! also: keine aggression von nöten..es war anders gedacht als hier interpretiert...es war eine kritik an herrn strauß durch einen vergeich mit beckett plakativ hervorgehoben...- denn: ohne neu-denken mutieren becketts worte wirklich zu floskeln..mit eine mitdenken sind sie wert- und gehaltvoll....alle mißverständnisse beseitigt??
Stemanns Nathan: mehr Frische, mehr drin
boa der neudenkdetektor, neudenkpolizist, achtung, habt acht, hat er auch brav neu gedach? neu, und heute neu und frisch stiftung-boa-test sagt, gut, hier handelt es sich um ein neugedachtes produkt, ganz im stil der neuen zeit - mehr frische, mehr drin!
Stemanns Nathan: viel besser sogar
ich finde das neue Dash wäscht natürlich besser, viel besser sogar, wie dann erst Botho Strauß, neu gedacht wieder ein Knaller!
Stemanns Nathan in Berlin: wider die naive Versöhnung
Nicolas Stemann versteht Theater als Prozess, der stets bei Null anfängt und oft auch weitergeht, wenn die Premiere vorbei ist. Und so sind Stemanns Inszenierungen oft Versuchsanordnungen, die nicht selten etwas Probendes, Forschendes an sich haben.

Keinem Stück müsste ein solcher Ansatz so gut zu Gesicht stehen wie Lessings Nathan, dieser Utopie einer besseren Welt, eines Miteinanders der Religionen, der heute fast noch mehr als damals von nicht wenigen jeglicher Realitätsbezug abgesprochen wird. Als naiv empfinden wir die simpel anmutende "Versöhnungsideologie" (Stemann), das so leichte Wegwischen mörderischeren Streits, die so einfache Überbrückung tausendfach todbringender Konflikte. Wer heute Nathan auf die Bühne bringt, hat Jahrhunderte blutiger Geschichte gegen sich, als Beweismittel gegen ein Stück, das schon lange auf der Anklagebank pragmatischer Vernunft sitzt.

Stemann verhehlt seine Abneigung nicht - gegen die einfache, alle wirklichen Konflikte ausblendende Versöhnungsbotschaft, die naive Annahme, die Vorführung der Versöhnung könne den Menschen zur Umkehr und Einsicht verleiten. Eine denkbar schlechte Voraussetzung für eine Inszenierung, die Lessings Stoff nicht nur hinterfragt, sondern auch ernst nimmt.

Und doch tut Stemann genau das. Er wolle, so sagt er im Programmheft, den Text zum Klingen bringen, die Geschichte sich selbt erzählen lassen. Und so wird zunächste ein Lautsprecher auf die leere Bühne heruntergelassen, durch den wir den Text hören, wie Lessing ihn geschrieben hat. Und siehe an, er beginnt zu leben, tastend, suchend, noch unsicher vorgetragen von den unsichtbaren Schauspielern. Ohne visuelle Unterstützung fängt der Text tatsächlich an zu klingen, sucht eine Melodie zwischen Zweifel und Affirmation, Ablehnung und Zuversicht. Der suchende Zuschauer und die tastenden Sprecher beschreiten gemeinsam einen Weg, auf den der Text sie führt und von dem keiner weiß, ob er tragen wird.


Irgendwann hebt sich ein Vorhang und die Darsteller werden sichtbar, zunächst halb versteckt von den Mikrofonen. Und je sicherer sie werden, je heimischer sie werden im Text, desto mehr trauen sie sich hervor, bis Nathan, unsicher noch, am Bühnenrand steht, um die Ringparabel vorzutragen. Hier jedoch bricht der Emanzipationsfluss des Textes, Nathan rezitiert den Text als sei es der eines anderen, er spricht eine Rolle, mit wachsender Skepsis ihrer Wahrheit gegenüber.



Und plötzlich steht da ein zweiter Nathan, in historischem Kostüm, später auch eine zweite Daja, eine zweite Recha, wie Verkörperungen des wachsenden Zweifels. Und wenn sie sprechen, spricht aus ihnen die Skepsis an der Wahrheit dieser zentralen Rede des Stückes und diese Skepsis hat die Worte Elfriede Jelineks, deren "Sekundärdrama" Abraumhalde, den dunklen Raum öffnen will, den Lessing zugeschüttet hat, und dem Stück, wie Stemann sagt, den Hass zurückgeben soll. Und so zerfällt die Ringparabel zur Frage, zur immer schwächer werdenden These, attackiert von Gegenthesen, bohrendere Fragen, ein Spiel von Aussgae und und Kreuzverhör. Ein zweites Mal wird sie versucht, als fernes Echo, eher um Gehör flehend als Anerkennung fordernd.

Und so beginnt ein zweites Stück, in dem Jelinek die Oberhand gewinnt. Da werden die Gegenpositionen durchgespielt als grotesker Maskenball, da wird verkleidet und mirt Requisiten gespielt, Video- und Standbilder aufgenommen und projiziert, ein Suchen auch dies, ein wilderes anarchischeres diesmal, nicht nach einer harmonischen Ordnung, sondern nach den Stellen, an denen diese fragiele Ordnung bricht und das Chaos hervortritt. Wo Lessing affirmiert, negiert Jelinek - und Stemann findet Rhythmus, Bilder und Klang für beide. Der ruhige Fluß, das geordnete Hineintasten in den Text steht dem wilden, ungeordneten, ausufernden Sprachgebäude Jelineks gegenüber.

Es gehört zu Stemanns Verdiensten, dass er den Zweifel, die Ablehnung ga, die Widerlegung zulässt, Lessings Text aber nicht über den Haufen wirft. So bricht sich Nathan zum Ende wieder Bahn, wenn auch nicht so wie bei Lessing. Während im Hintergrund die allzu simple Auflösung der Familienverhältnisse heruntergerasselt wird, liegt vorn der historische Nathan regungslos auf der Bühne, umringt von Daja und Recha, eine Dreifaltigkeit, welche die Schlussszene ebenso hinter sich lässt wie die blosse Negativität des Jeninek-Textes.

Dieser Nathan ist kein naiver Versöhner, sondern ein zweifelnder, vielleicht auch ein gebrochener Mann, der Hoffnung und Hoffnungslosikeit zu gleichen Teilen ist, kein strahlender Sieger, ein Verlorender vielleicht, aber einer, der seine Würde bewahrt. Die Botschaft des Nathan ist nicht gescheitert, sie ist durch die Konfrontation mit ihrem Gegenstück, vielfältiger geworden, fragiler auf den ersten Blick, vielleicht aber auch stärker am Ende. Nathan liegt am Boden und steht doch aufrechter, als er es in Lessings Text vermochte.

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Stemanns Nathan in Berlin: welche unterschiedliche Wahrnehmung!
@ Prospero: Toll, zu welch unterschiedlichen Wahrnehmungen die Inszenierungen von Nicolas Stemann immer wieder verführen! Und das muss wohl daran liegen, dass er das Denken und Interpretieren den Zuschauern überlässt und deren Köpfe eben gerade nicht mit vorgefertigten Weltbildern zubetoniert.
In diesem Sinne habe ich das Ende der Inszenierung auch nicht so eindeutig und zudem ganz anders gelesen als Sie. Die einen vereindeutigenden Sinnzusammenhang und in historischen Kostümen repräsentierenden Theaterfiguren Nathan, Recha und Daja liegen am Boden. Ja. Aber heisst das jetzt wirklich, dass die am Boden liegende "Dreifaltigkeit" (Ihre Begriffswahl) gesiegt hätte? Ich würde das bezweifeln wollen. In meiner Perspektive spricht am Ende allein der projizierte Lessing-Text, und zwar in der Differenz zu den realen Schauspielerkörpern im Hier und Jetzt bzw. zu dem, was uns in der aktuellen aussertheatralen Realität im Kontext der politischen Instrumentalisierung von Religion umgibt. Die Schrift kündet möglicherweise von der Versöhnung, sie generiert in der Anschauung bzw. in der Imagination des Zuschauers einen Möglichkeitsraum der Versöhnung. Aber die Versöhnung kann nicht als Ist- bzw. Sollzustand auf dem Theater repräsentiert werden. Das wäre die reine und meines Erachtens gerade dadurch gefährliche Illusion und Verblendung.
Insofern und solange sich Religionen, und auch die zukünftige Heilserwartung revolutionärer Ideologien gehört dazu, zum Herrn und Herrscher über das gegenwärtige und konkrete Leben von Menschen aufschwingen, sind sie bereits pervertiert. Das zeigt das groteske "Zwischenspiel" von Jelineks "Abraumhalde" auf eine sehr drastische Art und Weise. Hier verwandelt sich das, was vormals noch als "reine Idee" vorhanden war, plötzlich in eine dreckige, obszöne und ver-rückte Realität, welche von der ursprünglichen Idee nur wenig übrig lässt.
Statt Lessings allseitiger Umarmungen, könnte für mich daher auch ein (auf einer Postkarte entdecktes und ungefähr folgendermaßen lautendes) Jelinek-Zitat stehen: "Nein, verherrlichen tun wir das Göttliche nicht, aber wir wollen es uns wenigstens einmal anschauen." Wobei die Anschauung im Rahmen der Vorstellungskraft verbleiben sollte. Sobald sie ver-herr-licht wird, ist sie bereits zur wirklichkeitszersetzenden Ideologie pervertiert.
Es kommt drauf an, zu hören, was ein Text uns heute noch zu sagen hat. Und es kommt drauf an, aufzustehen (Wider-Stand) und trotz des radikalen Zweifels an die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen unterschiedlichen Menschen, welche nicht allein auf ihren Glauben reduziert werden können, zu glauben.
Stemanns Nathan:Würde liegt in Verweigerung
@El-friede
Ja, wenn es gelingt, hat Stemanns Theater eine anregende und inspirierende, auch irritierende, Offenheit, die nicht durch inhaltliche Leere erkauft ist.

Zu meiner Auffassung des Endes. ich sehe Nathan nicht als siegreich im herkömmlichen Sinne, seine Versöhnungsmission, die nie seine war, sondern von Lessing vorgegeben, aufgestülpt, ist gescheitert. Aber er hat seine Würde wiedergefunden, und diese Würde gewinnt auch die wahre Botschaft dieses Nathans. Er ist ein Versöhner aber kein Ausblender, einer, der den schweren steinigen Weg geht. Seine Würde liegt gerade in der Verweigerung einer zu simplen Versöhnung. Und ja, er liegt am Ende reglos am Boden, Recha und Daja an seiner Seite jedoch nicht. Für mich spricht aus dem Schlussbild Akzeptanz der Wirklichkeit ohne Aufgabe der Hoffnung auf Besserung.
Stemanns Nathan der Weise: die dunkle Unterseite der Toleranz
@ Prospero: Was verstehen Sie unter einem "Ausblender" gegenüber einem Versöhner?

Ich kann am Ende von Stemanns Inszenierung nach wie vor nichts davon sehen, dass Nathan seine Würde wiedergefunden hätte (warum eigentlich wiedergefunden?) oder einen - wie Sie schreiben - "schweren steinigen Weg geht". Wie kann man denn einen Weg gehen, wenn man am Boden liegt? Wie kann man anders am Boden liegen als reglos? Und dass Recha und Daja da irgendwie noch rumzappeln, davon habe ich auch nichts gesehen.

Zudem ist Nathan natürlich eine von Lessing erfundene Figur und keine reale bzw. historische. Warum also schreiben Sie, dass Lessings Versöhnungsmission eine übergestülpte sei? Natürlich ist diese Moral übergestülpt. Dem Leben übergestülpt. Das ist es ja gerade! Lessing schreibt im Sinne einer "bürgerlichen Mitleids- und Versöhnungsideologie" (Stemann). Das heisst, wir sollen im Theaterraum eine bessere Welt vorfinden, als ausserhalb des Theaterraums. Und das ist verlogen. Denn auch ausserhalb des Theaterraums scheitert der Dialog zwischen den Kulturen und Religionen leider nur allzu oft. Es gibt den unversöhnlichen Hass. Und es gibt die Pervertierung religiöser Toleranz:

Beispielsweise schreibt Slavoj Zizek zum Thema der Pädophilie in der katholischen Kirche vom
"Opus Dei, die 'weiße Mafia' der Kirche, eine (halb) geheime Organisation, die gewissermaßen das reine Gesetz jenseits geltender Rechtsordnungen verkörpert. Dessen oberste Regel ist der unbedingte Gehorsam gegenüber dem Papst und die rücksichtslose Entschlossenheit, der Kirche zu dienen, mit welchen Mitteln auch immer. [...] Der eigentliche Kern der 'Passion des Realen' ist diese Identifikation - diese heroische Gebärde der unumschränkten Annahme - mit der dreckigen, obszönen Unterseite der Macht; die heroische Haltung, die sich sagt: 'Irgendwer muss die Drecksarbeit machen, also machen wir's'[...]."

Jan Kott verweist in seinem Buch "Gott - Essen" ebenfalls auf die in Jelineks "Abraumhalde" aufgezeigte tragische Kehrseite der Verzückung am Absoluten und der vermeintlichen Auflösung aller Grenzen:
"Die Verzückung am Absoluten ist eine gefährliche Erfahrung. [...] für die Steigerung aller Sinne zahlt man mit dem Verlust der Selbstkontrolle. [...] Die Auflösung im Kosmos kommt der wahnsinnigen Verherrlichung des eigenen Ich häufig verblüffend nahe. Dionysos verspricht Erlösung von der Entfremdung und Befreiung von allen Fesseln, doch die wahre Freiheit, die endgültige Freiheit ist nur die eine: es ist die Freiheit zu töten."

Schließlich ist im Rahmen der Pervertierung religiöser Toleranz beispielsweise auch noch die islamistische Djihad-Verheißung der 72 Jungfrauen zu nennen.
Stemanns Nathan der Weise: am Boden
@El-friede

OK, ich versuche noch mal, mich verständlicher auszudrücken (ich verstehe die Hälfte meiner Postings auch nicht. Ich probier's mal fragmentarisch.

Das Ende: Nathan liegt am Boden. Aber gibt es nicht auch eine Würde in der Akzeptanz der Niederlage? In der Akzeptanz, dass der leichte Weg der Versöhnung, den Lessing vorzeichnet, nicht der richtige, nicht der gewinnbringende ist? Dass auch Opfer nötig sind auf diesem Weg und vielleicht ist ja Nathan ein solches Opfer. Recha und Daja dagegen liegen eben nicht am Boden, sie sind nicht geschlagen und vielleicht willens und in der Lage den Weg weiterzugehen. Das Schlussbild verbindet Verzweiflung und Niederlage (Nathan am Boden) und Hoffnung (Daja und Recha). Das ist nicht besonders originell, aber um Lichtjahre ehrlicher als Lessings Umarmungsorgie.

Nathan: Ich denke, wir müssen unterscheiden zwischen Lessings Nathan und Stemanns (vielleicht gibt es noch einen von Jelinek, aber dafür sind ihre Texte einfach zu selbstverliebt). Lessings ist der "Ausblender", der die großen Konflikte einfach wegwischt, nicht akzeptiert, dass sie Wurzeln haben könnten, die nicht so einfach ausrottbar sein könnten durch eine simple Botschaft. Stemanns Nathan dagegen ringt sich zum Versöhner durch, aber nicht, ohne die Schwere, ja vielleicht Unmöglichkeit seiner Aufgabe anzuerkannen. Und er ist dadurch für mich die stärkere Figur.

Lessing und Jelinek: Die Nutzung der Jelinek-Texte hebt Lessing nicht auf, sie verstärkt eher seine Botschaft, in dem sie ihrer Umsetzung die leichtigkeit nimmt und den zu lösenden Konflikte ihre Schwere, ihre Substanz, vielleicht eine Form vomn Berechtigung zurückgibt. Durch diese Ebene gwinnt das Stück Spann und Reibungsfläche zurück. jelinek demontiert Lessing nicht - dazu sind die Texte auch zu selbstverliebt und oberflächlich - aber sie bringt - in Stem,anns Worten - den Hass zurück in des Stück. Und ohne Hass keine Versöhnung.

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Stemanns Nathan der Weise: das wussten wir schon
Ich weiß gar nicht worüber Sie sich beide da in Haare kriegen, das mutet wie ein Streit um den Bart des Nathan an. Stemann wollte dem Stück die Wut wiedergeben, das hat er zweifelsohne mit dem Jelinekschen Text geschafft. Andererseits nimmt er damit dem Stück auch die Allgemeingültigkeit. Es hat ausgedient als Versöhnungsarie. Auch gut. Trotzdem bleibt Lessings Text deutlich und fassbar. Alles andere sind doch Haarspaltereien und das ist wahrscheinlich die Schwäche der Inszenierung, dass sie bei der ganzen von der Decke über unseren Köpfen schwebender Symbolik, nicht zu einem klaren Standpunkt kommt, außer dem, das religiöser Wahn und Vorurteile tödlich sein können. Danke, wussten wir doch schon, oder?
Stemanns Nathan der Weise: ambivalent in die Klischeekiste gegriffen
@el-friede
Unterseite der Toleranz? Befindet sich letzlich nicht auch Stemann selber dort, an dieser Unterseite? Mit seiner merkwürdigen Pappfigur, die (mit glitzerndem Dollarzeichen am Ohr und stürmerhafter Judennase) neben dem Papst (Christ) und Osama Bin-Laden (Muselmann, wie es bei Lessing heißt) den Juden verkörpern sollte, bzw. dessen Zerrbild. Das war so hochgeradig ambivalent in die Klischeekiste gegriffen, dass kaum deutlich wurde, ob Stemann hier ein kollektives Unbewußtes zitiert oder am Ende doch nur ein Bild für sein eigenes Vorurteil schafft. Man scheut sich, gerade in Stemanns Fall solche Fragen überhaupt aufzuwerfen. Brennen tun sie aber doch nachhaltiger, als man nach der Aufführung zunächst hoffte, und so müssen sie hier doch gestellt werden.
Stemanns Nathan der Weise: ökonomische Interessen?
@ Prospero: Wie bitte? Es muss Opfer und Hass geben auf dem Weg zur Versöhnung? Ich weiss nicht, aber Worte können zuweilen gefährlich missverständlich rüberkommen.
Und Jelinek demontiert Lessing doch. Sie zeigt, dass Menschen neben der von Lessing übergestülpten allumfassenden Wahrheit, Schönheit und Güte immer auch egoistische Interessen verfolgen. Zitat:
"Sie können doch nicht wie Geld in den Sack, wie Geld aufs Konto, wie Geld in die Aktie, Sie können doch nicht die Wahrhheit einstreifen wie Geld! Sie können die Wahrheit nicht einmal anstreifen, die Wahrheit ist nämlich richtig, nur Sie sind leider der Falsche, die Wahrheit will zu jemand anderem, für den sie richtig ist! Sie sind es, der falsch ist, Sie sind fehl am Platz hier!"
Darauf verweist auch Stemann, indem er die Klischees und die Vor-Bilder bzw. Vor-Urteile, welche wir uns von "dem Juden", "dem Christen" und "dem Moslem" machen, bis zur Karikatur überzeichnet und verzerrt (die überdimensionalen Pappköpfe). Und indem Stemann diese drei Figuren mit fetten Goldbarren in ihren Händen jonglieren lässt, stellt er die Frage, ob es in vergangenen und gegenwärtigen Religionskriegen möglicherweise eben nicht nur um "den richtigen Glauben", sondern vielmehr immer auch um handfeste ökonomische Interessen ging bzw. geht.
Stemanns Nathan der Weise: Verweigerung von Schwarz und Weiß
@Stefan
1. Inwiefern verliert das Stück seine Allgemeingültigkeit? Inbdem er ihm sein Fundament zurückgibt, baut Stemann erst wieder eine ernstzunehmende Allgemeingültigkeit ein.
2. Was Sie als Schwäche interpretieren, ist m.E. eine große Stärke der Inszenierung: die Abwesenheit eines klaren fassbaren eindeutigen Standpunkts. Die Inszenierung verweigert eben das Schwarz und Weiß und enthebt den Zuschauer eben nicht der Notwendigkeit, sein Hirn einzuschalten.
3. Lassen Sie uns doch diskutieren :-)
Stemanns Nathan der Weise: Warum Nathan als US-Plutokrat
@El-Friede.. Ökonomische Interessen also symolisieren die Goldbarren?? Und darum ging es in Glaubenskriegen?? So einfach?? Wer hätte das gedacht. Ihnen und auch Herrn Stemann hätte ich mehr zu getraut. (...) Warum aber muss gerade der Jude als US-Plutokrat bei Stemann auftreten?
Stemanns Nathan der Weise: Pappe
@Redaktion. Die Überschrift ist falsch. Nicht Nathan, sondern eine Pappfigur trat neben einem Papppapst und einen Papposama als Stürmerpappjude auf.
Stemanns Nathan der Weise: Unterboden einziehen mit Jelinek
@El-friede

Bitte versuchen Sie meine Beiträge nicht absichtlich misszuverstehen. Nathan als Opfer zu sehen liegt angesichts des Schlussbilds nahe und das ist nicht meine Meinung sondern meine Interpretation von dem, was Stemann möglicherweise sagen will. Und gern können Sie mir erklären, was Versöhnung soll, wenn kein Hass da ist. Was soll man da versöhnen.

Ich sehe nach wie vor nicht, dass Jelinek Lessing demontiert. Zum einen, weil sie es schlicht nicht kann, vor allem aber, weil Stemann sie nicht lässt. Vielmehr nutzt er Jelinek um einen Unterboden einzuziehen und Nathan zu vervollständigen. Nur durch den Einbruch des Hasses, des zu Versöhnenden, ist die Versöhnung überhaupt notwendig.
Ich habe den Goldbarrentanz eher als Parodie auf verbreitete Klischees gesehen, weniger als Erklärungsversuch. Aber auch hier können wir "agree to disagree".
Stemanns Nathan der Weise: die eigentliche Frage
@ Sind Sie von der Achse des Guten? Kleiner Scherz. Sehen Sie, schon da fängt es an, die Rechthaberei aufgrund möglicher persönlicher Betroffenheit und daraus resultierender Überempfindlichkeit bzw. Verletzbarkeit.
Wie gesagt, es sind Zerrbilder. Beispielsweise fungiert "der reiche Jude" als antisemitisches Zerrbild im Kontext der Finanzkrise. Osama bin Laden fungiert als islamistisches Zerrbild des ideologischen Feldzugs von US-Präsident Bush gegen die Achse des Bösen, wovon ohne Zweifel vor allem die amerikanische Rüstungsindustrie profitiert hat und profitiert. Der Christ fungiert als Zerrbild einer "Wir sind Papst"-Ideologie. Whatever.

Die eigentliche Frage müsste hier doch vielmehr sein, was diese Projektionen eigentlich noch mit dem vorurteilsfreien Glauben zu tun haben, welcher eben allzu oft politisch instrumentalisiert wird.
Stemanns Nathan der Weise: ein Zusatz
Zusatz zu Kommentar 55.: Die Frage ging an rashi-da.
Stemanns Nathan der Weise: die Ideologie der Versöhnung
@ Prospero: Ich möchte Sie gar nicht absichtlich missverstehen. Sondern ich verstehe die Inszenierung einfach anders als Sie. Ich sehe Nathan nicht als durch den Hass gegangenes Opfer als Voraussetzung von Versöhnung. Ich kritisiere diese Setzung einer Versöhnungsideologie, welche auch am Ende nicht funkioniert. Und zwar, weil sie nur ohne lebendige Menschen funktioniert, welche nicht auf ihren eigenen Vorteil bedacht bzw. frei von jeglichem Vorurteil sind. Aber solche Menschen gibt es nicht, oder?

Und warum sollte Jelinek Lessing nicht dekonstruieren können? Meines Erachtens kann sie es. Denn der Exzess ist allen angeblich so reinen Religionen und Ideologien als Identifikation mit der obszönen Unterseite der Macht eingeschrieben. Kein Mensch ist immer nur gut, selbstlos und voller Demut.
Stemanns Nathan der Weise: nicht ausgeräumter Verdacht
Die Achse des Guten hätte sich über die Osamafigur aufgeregt, meine Liebe oder Lieber.. Ich sehe, Sie sind über die Fronten der Debatte nicht ganz unterrichtet. Ansonsten weise ich Ihre etwas schleimige Anfrage zurück, bezw. frage, was das heißen soll, ob ich persönlich Betroffen bin? usw. Ihre Frage, was die Projektionen mit vorurteilsfreiem Glauben zu tun hat, ergibt für mich keinen Sinn. Denn diese Pappfiguren waren ja Verkörperungen von Projektionen. Ohne allerdings, dass die Aufführung (also Stemann) klar machen konnte, wessen Projektionen. Ist es auf ein Allgemeines bezogen, bleibt es Behauptung, eigentlich Unterstellung - ein ungedeckter Scheck. Aber im Grunde konnte Stemann den Verdacht bei mir nicht ausräumen, daß dieser peinliche Kurzschluß von Dollar/Ami/Jude seine höchstpersönliche Projektion ist, was für mich das ganze Unternehmen dieser Inszenierung ins Absurde dreht. Statt des Juden hätte er einen Elch auftreten lassen sollen: frei nach der Theoroe der neuen Frankfurter Schule über die größten Kritikern der nämlichen Tierart...
Stemanns Nathan: im Kopf der Betrachter
@ rashi-da: Doch doch, die Achse des Guten, das ist mir schon klar, was die bezwecken. Deswegen fügte ich ja auch "Kleiner Scherz" hinzu.

Und was sind "Verkörperungen" von Projektionen? Ich habe das eher so gelesen, dass es "verkopfte Projektionen" sind. Also in dem Sinne, dass die Vorurteile gegenüber dem Juden, dem Christen und dem Moslem im Kopf der diese Figuren Betrachtenden entstehen. Und anscheinend ist es tatsächlich nicht ganz einfach, sich davon zu lösen.
Warum Sie den Judenkopf mit Dollar und Ami assoziieren, da steh ich irgendwie auf der Leitung. Könnten Sie das nochmal erläutern, bitte? Ich sah bloß die stereotype "Judennnase" sowie den glitzernden Ohrring. Worin sahen Sie Dollar und Ami?
Stemanns Nathan: Elfriedes Pappköpfe 1:1
Mal als kleiner Tip. Den Text Abraumhalde mit den Regieanweisungen von Elfriede Jelinek auf http://www.elfriedejelinek.com/ unter Texte zum Theater lesen. Da erschließt sich alles, auch das mit den Pappköpfen. Stemann hat das so ziemlich 1 zu 1 umgesetzt.
Stemanns Nathan: entheiligt und auf Halde gelegt
So, zum liegenden Nathan habe ich dann auch noch etwas gefunden. Der Schluss von Abraumhalde ist da sehr eindeutig: „Führt eilig mich hinweg! Führt, Schritt vor Schritt, mich, der nun nichts mehr anders ist als niemand, aus dem Keller direkt auf die Halde. Wir legen uns auf Halde. Wir legen jeden Vater auf Halde, weil wir ihn später vielleicht noch brauchen können. (...) Da liegen wir, als ob es uns was anginge, was hier sonst noch liegt. Wir wissen es, wir sind es selbst, doch es geht uns nichts an. (...) Man muß, was Himmlisches, Heimliches ist, was himmlisch ist, aber kein Heim, äh, also man muß das entheiligen und entheimen und entkeimen, aber dann muß es schon selber auskeimen, irgendwas muß es schließlich auch selber tun, und aus.“ Na, ich würde sagen, der alte Nathan wird nicht mehr gebraucht, das ist ja auch bei Lessing so, wenn er zum Schluss ganz abseits steht. Er hat da seine Schuldigkeit getan. Jelinek hat in aber als Sinnbild der noch nicht erreichten Versöhnung entheiligt und auf Halde gelegt, aber nicht für immer, sondern als heimatlose oder verschüttete Utopie die wieder aufkeimen kann.
Stemanns Nathan: Mutter Theresa, Muhammad Ali, Borat
@El-Friede: der Glitzerohrring war ein Dollarzeichen und die dargestellte Persönlichkeit Alan Greenspan, der frühere Präsident der US-Notenbank. Jedenfalls hatte ich sehr stark diesen Eindruck. Das geht schon stark in die finstere Richtung des internationalen Klischees vom Finanzjudentum. Auch ergibt es für mich keinerlei Evidenz an diesem Abend, wieso Papst, Bin Laden und Greenspan hier die drei Weltreligionen bzw. deren Zerrbilder symbolisieren sollen. Denn unterschwellig suggeriert das auch eine Mitschuld der jeweiligen Repräsentaten: fundamentalistischer Fiesling & Betonkopf (Benedikt), Terrorist (Bin Landen), Ausbeuter and what not (Greenspan). Warum nicht Mutter Theresa, Muhammad Ali und Borat, frage ich Sie freundlich.
Stemanns Nathan der Weise: aufgeblasene Vorurteile
@ rashi-da: Hab ich's mir doch gedacht, dass der Ohrring ein Dollarzeichen war. Ich verstehe jetzt aber immer noch nicht, was genau Sie jetzt kritisieren. Denn wie gesagt, ich sehe diese überdimensionierten Pappmachéköpfe als aufgeblasene Vorurteile, welche den politisch instrumentalsierten Kampf zwischen den Religionen allererst anheizen.
Zizek hat angesichts seines neuen Buches "Auf verlorenem Posten" in einem Fernsehinterview auf die Gefahr hingewiesen, dass im Zuge der Finanzkrise ein dumpfes antisemitisches Ressentiment wiederaufleben könnte, welches nur nach Sündenböcken suche. Gegenüber dem Judentums als Religion werde nun wieder auf das ideologische Zerrbild "des korrupten Juden" verwiesen, welcher das Geld des einfachen Volkes verzockt hätte.
Warum es gerade diese drei aktuellen männlichen Repräsentanten (Benedikt, bin Laden, Greenspan) sein mussten? Möglicherweise, weil in jedem Klischee und Vorurteil vielleicht auch ein Körnchen Wahrheit steckt. Und zwar in dem Sinne, dass der freie Glaube in paternalistischen Institutionen wie der christlichen Kirche, der islamischen Moschee bzw. der jüdischen Synagoge nicht selten zum herr-schaftlichen Zwang mutiert und zudem AUCH von Geldinteressen geleitet wird - nicht nur im Fall des Zerrbilds des "reichen Juden". Hier jonglieren alle mit fetten Goldbarren in der Hand.
Stemanns Nathan der Weise: schlicht Angst
El-Friede. Ich kann mit Ihnen nicht weiterreden, weil mir das schlicht Angst macht, was Sie schreiben, und auch den Stemann, den ich eigentlich schätze, dauerhaft zu verleiden droht. Ich möchte nur noch sagen, dass Greenspan seinen Job nicht in seiner Eigenschaft als Jude machte, daß er als amerikanischer Staatsbürger dazu berufen wurde und seine Religion nicht das Mindeste mit dieser Position zu tun hat. Im Gegensatz zum Papst, dessen Position die Religion schlechthin ist, oder Bin Laden, der dezidiert als Moslem seinen Krieg gegen die Ungläubigen führt. Mehr habe ich hier nicht mehr zu sagen.
Stemanns Nathan der Weise: angesichts solcher Zerrbilder
@ rashi-da: Ja, darum geht es auch. Die Angst angesichts solcher Zerrbilder, wodurch die Versöhnung zwischen den Religionen immer wieder untergraben wird.
Möglicherweise habe ich mich problematisch formuliert. Es geht mir im Zusammenhang mit Greenspan, bin Laden und Benedikt nicht um die Suche nach Sündenböcken im Sinne von Schuldigen. Sondern es geht mir um die Verantwortung von Menschen für andere Menschen. Ein junges Mädchen wird von einem jungen Mann aus dem Feuer gerettet. Das ist der Ausgangspunkt von Lessings "Nathan der Weise". Dann aber kommt es zu Verwicklungen, weil Menschen sich offensichtlich nur schwer als Menschen betrachten können, sondern ihnen da immer die (verzerrte) Rolle repräsentierender Funktionsträger einer bestimmten Religion in die Quere kommt. Und deshalb ist Versöhnung wohl auch so schwierig, weil es immer wieder zu Missverständnissen kommt.
Greenspans Rolle darf man natürlich nicht mit seinem persönlichen Glauben identifizieren, darauf wollte auch ich hinaus und darin stimme ich Ihnen unzweifelhaft zu. Gleichwohl trägt er als ehemaliger US-Notenbankpräsident meines Erachtens eine Mitverantwortung für die Finanzkrise. Das ist nicht zu leugnen, sondern das orientiert sich an Tatsachen.
Dass nun aktuell jüdische Einrichtungen in den USA zum Ziel terroristischer Anschläge werden, das ist nicht zu billigen. Es hat tatsächlich entsetzliche Folgen, wenn Kritik und die Einforderung von Verantwortung mit Gewalt an Menschen verwechselt wird.
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