Döner statt Diplomaten

von Dina Netz

Bonn, 30. Oktober 2009. Seit einiger Zeit ist es Mode, dass die Theater, statt ihre Bühnen zu bespielen, Spielorte in den Städten suchen, um näher bei ihrem Publikum zu sein und neue Zuschauer zu gewinnen. In Bonn (genauer: im Stadtteil Bad Godesberg) sind die Kammerspiele jetzt den umgekehrten Weg gegangen. Sie haben die Bad Godesberger zu sich ins Theater geholt. Oder zumindest einige davon. Das ist nicht unbedingt ein neues theatrales Konzept, sondern hat mit einer Episode aus dem Privatleben des Intendanten Klaus Weise zu tun.

Dessen Sohn wurde von Jugendlichen "mit Migrationshintergrund", wie man so hilflos formuliert, verprügelt. Daraufhin beschloss Weise, einmal die Hintergründe für diesen Zwischenfall zu beleuchten. Er beauftragte die Kölner Journalistin Ingrid Müller-Münch, ein Dokumentarstück über Bad Godesberg zu schreiben, das auf Gesprächen mit Bewohnern des Stadtteils basiert.

Strukturwandel eines berühmten Stadtteils

Nun ist Bad Godesberg kein gewöhnlicher "Problemstadtteil". Als Bonn noch Regierungssitz war, war Bad Godesberg sogar das genaue Gegenteil: ruhiger Wohnort von Beamten und Diplomaten mit teuren Geschäften und schicken Restaurants. Seit dem Umzug der Regierung nach Berlin in den neunziger Jahren hat sich das verändert. Menschen mit Migrationshintergrund ziehen verstärkt nach Bad Godesberg, so dass inzwischen Fastfood-, Döner- und Internetläden das Stadtbild dominieren. Im Kurpark treffen Schüler vom Elitegymnasium auf Jugendgangs – manchmal, wie im Fall von Klaus Weises Sohn, verläuft der Zusammenstoß dieser "Zwei Welten" gewaltsam.

Ingrid Müller-Münch hat Interviews mit 60 Bad Godesbergern geführt, mit Jugendlichen, Eltern, Pädagogen, Politikern, Sozialarbeitern und anderen, und diese Gespräche zu einem Theaterstück montiert. Und so tritt nun in den Kammerspielen Bad Godesberg eine Frau auf und erzählt, wie sie bei einem Vereinsfest einen Bierstand betreute und das Fest plötzlich entgleiste, weil es von jugendlichen Migranten aufgemischt wurde, die eine Schlägerei anzettelten. Die Frau deutet in Richtung des Kurparks, wo das passierte – tatsächlich nur ein paar Meter von den Kammerspielen entfernt, Theater und Außenwelt gehen ineinander über.

Neuzugezogene vs. Alteingesessene

In einer anderen Szene tritt eine Frau mit Kopftuch von der Seite auf und erzählt, sie sei die Sprecherin des marokkanischen Frauenverbandes. Und sie lade wieder und wieder die Bad Godesberger zu gemeinsamen Unternehmungen ein, zum Beispiel zum Tag der offenen Moschee. Aber Gäste kämen immer nur von außerhalb. Ein junger Mann tritt auf, "Mohammed, 22", der seit vier Jahren eine Lehrstelle als Krankenpfleger sucht, jetzt von Hartz IV lebt und erzählt, wie er die Zeit totschlägt. Nach und nach setzen sich Kinder um ihn herum, die Luftballons an Schnüren halten – ein etwas kitschiges Bild für die fragilen Hoffnungen vieler an diesem Abend Auftretender.

Frank Heuel, der Regisseur der Bonner Uraufführung, hat sich entschieden, das Stück nicht naturalistisch zu inszenieren: Alle Rollen werden von Schauspielern gespielt, und die Besetzung hat er bewusst willkürlich vorgenommen – Rolf Mautz gibt in einer Szene einen jugendlichen Handy-Dieb, in einer anderen einen alteingesessenen Bad Godesberger Hausbesitzer, der mit seiner arabisch- und türkisch-stämmigen Nachbarschaft in Unfrieden lebt. Außerdem sprechen die Schauspieler die Statements ihrer Figuren nicht empathisch, sondern verfremden sie, zerdehnen die Texte.

Gut für die Stadt, schlecht fürs Theater

Dieses die Rolle reflektierende Spiel der Schauspieler führt zu großer Irritation beim Zuschauer. Das parallel erscheinende Buch, in dem die Interviews abgedruckt sind, wirkt viel authentischer und bewegender.

So durch die Verfremdungen ohnehin auf Distanz gebracht, fällt einem ein Manko des Abends ganz besonders ins Auge: es gibt keinen dramaturgischen Bogen, keine spannende Abfolge der Statements, sondern lediglich eine reine Aneinanderreihung von Szenen. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla zum Beispiel geht bei den Recherchen zu ihren Theaterstücken ähnlich vor wie Ingrid Müller-Münch und begibt sich in das Milieu, das sie beschreiben will. Doch montiert Röggla die Gespräche nachher in der Regel so kunstvoll, dass ein eigener literarischer Text entsteht.

Dieser Schritt der Literarisierung wurde in Bonn bewusst nicht gegangen. Und so sollte man "Zwei Welten" vielleicht auch nicht nach theatralen Kriterien bewerten, sondern mit sozialpädagogischen. Denn ob man so über Bad Godesberg sprechen und den Eindruck vermitteln dürfe, es herrschten dort Zustände wie in Berliner Problemstadtteilen – darüber ist in Bad Godesberg bereits eine heftige Diskussion im Gange. "Zwei Welten" ist deshalb vielleicht nicht unbedingt gut fürs Theater, aber ganz sicher für Bad Godesberg.

 

Zwei Welten (UA)
von Ingrid Müller-Münch
Regie Frank Heuel, Bühne: Annika Ley, Kostüme: Sigrid Trebing, Dramaturgie: Nora Giese.
Mit: Philine Bührer, Bettina Marugg, Tatjana Pasztor, Simin Soraya, Ismail Deniz, Konstantin Lindhorst, Rolf Mautz, Stefan Preiss.

www.theater-bonn.de


Mehr zu Formen des Dokumentartheaters im nachtkArchiv: am Thalia Theater in Halle erarbeitete im September 2009 der Dramatiker Dirk Laucke ein Stück mit gewaltbereiten Fans eines lokalen Fußballclubs, Ultras, das sich in Halle heftig auch auf lokal- und kulturpolitische Debatten niederschlug. Am Staatstheater Dresden entwickelte Rimini Protokoll im Oktober 2009 mit Vùng biên gió’i (Grenzgebiet) ein Stück über die Nachkommen vietnamesischer Gastarbeiter in der DDR. In ihrem Stück Familienbande gab Lola Arias im September 2009 in den Münchner Kammerspielen Einblicke in die Schauspielerfamilie Bürkle, die sich selber spielte. Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder haben im Theaterhaus Jena mit Der Dritte Weg ein Stück über die Sicht der Jenaer auf die Ereignisse von 1989 entwickelt.


Kritikenrundschau

Dietmar Kanthak weiß im Bonner General-Anzeiger (2.11.) zu berichten, dass die Familiendezernentin Angelika Maria die Wahrheit kraft ihres Amtes festgestellt habe, das Dokumentarstück von Ingrid Müller-Münch "Zwei Welten" (das den von Jugendkriminalität gesteuerten Niedergang von Bad Godesberg thematisiert), zeige nicht die Wirklichkeit, sondern "das Bild einer angsterfüllten Bevölkerung, das so nicht zutrifft." Das Bonner Theater jedoch, so Kanthak, kuschele sich "nicht in Illusion ein", und so sei mit "Zwei Welten" eine Bühnenwirklichkeit entstanden, "deren Ähnlichkeit mit existierenden Strukturen in Bad Godesberg unvermeidlich ist. Die Wirklichkeit richtet sich selten nach den Wünschen von Familiendezernenten." Der Abend stehe "in der Tradition des Theaters à la Peter Weiss" und stecke "voller Rollen-Prosa, die von den Schauspielern aufgesagt wird: immer mit Blick aufs Publikum. Ein richtiger Theaterabend lässt sich daraus nicht zaubern." Frank Heuel und sein Team setzten, "nicht immer erfolgreich, auf Aktion(ismus), Manierismen und parodistische Mittel. Jeder ist mal Mann, mal Frau, mal Täter, mal Opfer." Und doch komme die Inszenierung "gerade recht, zu einem Zeitpunkt, da sich alle Entrüstungs- und Beschwichtigungs-Rituale nach den brutal offenen Worten von Thilo Sarrazin erschöpft haben."

Auch H.D. Terschüren erwähnt in der Kölnischen Rundschau (2.11.), dass die Stadt Bonn im Vorfeld der Aufführung schon Stellung bezogen habe: "Suchte man einen allgemeinen Nenner, der übrig bleibt, dann böte sich der Begriff Dilemma an. Dilemma ist etwas, das sich nicht lösen lässt. Mit einem Dilemma muss man leben, so gut es geht, pragmatisch. Es sind also keine Schlussfolgerungen möglich, die Stadt weiß das auch selbst sehr gut. Was dem Theater übrig bleibt, sind völlig disparate Szenensplitter, die die Texte rahmen." Frank Heuel habe die Collage auf abstrakter Bühne szenisch umgesetzt, "ohne irgendeinen realistischen Anspruch zu strapazieren. Er bringt wenig Personal, aber in vielen Rollen zum Spielen."

"Die Bühne als Brennglas. Das Theater rückt in die Mitte der Stadt", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.11.), die der Inszenierung vierzehn Tage nach der Premiere einen großen Platz auf Seite eins ihres Feuilletons einräumt. "Die Aufführung in den Bonner Kammerspielen in Bad Godesberg leistet, was sich Theater oft vornimmt und selten einlöst: Der Zuschauer kommt anders heraus, als er hineingegangen ist." Und sei es, dass er nur genauer auf das Umfeld blickt, das hier Thema geworden sei: Das Theater Bonn habe die Kölner Journalistin Ingrid Müller-Münch beauftragt, in Bad Godesberg zu recherchieren, die erfahrene Gerichtsreporterin daraufhin mit Jugendlichen und Lehrern, mit Polizisten, Sozialarbeitern, Pfarrern, Ladenbesitzern, Richtern, Politikern, Anwohnern und einem "Türöffner" gesprochen, der ihr Informanten und Ansprechpartner in der Szene vermittelte. Aus fast sechzig Interviews sei das Buch 'Zwei Welten - Protokolle einer Stadt im Wandel' (Emons Verlag, Köln) entstanden: Material für ein Dokustück, aus dem der Regisseur Frank Heuel eine Spielfassung entwickelt habe: "Nicht jede Szene schlägt an, manches wirkt schlicht, süßlich, anekdotisch. Aneinandergefügt ergeben sie keine Diagnose und schärfen doch die Aufmerksamkeit für eine explosive Gemengelage aus Vorurteilen, Feigheit, Gewaltbereitschaft, Sozialneid, Ausgrenzung, Ratlosigkeiten, Unverständnis."


Kommentare  
Zwei Welten in Bonn: nach zwei Wochen auch in der FAZ
Fast zwei Wochen nach der Premiere ist "Zwei Welten" nun auch in der FAZ angekommen, auf der Aufmacherseite des Feuilletons. Es ist doch erfreulich, dass Nachtkritik diese Dinge schon früher wahrnimmt. Da wird schließlich etwas verhandelt, was nicht nur für uns in Bonn von Wichtigkeit ist.
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